Vergiss mein nicht
Eine feines Geäst aus milchigen Adern durchzog die dünnen Flügel, die in der Sonne glitzerten. Sie durchschnitten summend die warme Luft und gaben der Elfe den Auftrieb, den sie benötigte um die hohen, im vollen grün stehenden Gräser, in ausgedehnten Kurven zu umfliegen. Dann schob sich ein seichter Windhauch über die grünen Spitzen und ließ den zierlichen Körper auf ihm Reiten. Der Flügelschlag der Elfe verlangsamte sich und das Summen schwoll ab. Jeane schien zu schweben und ein breites Lächeln strahlte über ihr gesamtes Gesicht. Es war ein herrlicher Tag und nichts tat sie lieber, als im warmen Licht der Sonne und inmitten all des sommerlichen Lebens ihrer Arbeit nachzugehen.
Jeane ließ den Wind hinter sich und stieg empor, dort wo Gräser und Büsche nichts weiter als grüne Punkte waren. Sie hielt direkt auf einen großen Baum zu, eine Eiche, die vor ihr aufragte und ihre starken Äste von sich streckte. Ihre Blätter raschelten im Wind und schienen unbekannte Worte zu wispern. Selbst eine Elfe konnte die Sprache der Bäume nicht verstehen, denn es gab diese mächtigen Geschöpfe schon so lange auf der Welt, dass sich kaum ein anderes Wesen an ihre Geburt erinnern konnte.
Jeane landete wie ein Vogel auf einem der großen Äste. Sie hockte sich nieder und legte ihre Flügel, einem Mantel gleich, um sich. Dabei betrachtete sie die grobe Rinde des Baumes, deren Linien ein in ihren Augen wunderschönes Muster ergaben. Sie war eins mit der Natur und ihre Augen liebten die Schönheit, die sich aus dieser ergab. Alle Formen und Farben sog sie in sich auf und füllte damit ihren Geist, der sich an den Eindrücken labte. Die Natur war ihre Musik, zu der sie den ganzen Tag und die ganze Nacht tanzte. Immer wieder gab es neue Melodien zu entdecken, neue Instrumente und neue Kompositionen.
Jeane drehte eine Pirouette und blickte durch das dichte Blätterdach in den blauen Himmel, in dem kaum eine Wolke zu sehen war. Immer wieder legte sich ein Blatt vor den kleinen Himmelsausschnitt den sie sah und zauberte so ein Lichterspiel, das im Rhythmus ihrer Musik glitzerte.
Ein Dröhnen brach die Harmonie und die Luft selbst schien zu vibrieren. Kurz sah Jeane silberne Streifen inmitten des himmlischen Blaus und als sie diesen Linien folgte, sah sie ein riesiges, stählernes Ungetüm. Es war ein Konstrukt der Menschen, eine Maschine, die es ihnen ermöglichte sich wie die Elfen fliegend zu bewegen. Fliegen war eine Gabe, welche die Natur nur jenen gewährte, die im absoluten Einklang mit ihr lebten. Und jene, die es gewagt hatten, sich diese Fähigkeit selbst anzueignen, lebten ein Leben fernab ihrer Stimme, denn die Natur redete mit ihren Geschöpfen und ihre Stimme war das Schönste, was es im Leben zu entdecken gab. Dies war die Musik.
Ein Zittern lief durch Jeanes Körper. Sie schauderte vor den Wesen, welche in diesem Flugapart saßen, denn wie alle magischen Wesen existierte die Elfe nur fernab des menschlichen Auges. Wenn ein Blick auf sie fallen würde, würde sie einfach verschwinden. Sie würde nicht nur sterben, sondern vergessen werden, als hätte es sie nie gegeben.
Jeane schüttelte kurz ihren Kopf, wobei ihre langen, schwarzen Haare bis tief ins Gesicht fielen, um die schlechten Gedanken zu vertreiben. Sie lief den Ast entlang und ließ sich am Stamm der Eiche heruntergleiten. Dabei achtete sie genau auf jede Kleinigkeit, denn es war ihre Aufgabe den großen Baum von Parasiten und Schmutz zu befreien. Was man der Natur gab, dass bekam man auch zurück. Nach diesem Satz lebten die zierlichen Geschöpfe.
