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Vergessen

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06.10.2006
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Vergessen

Das Thermometer am Bahnhof zeigte zwei Grad an. Eingepackt in Schals und gefütterte Jacken hasteten Menschen zu den Bahnsteigen oder flüchteten sich in die beheizten Cafés. Nur ein Mann mit Vollbart schlich durch die rastlose Menge der Passanten. Ohne Schal, nur mit einer alten Sommerjacke bekleidet, irrte er ziellos umher. Er achtete nicht auf die Händler, die Taschen und Schuhe anboten. Er steuerte auch keines der Cafés an, obwohl er genügend Zeit hätte, um sich einen warmen Tee schmecken zu lassen. Der Mann beobachtete die Menschen in der zugigen Bahnhofshalle. All die Paare, die noch die letzten gemeinsamen Minuten des Wochenendes nutzten, bevor einer von ihnen gleich in den Zug stieg. Familien, in denen die Kinder begeistert von der Fahrt im schnellen ICE schwärmten und sich nun eine Portion Pommes teilten. Ganze Cliquen, die herumalberten und lachten. Während er weiterging und sich umschaute, übersah er eine ältere Dame in einem edlen Pelzmantel. Als er sie leicht anrempelte, schaute die Frau ihn ärgerlich an und rümpfte die Nase. „Passen sie gefälligst auf!“ zischte sie. Zu ihrer Freundin gewandt, hörte er sie sagen: „Schlimm, diese Penner! Den ganzen Tag hier rumlungern und betteln.“

Er hatte genug von dem Gedränge in der Halle und fuhr mit der Rolltreppe hinauf auf Gleis 18. Er war es gewohnt, dass die Leute sich abfällig über ihn äußerten. Dennoch machte es ihm immer noch zu schaffen. Sein Ziel war Abschnitt A, dort standen nur wenige Leute, die ihn nicht weiter beachteten. Ein Teenager mit Kopfhörer in den Ohren lehnte an einem Pfahl und tippte eifrig in sein Handy. Eine blonde Frau um die vierzig las in einem Buch. Und ein Paar stand dort, eng umschlungen. Neben dem jungen Mann befanden sich ein kleiner Koffer und ein Notebook. Er war mit einem Anzug und einer leichten Lederjacke gekleidet und ließ sich von der jungen Frau wärmen. Zwischendurch küssten sie sich und lächelten sich zu. „Vermutlich geht er auf Dienstreise“, dachte der Beobachter. Das Paar sprach leise mit einander, als auch schon der Zug einlief. Sie küssten sich noch ein Mal zum Abschied und der junge Mann stieg ein. Die Frau blieb am Bahnsteig zurück, durch die dicke Fensterscheibe kommunizierten sie noch miteinander.

Dieses Bild rief verdrängte Erinnerungen wach. Der Mann dachte wehmütig daran, wie seine Frau ihn früher liebevoll angesehen und jeden Morgen zärtlich geküsst hatte, bevor er in die Firma gefahren war. In seine Firma. Er hatte ein ganz normales Leben geführt, rückblickend erschien es ihm wie ein Paradies. Nun war er in der Hölle.
Die Nachricht vom Tod seiner Frau traf ihn damals völlig unerwartet. Ihre Haare waren lang und brünett, so wie die der jungen Frau, die nur wenige Meter entfernt vor ihm stand. Ein Autounfall auf glatter Fahrbahn, gestoppt von einem dicken Baum. Danach war es mit ihm bergab gegangen. Um den unerträglichen Schmerz zu betäuben, trank er Bier, Schnaps und Wein. Kinder hatte er keine und die wenigen Angehörigen wollten schon bald nichts mehr von ihm wissen. Seine Arbeit konnte er kaum noch bewältigen. Zuerst wurde die Firma versteigert, dann das eigene Haus. Jetzt war der Bahnhof sein Zuhause.

Regungslos stand er immer noch da, beobachtete, wie der Zug los fuhr. Die junge Frau winkte ihrem Partner zu, hauchte ihm einen Handkuss hinterher. Wie oft hatte er schon daran gedacht, sich einfach vor einen Zug zu werfen, sein sinnloses Leben beenden, es würde ihn sowieso keiner vermissen. Er sehnte sich nach menschlicher Wärme, nach jemanden, der zu ihm gehörte, eine Frau, die sich freute ihn zu sehen. Er wollte sich so gerne von diesem tristen Dasein abkehren.

