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Vergessenes Leid
Diese Geschichte beginnt und endet mit gebrochenen Menschen. Zigarette rauchend und Kaffee trinkend saß Eva am Küchentisch der Neuperlacher 3-Zimmer-Wohnung. Über den Tischrand schaute sie mit stierem Blick aus dem Fenster über die Plattenbauten der Trabantenstadt. Nebelschwaden zogen flach unter ihr vorbei. Ihre rehbraunen Augen waren glasig, vor Leere, nicht mehr vor Tränen. Ihre zersausten, fast schwarzen Haare verfilzt. Eva hatte sich selbst ständig gefragt, wie es soweit kommen konnte, warum eins das andere ergab. Vorwürfe machte sie sich mittlerweile keine mehr. Sie waren schon so tief in den Abgrund gesunken, ihre gesamte Familie. Keine Chance aus dieser sich immer schneller und rasanter abwärts drehenden Spirale auszubrechen. Die Weichen waren schon vor langer Zeit gestellt worden. Ihre Hilflosigkeit ließ sie nach Einsamkeit suchen. Nun war sie allein in ihrer spartanisch eingerichteten Wohnküche. Den größten Teil der Inneneinrichtung hatte sie noch ihren Eltern abschwatzen können. So wirkte der Raum zusammengeschustert, der Plastikboden rollte sich auf und in den Ecken trieb der Schimmel sein Unwesen. Doch an diesem Platz waren sie früher wenigstens einmal täglich zusammengekommen. Sie erinnerte sich an wenige schöne Abende, gemeinsam. Zuletzt wurde es immer dunkler. Das Haus verließ sie schon seit Monaten nur noch zum Einkaufen. Wie eine leere Hülle ohne Inhalt saß sie tagaus tagein auf dem Stuhl mit dem Kunstlederbezug, der auf rostigen Beinen stand und bei jeder Bewegung ächzte. Jetzt hatte sie eine Entscheidung getroffen, die zu Ende gebracht werden musste. Schon wünschte sie sich ihren Mann zurück, nur um nicht allein zu sein. Der Frost der Einsamkeit schüttelte sie, doch seine Nähe konnte sie nicht mehr wärmen. Jedoch würde sie bereitwillig Schläge und Beschimpfungen über sich ergehen lassen, um dieser Stille zu entrinnen. Das Telefon hatte sie in der Zwischenzeit abgehängt. Sollte die Polizei etwas von ihr wollen, würden sie persönlich vorbeikommen. Dafür hatte sie keine Zeit mehr. Sie war es leid, immer wieder die gleichen Geschichten zu erzählen. Deshalb hatte sie sich entschlossen zu Handeln. Nur kurz Ausruhen. Jetzt sah sie die Dinge klar, eine logische Folge. Sie hatte nie die Oberhand gewonnen, nur reagiert, keine Alternativen. Vor einigen Wochen hatte sie noch Kraft gespürt, kurz, aber heftig. Ein letztes Aufbäumen aus Selbstschutz. Fliehen mit der Kleinen, egal wohin. Ein Nachbar hatte vor ihr ausgespuckt, als sie das Haus verließ. Zu Beginn hatte man ihr noch Personenschutz versprochen, aber das hätte alles nur schlimmer gemacht. Der wütende Mob würde sie nur noch aufgebrachter verfolgen. Eva selbst sah es als Verschwendung, hatte sie doch die Allgemeinheit schon genug belastet. Einzige Ablenkung war der Hass ihres geliebten Mannes gewesen, der sie für alles verantwortlich machte. Schließlich war er nie zuhause gewesen. Bereitwillig hatte Eva sich in ihr Schicksal ergeben. Die physischen Schmerzen reinigten ihre Seele, die vor Kummer und Leid längst zerbrochen war.