Die Krone des Baumes wurde kleiner, der Stamm dicker und der Boden kam näher. Jeane nickte zufrieden. Ihr Schützling sah gut aus und es gab kaum etwas zu tun. Sie würde nachher noch einmal in seine Spitze fliegen und dort die Spuren der Vögel und großen Käfer beseitigen. Ihre kleinen, nackten Füße berührten den Boden und sie hörte ein Knacken, als wäre ein Ast entzwei gebrochen. Plötzlich trat eine unheimliche Stille ein, die sich in ihrem Kopf wie Wasser ansammelte. Sie spürte den Druck, der auf einmal in ihrem Inneren lastete, konnte sich aber nicht erklären, wo dieser herkam. Jeane taumelte benommen zurück, als sich das Bild vor ihren Augen veränderte. Es sah aus, als würde der Baum erzittern, als würde die Erde ihn in die Höhe werfen und wieder auffangen. Die Farben verschwanden und wichen einem kalten Grau. Jeane hörte ein tiefes Brummen, das direkt aus der Erde zu kommen schien und dann war es wieder still. Das Bild normalisierte sich, die Farben kehrten zurück, doch sie sah nicht mehr die Eiche vor sich, sondern dichtes Blätterwerk, das zu einem Busch gehörte. Panik stieg in der kleinen Elfe auf, denn sie wusste nicht wo sie war. Reflexartig versuchte sie sich umzuschauen, doch ihre Augen reagierten nicht. Sie schienen ein Eigenleben zu führen und auch ihre Hände machten den Eindruck nicht zu ihrem Körper zu gehören. Sie sah, wie sie das Blattwerk auseinander drückten und den Blick auf einen kleinen Fluss freigaben, dessen Rauschen sie nun auch hören konnte. Jeane kannte diesen Bach, er floss nicht unweit der alten Eiche durch das Tal und trennte die Welt des Waldes von der der Menschen. Sie blickte auf die Stelle, an der das Ufer von kleinen Steinen begrenzt wurde. Dorthin, wo sich das fließende Wasser in winzigen Strudeln fortbewegte und am linken Uferrand eine Art kleinen See bildete, der bis in die angrenzende Wiese hineinragte. Jeane selbst hatte schon oft am Rand dieses idyllischen Platzes gesessen und einfach nur den Geräuschen des Waldes gelauscht. Doch diesmal war jemand anderes da. Es war eine junge Elfenfrau, die gedankenverloren in die sich windenden Spiralen des Wasser blickte. Sie trug ein blaues Kleid, das sich schmeichelnd um ihren schlanken Körper legte. Jeane versuchte sich umzudrehen, doch ihr Körper reagierte anders. Er beugte sich noch weiter nach vorne, wobei sich die Ellbogen auf den trockenen, würzig riechenden Waldboden stützten. Erschrocken erkannte sie, dass diese Hände und diese Arme nicht ihre eigenen waren. Es war, als blickte sie durch die Augen einer anderen Elfe. Genauer, durch die Augen eines Mannes, denn an ihren Armen erkannte sie Muskeln und heraustretende Venen, die so nicht zum Körper einer Frau gepasst hätten. Und als sie das verstand, begann sie noch viel mehr wahrzunehmen, als nur ein Bild oder einen Geruch. Sie fühlte eine Wärme in sich, die von großem Verlangen und großer Liebe zeugte. Jeane musste in jemandem sein, der die Frau dort unten am Ufer des kleinen Sees, über alles liebte.