Der Zug fuhr schneller, nahm die Reisenden mit und ließ die Frau alleine zurück am Bahnhof. Kein Winken mehr. Kalter Wind fuhr ihr ins Gesicht. Eine Woche würde er weg sein, sieben lange Tage. Leise Trauer stieg in ihr auf. Wie wenig Zeit sie doch in den letzten Wochen zusammen verbracht hatten, wann waren sie eigentlich das letzte Mal so eng umschlungen gewesen, wie eben, als sie ihn am liebsten gar nicht mehr hatte loslassen wollen? Sie dachte an die Präsentation morgen, auf die sie sich noch vorbereiten musste. So war es die ganzen letzten Wochen gewesen. Er hatte seinen Vortrag vorbereitet, sie ihre Präsentation. Nächstes Wochenende würden nur sie beide zählen. Ach nein, da musste sie ja auf Fortbildung.

Mit traurigen Augen wandte sie sich um und ging zur Treppe. Ihr Blick traf den eines älteren Mannes, zotteliger Bart, löchrige Kleidung, die ihm keinen Schutz vor der beißenden Kälte bot. Mit hängenden Armen stand er da und sah ihr ins Gesicht. Einen Moment lang zögerte sie. Etwas an ihm berührte sie tief im Inneren, sie erschrak über die Einsamkeit in seinen grauen Augen. Doch der Mann senkte den Kopf und ging mit schlurfenden Schritten weiter. Sie wollte zu ihm gehen, mit ihm sprechen, ihm etwas Freundliches sagen. Doch ihr fiel nichts ein, was nicht lächerlich geklungen hätte. Vielleicht hatte sie sich auch geirrt und der Mann wollte nur mit dem nächsten Zug fahren. Außerdem, was hätten wohl die umherstehenden Leute gedacht, wenn sie sich mit einem Obdachlosen unterhielte?

Sie ging die Treppe hinunter. Die traurigen, grauen Augen und die hängenden Schultern gingen ihr nicht aus dem Kopf. Doch sie traute sich nicht, die Treppen wieder hinauf zu gehen. Kalte Schneeflocken fielen ihr auf die Nase, während heiße Tränen ihr in die Augen stiegen. Als sie den Parkplatz erreichte, war sie froh, dass sie gleich in ihrem gemütlichen Zuhause sein würde.

Der Mann ohne Zuhause stand immer noch am Bahnhof, doch er schaute niemanden mehr an. Mit steifer Hand umklammerte er eine Bierflasche und dachte noch einmal an seine Frau. Er nahm einen tiefen Schluck und setzte sich auf eine fadenscheinig gewordene Decke. Seine dickere, warme Decke war ihm vor zwei Tagen gestohlen worden. Der große schwarze Schatten in seinem Inneren begann sich weiter auszubreiten und legte sich immer schwerer um sein Herz.
Er hörte den nächsten Zug heranfahren, doch er wusste, der Zug zurück ins Leben war für ihn abgefahren.

 

Hallo Salsa!

Was ich aus deiner Geschichte vornehmlich herauslese, ist das Thema Einsamkeit.
Obdachlos oder beruflich extrem eingespannt, beide Protagonisten leiden unter Einsamkeit. Die junge Frau, wie im Text gut dargestellt, aus Zeitmangel, bei dem Penner kann ich leider keinen speziellen Anlass ausmachen. Ich meine, da fehlt etwas in der Charakterisierung. Ein Leben als Obdachloser muss nicht Einsamkeit bedeuten. Da gibt es auch sehr feste Freundschaften, auch zum anderen Geschlecht. Also warum wahrt er diese Distanz zu seinen Schicksalsgenossen? Warum die Frau nicht auf den Obdachlosen zugeht, ist dagegen gut gezeigt.

Warum du den Titel "Vergessen" gewählt hast, ist mir ein Rätsel. Wer vergisst hier was oder wen?

Besonders die Bahnhofs -Atmosphäre ist gut eingefangen.

Der Text lässt sich recht angenehm lesen, hat aber ein paar Stellen, die mir überarbeitungswürdig erscheinen.

Das Thermometer am Bahnhof zeigte gerade mal zwei Grad an. Eingepackt in schützende Schals und gefütterte Jacken hasteten Menschen zu den Bahnsteigen oder flüchteten sich in die gut beheizten Cafés.
Solch Füllsel muss nicht sein.

Nur ein Mann mit Vollbart schlich langsam durch die rastlose Menge der Passanten. Ohne Schal, aber mit Mütze und Handschuhen bekleidet, ging er ziellos umher.
Schleichen deutet bereits auf langsames gehen hin, weißer Schimmel Effekt.