Sie hatte sich bereits durch alle klassischen Stadien gearbeitet, zunächst Verzweiflung. Eva selbst hatte nichts als Verachtung für Familien ihrer Art übrig gehabt. Höchste Strafen für die gesamte Sippe, gar die Aussetzung des geltenden Rechts hatte sie gefordert. Für andere. Vor dem Fernseher plusterte sich auf, wenn die allgegenwärtigen Berichte über den Fernseher flimmerten. Am liebsten hätte sie sich selbst beteiligt an diesem Kreuzzug, den die Medien ausschlachten und polemisieren, da sie auf so wunderbare Art die Gemüter bewegen und damit Einschaltquoten garantieren. Von ihr selbst schien das soweit weg, wie die großen Villen im Herzogpark, an denen sie so gern vorbeispazierte, bis zum Haus von Thomas Mann, das sie mit großen Augen betrachtete, minuten- manchmal stundenlang. Nun war ihre Familie so geworden, wie sie es verachtete und sie diejenige, die zwar nicht medienwirksam präsentiert aber doch auf das Tiefste angefeindet wurde. Entgegen ihrer Stellung im System, Unterschicht wird sie mittlerweile nicht mehr nur von den Menschen genannt, die nicht in ihr leben, war sie eine Frau mit Zielen gewesen. Eva hatte ausgezeichnete Noten und Träume, an deren Verwirklichung sie nicht im Geringsten zweifelte. Sie interessierte sich bereits in jungen Jahren für Literatur und Kunst, las Bücher von Kafka und Mann, Gedichte von Goethe und Rilke. Eva war gut aussehend und beliebt. Auch das männliche Geschlecht entdeckte sie vor ihren Schulkameradinnen. Gleichaltrige empfand sie als stupide und unterentwickelt. Durch ihre Hobbys lernte sie ältere Männer kennen. Sie war eine intellektuelle junge Frau in den Startlöchern. Doch die Schwangerschaft riss sie in eine neue Realität, zerstörte das Verhältnis zu ihren Eltern und verwandelte ihre Träume in Illusionen.
Nachdem sie die erste Verzweiflung verarbeitet hatte, beschloss Eva, sich dem Schicksal nicht einfach hinzugeben. Sie würde kämpfen. Ihre Träume hatte sie bereits aufgeben müssen. Umso entschlossener war sie, ihren Kindern die Chancen zu geben, die sie nicht mehr wahrnehmen konnte. Ihre Eltern und Geschwister hatten sich endgültig von ihr abgewandt, sie konnte nicht mit Hilfe rechnen. Bevor sie mit ihrer Mutter über alles sprechen konnte, hatte diese bereits ihr Haus und ihren Sohn im Fernsehen erkannt. Die böse Familie! Freunde und Nachbarn feindeten sie an, beschimpften sie auf offener Straße mit Hasstiraden, drohten ihr mit Schlägen bis zum Tod, so wie auch sie es verdient hatte. Vor ihre Tür legten sie Kinderpuppen mit abgerissenen Köpfen, schickten ihr Drohbriefe und ließen das Telefon nachts klingeln bis sie antwortete, um dann aufzulegen. Schnell merkte Eva, dass ihre Kraft nicht ausreichte. Ihr Engagement für ihre Familie, ihre Kinder wandelte sich in Raserei. Ihr Mann Paul war stets ein Tagträumer gewesen. Zunächst hatten sie seine philosophischen Fertigkeiten noch beeindruckt. Paul verstand es, die Bedürfnisse einer Frau zu erkennen, sich zu Eigen zu machen. Sein eher unscheinbares Äußeres brachte er mit seinem Charme und Einfühlungsvermögen zum Leuchten. Sobald jedoch Probleme auftauchten, ergab er sich in sein Schicksal. So musste Eva alles regeln. Ein Anwalt ohne Rechtsschutz, ohne Geld. Termine bei Gericht für eine Angelegenheit innerhalb der Familie? Das verstand sie nicht. Ihre zweitgeborene Tochter Lisa kam auf eine neue Schule, ihr jüngstes Kind Martina war gerade erst ein Jahr alt geworden. An ihr lief das Drama noch relativ spurlos vorbei. Ihr Nachname war zum Schutz der Familie nicht in die Öffentlichkeit getragen worden. So führte Lisa ihr relativ normales Leben trotz der schrecklichen Erlebnisse zunächst weiter. Gespräche zu den Taten ihres Bruders blockte sie stets ab, machte aber sonst auf Eva einen gelösten, fast erleichterten Eindruck. Sie ging regelmäßig und gern auf die neue Schule, hatte gute Noten und traf sich mit Freundinnen. Daher beschloss Eva, es dabei zu belassen und Lisa nicht wieder und wieder mit dem Geschehnissen zu konfrontieren, ihr Raum zu lassen für ihre eigene Entwicklung. Sie liebte ihre Tochter über alles, sah sich selbst in ihr, schenkte ihr Bücher, lehrte ihr das Zeichnen mit Kohle, blühte in ihrer Umgebung auf. Lebendig! Alles wollte sie wieder gut machen, was sie bei ihrem Erstgeborenen verpasst hatte. Lisa würde alles bekommen, um glücklich zu sein, frei! Aber Eva unterschätzte die Situation, wollte selbst all das hinter sich lassen, zu sehr. Gemeinsam ignorierte es sich besser, aber vergessen ward es nicht.