„Francois, was tust du nur“, hörte sie nun eine Stimme flüstern, doch derjenige, den sie in gewisser Weise beobachtete, drehte sich nicht herum. Er musste mit sich selbst gesprochen haben. „Francois“, ging es ihr nun selbst durch den Kopf. Den Namen kannte sie. Es war ein Elf, der nicht weit weg von ihr selber wohnte. Hoch oben in der selben Birke hatte er seine Höhle gebaut. Wenn er es war, in den sie aus irgendeinen Grund hineingeschlüpft war, dann musste die junge Elfe dort unten Jasmine sein, denn alle im Dorf wussten, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte. Eigentlich hätten sich alle für ihn gefreut, denn Francois war nie jemand, der sich in Gesellschaft zeigte und man hatte schon geglaubt, dass er keinerlei Interesse für das andere Geschlecht hatte. Das Problem bestand jedoch darin, dass Jasmine bereits vergeben war. Sie war Ubert versprochen, dem Sohn des Ältesten. Und nun sah Jeane, wie Francois ihr hinterher stellte. In diesem Augenblick stand Jasmine auf und blickte zu dem Busch hinüber, in dem sich Francois versteckte. Der zog sich augenblicklich hinter die grünen, schützenden Blätter zurück und warf seinen Kopf in den Nacken, so das Jeane den Himmel über ihm erkennen konnte. Die Sterne waren bereits am Firmament zu sehen; nur das war unmöglich. Es konnte nicht länger als wenige Minuten her sein, als Jeane den Baum heruntergerutscht war und da war es noch früh am Tag gewesen. Es gab viele Dinge im Leben der Elfen, die nicht zu erklären waren und sie fragten auch nicht nach Erklärungen, denn die Natur teilte ihre Geheimnisse nicht gerne. Sie lässt nur manche lediglich daran teilhaben. Aber das hier war anders. Jeane glaubte, dass sie die Erinnerungen Francois´ vor sich sah, aber bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, steckte er seinen Kopf schon wieder durch die Blätter und sah, wie Jasmine ihre blaues Kleid über den Kopf zog. Francois´ Blickte folgten jedem Zentimeter, den der blaue Stoff freigab. Erst betrachtete er die schmalen und weißen Beine der Elfe. Er schien sich jede Form genau einzuprägen und schließlich ruhte sein Blick auf dem blonden Dreieck zwischen ihren Beinen, das im Sonnenlicht zu funkeln schien. Das Blond wurde zu einem strahlenden Gold. Er sog ihren Körper in sich auf und Jeane spürte, wie erregt er wurde. Dann wussten seine Augen gar nicht mehr, wohin sie überhaupt schauen sollten. Immer wieder jagten sie wie hungrige Raubtiere über ihren Körper. Hielten inne bei ihren Brüsten, oder musterten einmal mehr ihre schlanke Taille, bis Jasmine sich herumdrehte und ihm ihren Rücken zeigte. Sofort streifte sein Blick ihren Po, umgarnte förmlich dessen Rundungen, wanderte dann aber herauf zu der Stelle zwischen ihren Schulternblättern, wo die Flügel sich vereinten. Sie streckte sie weit von sich und die Sonne spielte einmal mehr ihr herrliches Lichterspiel auf deren zarter Haut.
Francois´ Atem ging stoßweise und Jeane spürte auch, wie ihm der Schweiß ausbrach und dann passierte etwas, mit dem sie nicht gerechnet hätte. Er zog sich zurück und das Gefühl der Lust und Liebe verschwand und machte einem Empfinden Platz, das sie selbst noch nie erlebt hatte. Francois war nicht nur enttäuscht, er war wütend und diese Wut steigerte sich bis in eine Dimension, die ihn unberechenbar machte. Jeane deutete es als Hass. Wenigstens stellte sie sich dieses Gefühl so vor, auch wenn es nun, wo sie es erlebte, viel überwältigender war, als sie es sich hatte vorstellen können.
„Ich kann sie nicht haben. Ich kann sie nicht haben!“ Immer wieder hörte sie diese verbittert klingenden Worte aus seinem Mund.