Nur ein Mann mit Vollbart schlich langsam durch die rastlose Menge der Passanten. Ohne Schal, aber mit Mütze und Handschuhen bekleidet, ging er ziellos umher. Er achtete nicht auf die Händler, die Taschen und Schuhe anboten. Er steuerte auch keines der Cafés an, obwohl er genügend Zeit gehabt hätte, um sich einen warmen Tee schmecken zu lassen. Der Mann schritt durch die zugige Bahnhofshalle und beobachtete die Menschen um sich herum.
Hier sieht man es deutlich: Das ist einfach zu viel herumgelaufe, in so einem kurzen Absatz. Das "schritt" würd ich rausnehmen. Er beobachtet die Menschen in der zugigen Bahnhofshalle. Das die Menschen um ihn herum sind, ist klar; er schleicht ja durch die rastlose Menge, wie bereits erwähnt.

Warum erwähnst du überhaupt Mütze und Handschuhe? Die anderen Passanten laufen mit Schal und gefütterter Jacke rum. Als Kontrast würde sich für den Penner anbieten: Ohne Schal und nur mit Sommer- Übergangs- oder Regenmantel bekleidet.

Während er weiterging und sich umschaute, übersah er eine ältere Dame in einem edlen Pelzmantel, die, mit ihrer Freundin ins Gespräch vertieft, an ihm vorbeiging.
Ist überflüssig. Es spielt keine Rolle, ob die Damen gingen oder einfach nur dastanden. Je weniger überflüssige Info, desto leichter kann der Leser das Wesentliche erfassen. In diesem Fall das anrempeln.

Vermutlich geht er auf Dienstreise“, mutmaßte der Beobachter.
Doppelt gemoppelt. ... dachte der Beobachter.

Zwischendurch küssten sie sich immer wieder und lächelten sich zu.
Füllwörter.

Die Frau blieb am Bahnsteig zurück, doch auch durch die dicke Fensterscheibe kommunizierten sie noch miteinander.
Füllwörter.

Sie ging die Treppe hinunter. Die traurigen, grauen Augen und die hängenden Schultern verfolgten sie und gingen ihr nicht aus dem Kopf.
Kann raus. Ist doppelt gemoppelt mit "gingen ihr nicht aus dem Kopf". Außerdem: Hängende Schultern können niemanden verfolgen.

Empfehlung: Den gesamten Text noch mal durchharken. Sinn- und Wortwiederholungen können raus, ebenso Füllwörter.

Gruß

Asterix

 
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Hallo Salsa!
Ich finde die Überschrift gelungen und verstehe sie als Hinweis auf das Vergessen-sein in der Gesellschaft als Obdachloser. Man wird nicht mehr gebraucht in der Gesellschaft und wird nicht mehr beachtet oder wenn man beachtet wird, dann nur dadurch, dass man andere nervt. Das zeigt sich bei der Anrempel-Szene.
Auch sprachlich finde ich die Geschichte gelungen. Sie liest sich flüssig und die traurig-melancholische Stimmung ist in der ganzn Geschichte präsent.
Dass es Freundschaften auch bei Obdachlosen gibt, auch zum anderen Geschlecht, steht ausser Frage, aber hier wird eine einzelne Person beschrieben und wie auch bei Menschen die nicht obdachlos sind, gibt es auch bei Menschen, die keine Wohnung mehr haben, Einzelgänger. Insgesamt finde ich die Geschichte gut geschrieben und bewegend. DAs Thema und dein Stil gefallen mir.
Zu Sinn- und Wortwiederholungen hat dir ja Asterix schon einige Tipps gegeben.
Ein Flüchtigkeitsfehler ist mir aber noch aufgefallen:
Er wollte so sich so gerne von diesem tristen Dasein abkehren.
Machs gut,
Flamingo

 

Hallo Asterix und Flamingo,

vielen Dank für Eure Rückmeldung und konstruktive Kritik! Ich fange gerade erst an, meine Kurzgeschichten zu veröffentlichen und habe bis jetzt vor allem nach Gefühl geschrieben. Ich hoffe, nun alle überflüssigen Füllwörter herausgefischt und Wiederholungen möglichst ersetzt zu haben.

Die Einsamkeit des Mannes sehe ich vor allem im Verlust seiner Familie und weil ihm ein Platz im Leben, eben "sein Zuhause" fehlt. Ich habe noch einen Satz eingefügt, der das deutlicher machen soll ("Kinder hatte er keine und die wenigen Angehörigen wollten schon bald nichts mehr von ihm wissen"). Natürlich mag es unter Obdachlosen viele Freundschaften geben, aber eben auch Fälle, wo sich jeder selbst der nächste ist ("Seine dickere, warme Decke war ihm vor zwei Tagen gestohlen worden.").

Flamingo hat meinen Grundgedanken zur Überschrift sehr treffend beschrieben.

Nun mache ich mich bei meinen anderen Geschichten ebenfalls auf die Suche nach überflüssigen Wörtern...

Viele Grüße
Salsa

 

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