Als ihre gerade 14 Jahre alt gewordene Tochter Lisa tot im Innenhof der Nebensiedlung gefunden wurde, war Eva nach kurzem hysterischem Zusammenbruch vor Schuldgefühlen kaum noch lebensfähig. Die Arme des kleinen Mädchens waren vollständig zerschnitten. Was Eva für Freiheit hielt, trieb Lisa in die vollkommene Hilflosigkeit. Die psychische und physische Pein, die hohe Erwartungshaltung der Mutter, das Desinteresse des Vaters. All das hatte Lisa in die Hilflosigkeit gedrängt, die sie ihren Eltern nicht verständlich machen konnte. Lisa empfand sich selbst als abstoßend, gefangen in ihrer beschmutzten Hülle, ohne Möglichkeit, ohne Hilfe diesen Schmutz zu entfernen. Über Selbstverachtung wählte sie die Selbstzerstörung und zog schlussendlich ihren Freitod Evas Träumen vor.
Ab diesem Zeitpunkt vegetierte Eva durch ihr Leben, das außer Atmen, wenig Schlaf und Essen nicht mehr viel mit Leben zu tun hatte. Nach der Verzweiflung kam die absolute Leere. Sie stumpfte innerlich ab, nahm ihre Umwelt zunächst kaum noch wahr, um schlussendlich dieser vollständig aus dem Weg zu gehen. Paul, der nie einem Menschen ein Haar gekrümmt hatte, war kurz vor der Katastrophe um ihren Sohn arbeitslos geworden. Bis dahin reiste er seinen philosophischen Idolen, sofern sie noch lebten, nach und durfte hin und wieder Vorträge vorbereiten. Im Großen und Ganzen war er ein Roadie, der mal mehr, meist weniger Geld mit nach Hause brachte, wenn er denn mal da war. Die Arbeitslosigkeit kam ihm zupass, da ihm das Leben von der Hand in den Mund nicht weiter störte. Den ganzen Tag lag er nun in seinem weißen Stuhl am Fenster des Wohnzimmers und las oder starrte in die Ferne, während Eva Lisa zur Schule brachte oder die kleine Martina wickelte. Seinen Sohn kannte er kaum, die Beziehung beschränkte sich auf Streits über Noten und sein ständiges Fernbleiben. Er kümmerte sich nicht um seinen Sohn, seine Familie. Als sein Sohn eingesperrt wurde, nahm er dies mit einer Teilnahmslosigkeit zur Kenntnis, die Eva innerlich fast zerriss. Paul war mit sich selbst beschäftigt, ohne es böse zu meinen. Er schrieb philosophische Texte, Kurzgeschichten, mehr schlecht als recht, ließ es dann wieder sein, da ihm sogar diese Anstrengung zu viel war. Eva nahm das Desinteresse Pauls irgendwann nicht mehr ernst, da dieser doch Jahrzehnte sein eigenes Leben gelebt hatte, ohne der Familie beizustehen. Sie hatte sich arrangiert, akzeptiert, dass er nicht konnte, selbst wenn er wollte. Die täglichen Herausforderungen des Alltags überforderten ihn bereits. Sie musste die Zügel in die Hand nehmen und tat es auch. Ihren Sohn Stefan hatten sie beide bereits aufgegeben. Pauls einzig mutige Tat war, dies auch zuzugeben, während Eva sich das eigene Versagen nicht eingestehen konnte. Als Paul die Machtlosigkeit Evas nach dem zweiten Schicksalsschlag mit Lisa bewusst wurde, reagierte er auf eine bis dahin nicht bekannte Weise. Mit