„Selbst wenn ich sie haben könnte. Sie würde ihn nie vergessen. Ihr Herz gehört immer ihm.“
Francois schlug sich die Hände vor die Augen und die Welt um Jeane herum wurde dunkel. Sie fühlte seine Verzweiflung und feuchten Spuren auf seinen Wangen. Durch die Zwischenräume seiner Finger hindurch sah sie den grünen, grasbewachsenen Boden und eine einzige, runde Träne, die diesem entgegenfiel. Ihr Fall wurde langsamer und kam schließlich zum Stillstand. Schwerelos verharrte der salzige Tropfen in der Luft und begann leicht zu zittern. Der Boden verschob sich und glich einem Teppich, den man immer wieder hin und her zog und dann saugte irgendetwas die Farbe aus diesem Bild. Alles war grau und das Dröhnen in Jeanes Kopf kehrte zurück. Sie glaubte nun aus den Erinnerungen Francois´ hinausgeschleudert zu werden, doch anstatt wieder mit ihren eigenen Augen zu sehen, änderte die Träne ihre Konsistenz. Sie wurde ein wenig größer, ein wenig dicker und nahm einen leichten, roten Farbton an, der immer dunkler wurde. Die Zeit lief weiter und der Tropfen fiel zu Boden, wo er auf den saftigen Gräsern einen unnatürlichen Eindruck hinterließ. Jeane nahm Schmerz wahr, keinen psychischen wie vorher, sondern einen körperlichen Schmerz, der wie Wasser durch sie hindurchflutete. Sie war immer noch in Francois, aber der Busch und der Fluss dahinter waren verschwunden. Er stand nun unter der großen Eiche, unter der auch sie in diesem Moment stand. Jeane erkannte, dass seine Hände die gleiche Farbe hatten wie der Tropfen. Es war Blut und das war überall auf ihm zu finden. Francois schaute an sich herab und in seinem Bauch steckte etwas, das Jeane nicht genau erkennen konnte, aber sie sah, dass das Blut dort seinen Ursprung hatte und genau an dieser Stelle war der Schmerz am schlimmsten. Er war so intensiv, dass ihr und ihm die Sinne zu schwinden drohten. Francois faltete seine Hände über der Wunde und blickte am Stamm der Eiche vorbei. Schwarze Punkte und kleine, explodierende Sterne mischten sich unter das was er sah. Es war ein Mann, eine Fee, mit einem länglichen Gesicht und einer kleinen Hakennase, die ihm das Aussehen eines Greifvogels gab. Jeane konnte seinen Gesichtsausdruck nicht genau deuten, aber sie glaubte in seinen Augen so etwas wie Hass zu erkennen. Dann explodierten eine Vielzahl an Sternen zur selben Zeit, gefolgt von einer Dunkelheit, die nichts mehr erkennen ließ. Der Schmerz verschwand zusammen mit all den Gefühlen, die Francois bis zu diesem Zeitpunkt beherrscht hatten.
Jeane schrie auf, als sie die Eiche wieder mit ihren eigenen Augen vor sich sah. Die Erinnerungen von Francois, oder was immer es sein mochte, waren verschwunden und fühlten sich an, als wären sie nun ein Teil von Jeane selbst. Als hätte sie selbst all dies erlebt. Und das Gefühl gestorben zu sein, dass sich tief in ihrer Brust wie ein schwerer Stein anfühlte, machte ihr das Denken für einen kurzen Augenblick unmöglich.
Was hatte sie gesehen? Sie versuchte sich zu konzentrieren. Wer war diese Fee? Und Jeane war sich sicher, dass es eine Fee war. Eines dieser Wesen, die sich ihre eigene Magie geschaffen hatte und damit nicht mehr die Stimme der Natur hörten. Sie waren Elfen, aber mit diesem Bruch wurden sie zu einer eigenen Rasse, die nach und nach immer schneller vom Angesicht der Erde verschwand. Es gab eine Lücke in dem was sie gesehen hatte. Irgendetwas musste zwischen den zwei Teilen geschehen sein. Jeane kam es vor, als fehlte ihr ein Teil ihrer eigenen Erinnerung.
Was war geschehen? Wieso hatte sie all das überhaupt gesehen? Die Fragen schossen ihr durch den Kopf. So schnell, dass sie keine Antworten darauf finden konnte, doch an etwas erinnerte sie sich, bevor all das begann. Etwas hatte unter ihren Füßen geknackt.
Jeane machte einen Schritt zurück und sie spürte weiches Moos, das unter ihren nackten Füßen nachgab. Am Boden, nun direkt vor ihr, lag ein länglicher Gegenstand. Schwarz und gebogen, und er sah aus, wie der Dorn einer Rose, oder einer Pflanze die etwas kleiner war, doch an seinem stumpfen Ende befand sich so etwas wie ein Griff und Jeane stellte mit Entsetzen fest, dass es sich bei dem Gegenstand um eine Art Dolch handelte. Sie hob ihn auf und betrachtete die angebliche Waffe. In der Mitte des Dornes sah sie einen kleinen Riss, der wahrscheinlich entstanden war, als sie sich daraufgestellt hatte. Der Dorn, die Klinge, musste Schaden genommen und in diesem Augenblick die Visionen freigesetzt haben. Dieser Gedanke klang in Jeanes Kopf wie ein Produkt ihrer ausgeprägten Fantasie, aber trotzdem nahm sie den Dolch in beide Hände und überdehnte ihn an der beschädigten Stelle, bis ein weiteres kurzes Knacken zu hören war und der Riss sich um wenige Millimeter vertiefte.
Die Aktion hatte den von Jeane gewünschten Effekt. Die Bilder kehrten zu ihr zurück. Was sie nun vor sich sah, musste die Erinnerung sein, die ihr fehlte, denn Francois hockte wieder hinter jenem Busch und im Hintergrund konnte man das Gurgeln des Baches hören. Durch die Blätter hindurch sah Jeane Jasmine, die in dem kleinen See lag und ihren Kopf auf einen Stein gebettet hatte. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und verdeutlichte ihre Schönheit.
„Wunderschön, nicht wahr?“ hörte sie eine Stimme, die einen ihr fremden Ton besaß. Francois drehte sich herum und sah einen Mann vor sich stehen, eine Fee, deren Flügel bläulich schimmerten. Es war jener Mann, den sie schon zuvor gesehen hatte. Sie konnte es mit Sicherheit sagen, denn er hatte das gleiche vogelähnliche Gesicht.
„Ich verstehe, warum du ihr nachsteigst, auch wenn es nicht gerade die feine Art ist“, sprach er weiter und setzte sich im Schneidersitz neben Francois.
„Wie bitte? Wer sind Sie?“
„Ich weiß nicht, ob das eine Rolle spielt. Viel wichtiger ist es doch, dass ich weiß, was du für die liebe Jasmine empfindest.“
„Aha“, antwortete Francois ein wenig konsterniert, „und woher wollen sie das wissen?“
Der Fremde verlagerte ein wenig sein Gewicht und sah Francois und schräg von unten an.
„Nun, weil ich es einfach weiß. Wir Feen wissen eine Menge. Und wir können eine Menge möglich machen. Wie wäre es z.B., wenn ich dir versprechen könnte, dass Jasmine dir gehören könnte?“
Francois stand langsam auf und entfernte sich von ihm, ohne ein Wort darauf zu entgegnen.
„Ich weiß, dass du glaubst, sie könnte niemals ihren Ubert vergessen. Aber das ist nicht wahr. Man kann alles vergessen. Alle können alles vergessen und dann wäre der Weg für dich frei.“
Francois drehte sich noch einmal um. Der Fremde hielt nun einen länglichen, schwarzen Gegenstand in der Hand, den er scheinbar gedankenverloren zwischen seinen Fingern drehte.
Es sah aus wie ein Dorn, hatte aber einen Griff.
„Und wie genau soll das funktionieren?“
„Sagen wir mal, du würdest Ubert aus dem Weg schaffen.“ Die Augen des Fremden rollten bei diesen Worten hin und her.