Gewalt. Er schlug Eva, die sich immer für die Stärkere gehalten hatte, windelweich. Selbst nach dem ersten Mal dachte er nicht daran, sich zu entschuldigen. Einmal eingeschlagen ging er den Weg weiter. Die Realität wurde ihm fremd, bis er sie vollständig negierte. Stefan war ihm egal, spätestens seit er im Gefängnis saß, aber Lisa, seine Lieblingstochter. Er war entschlossen, Eva für den Tod seines Engels büßen zu lassen. Für immer. Rache war alles, woran er denken konnte. Eva ergab sich. Körperlich hatte sie ihm nichts entgegen zu setzen. Fast war sie froh über die Ablenkung, akzeptierte ihre Pein für die kurze Gefühllosigkeit sobald der körperliche Schmerz nachließ.
Im letzten Stadium war ein Aufbäumen aus der Tiefe, der Wunsch nach Leben. Flucht! Eva hatte unbemerkt einige hundert Euro auf die Seite gebracht. So stand sie am Münchner Hauptbahnhof und betrachtete gebannt die An- und Abfahrtstafel. Die Zeiten und Züge blätterten nach unten, bis sie schließlich ganz verschwanden. Abfahrt! Sie schaffte es, sich ein Ticket nach Spanien zu kaufen. In die Wärme. Als sie die Fahrkarten in die Hand nahm, raste ihr Herz wie nach einem 1.000 Meter Sprint. Sie versuchte sich den radikalen Schritt bewusst zu machen, innerlich Abschied zu nehmen. Am Bahngleis spürte sie, dass ihr die geographische Flucht womöglich gelang, ihr der innerliche Abschied aber unmöglich war. Die Wahrheit trug sie mit sich, an jedem Ort. Sie hing an ihrem Mann, an ihren Erinnerungen, der inneren Wärme, die trotz aller Schmerzen nicht ausgelöscht war. Sie war abhängig, von Paul, der letzten Bezugsperson, die ihr geblieben war, ihrer gewohnten Umgebung. Sie konnte ihn doch nicht ganz alleine lassen, war ganz und gar nicht die starke Frau, für die sie sich gehalten hatte. Ihre Gedanken kreisten darum, wie alles anfing. „Warum hat mein Sohn das getan? Wie konnte ich mich so in meinem Mann täuschen? Wie so in mir, in den Ängsten meiner Tochter?“
Als sie aus ihren Gedanken erwachte und ihre Umgebung wieder wahrnahm, spürte sie die klebrige Flüssigkeit zwischen ihren Zehen. Nackt lagen ihre Füße auf dem Linoleumboden, um die Stuhlbeine geschwungen. Sie hob ihren linken Fuß an und das Blut ihres Mannes tropfte einzeln von ihren Zehen herab. Neben dem Tischbein noch im Ausgang zur Küche lag ihr Mann mit eingeschlagenem Schädel am Boden. Er hatte sich noch geduscht, nachdem er mit seinem Gürtel wieder und wieder auf sie eingeschlagen hatte, bis die Haut an ihrem Rücken aufplatzte. Keinen Ton hatte sie von sich gegeben, still geweint. Die kleine Martina weinte im Nebenraum, sie ging hinüber und nahm das Mädchen an sich. Über ihren Mann kletternd presste sie die Kleine an sich, die sie unschuldig und ängstlich anblickte, verständnislos. Sie strich ihr traurig über den Kopf, Abschied nehmend, trat auf den Balkon im achten Stock. Dann drückte sie die schluchzende Martina an sich und sprang… Loslassen. Freiheit!