„Selbst dann wäre er ein unüberwindbares Hindernis. Liebe kann man nicht vergessen.“
„Ihr Elfen seid ja so naiv. Liebe? Was ist schon Liebe? Es ist nichts weiter, als eine chemische Reaktion im Innern des Körpers. Aber du hast Recht. Sie wird ihn wohl kaum direkt vergessen und davon einmal abgesehen wird es wohl kaum in einem guten Licht stehen, wenn du sofort nach Uberts Verschwinden für sie da sein würdest. Wahrscheinlich hätte sie gar keine Lust auf männliche Gesellschaft. Der Trick ist also, dass sie ihn vergessen muss, genauso wie alle anderen ihn vergessen müssen.“
Francois blickte sehnsüchtig auf den Busch und im Geiste darüber hinaus. Sein Blick wanderte bis zu Jasmine und ihrer Vollkommenheit.
„Ja. Es ist ja so einfach. Alles was ich tun muss, ist die Erinnerung an ihn auslöschen. Ich könnte ihn ja einfach zu den Menschen bringen. Die würden ihn sehen und alles was er je getan hätte, würde durch ihren Blick aus den Köpfen der anderen verschwinden“, flüsterte er ironisch.
„Es geht viel einfacher, mein lieber Francois.“ Er erschrak, als er seinen Namen hörte, hatte er ihn doch zuvor nicht genannt.
„Siehst du das hier?“ Der Fremde hielt den dornähnlichen Gegenstand in die Höhe. „Man nennt diesen Dolch ´Das menschliche Auge´. Derjenige, der von ihm, nun ja, gestochen wird, wird vergessen.“
Francois ließ seine Flügel kurz zum Zeichen des Hohns vibrieren. „Ja. Ihr Feen und eure verwunschene Magie.“
„Überleg es dir. Ich lüge nicht. Wenn ich es doch tu, darfst du meine Worte Lügen strafen, aber ich dachte Jasmine wäre dir wichtiger als alles andere?“
Eine Pause trat ein und Jeane wartete gespannt, was nun passieren würde, wie sich die beiden Visionen zuvor verknüpfen würden.
Francois schien plötzlich voller Energie und machte einen großen Satz auf den Fremden zu. Er nahm ihm den Dolch aus den Händen und hielt ihn prophetisch gegen das Licht.
„Alles was ich also tun muss, ist diesen Dolch Ubert in die Rippen stoßen?“
„Ja, genau. Und mir ein Versprechen geben.“
„Was für ein Versprechen?“
Der Fremde stand auf und blickte Francois herausfordernd an. „Nun“, begann er langsam, „wie wäre es mit einem Teil von dir? Ich will wieder die Stimme der Natur hören, wie ich es als Kind getan habe.“
Francois schüttelte vehement den Kopf. „Ich müsste mich selbst dafür aufgeben. Ja, ich könnte es dir ermöglichen, aber dann würde ich sie nicht mehr hören.“
„Ein kleiner Preis für die Liebe einer solchen Frau, wie ich finde.“
„Aber die Natur ist unsere Magie. Unser Grund zu leben.“
„Ist Jasmine kein Grund?“
Seine Worte schmerzten in Francois Ohren, denn der Wunsch in ihrer Nähe zu sein, war stärker als alles andere und als ihm dies wieder bewusst wurde, schien alles andere an Bedeutung zu verlieren.
„G-gut“, stotterte er und schüttelte die Hand der Fee. In diesem Augenblick fuhr ein Windhauch durch die Blätter. Sie raschelten so laut, dass auch Jasmine ihren Kopf hob und in die Richtung der beiden Männer schaute. Aber sie sah sie nicht, das Rascheln verklang und sie schloss wieder ihre Augen, um die Wärme der Sonne zu genießen.
Francois hörte die Stimme der Natur. Sie hallte im Innern seinen Kopfes und klagte ihn an. Ihre Melodie war so laut, dass er auf die Knie ging und sich die Ohren zuhielt. Es war ein Lied, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Voller Zorn und Trauer und mit einem Mal stand nur noch eine Frage im Zentrum seines Denkens. Was hast du getan?
Jasmine war glücklich und wenn er sie liebte, so musste er sich für ihr Glück freuen und dies nicht zerstören. Er war eine Elfe. Ein Geschöpf der Natur und der Liebe und er hatte dies alles vergessen. Eine Träne suchte sich ihren Weg aus seinem linken Augen und floss in einem zackigen Muster seine Wange hinab.
„Nein!“, brüllte er, stand auf und warf dem Fremden den Dolch zu, während die Melodie bereits im Begriff war zu verklingen.
„Zu spät. Dein Wort. Dein Handschlag. Ich höre schon wieder ihre Stimme. Ich habe schon fast vergessen, wie wunderschön sie ist. Und du wirst es bald vergessen müssen.“
Jeane fühlte sich, als wäre sie Francois. Seine Emotionen waren so stark, dass die Grenzen zwischen ihrem und seinem Bewusstsein verschwammen. Alles was sie noch von einer Verschmelzung trennte, war die Nichtigkeit ihres Willens. Sie war ihm jedoch so nahe, dass sie sein Unterbewusstsein spürte und das was sich darin tat. Francois entwickelte einen Plan, ohne dies selbst zu wissen. Er ließ seine Flügel einen gewaltigen Schlag ausführen und der schneidende Wind schlug dem Fremden so hart ins Gesicht, dass er sich fortdrehte und die Augen schloss. Mit einem einzigen Schritt war Francois wieder bei ihm und entriss ihm den Dolch. Auf dem Absatz machte er kehrt, ließ seine Flügel vibrieren und flog davon.
Hinter sich hörte er das wütenden Geschrei der Fee und kurz darauf das Summen ihrer Flügel. Francois flog dicht über dem Boden und wich hohen Gräsern geschickt im Slalom aus. Der Wind pfiff in seinen Ohren und das Adrenalin ließ ihn so schnell fliegen wie nie zuvor. Jeane sah die Umgebung in einer atemraubenden Geschwindigkeit an ihr vorbeiziehen. Der Plan hatte Gestalt angenommen. Alles was er nun noch brauchte, war genügend Abstand.
Aber der Fremde war schnell und flog ebenso geschickt. Francois riss sein Kinn hoch und stieg empor. Fast im rechten Winkel schoss sein Körper der Sonne entgegen und das gleißende Licht explodierte grell hinter seinen Augen. Geblendet flog er eine steile Kurve und hoffte, dass kein Hindernis seine Flugbahn kreuzte. Die kurzzeitige Blindheit traf auch den Fremden, als er Francois folgte und direkt in die Sonne blickte. Das Manöver, das der Elf nun flog, bemerkte er nicht und so gelang es Francois einige Meter Abstand zu gewinnen. Kurz darauf stieß er wie ein Raubvogel hinab und verschwand zwischen den Stämmen der Bäume. Er flog in den dichten Wald hinein und versuchte immer dort zu fliegen, wo Sträucher und Büsche die Sicht behinderten. Immer wieder zerkratzten kleine Äste seine Haut und einige Blätter hinterließen flache Schnittwunden, doch er schien dies kaum zu bemerken.
Vor Francois breitete sich nun eine kleinen Lichtung aus und in ihrer Mitte ragte eine große Eiche bis tief in den Himmel hinein. Er umrundete den Stamm des Baumes bis zur Hälfte und ließ sich an seiner Rinde herunterrutschen, bis ihm die dicken Wurzeln genug Schutz boten. Schwer atmend blickte er auf den Dolch in seinen Händen und horchte gleichzeitig, ob er noch verfolgt wurde, doch er konnte nichts hören. In seinem Bewusstsein gab es nur noch einen einzigen Ausweg. Würde er einen Teil von sich hergeben, so gäbe er nicht nur die Fähigkeit es Zuhörens auf, sondern auch das Paradies, das einem die Natur nach dem Tod versprach.
„Wenn mein Versprechen vergessen wird, behalte ich das Paradies und Jasmine ihr Glück“, flüsterte er sich selbst zu. Jeane glaubte, dass ihm das Mut machte, denn der nächste Schritt erforderte genau das von ihm. In seinen Gedanken tauchte immer wieder das zierliche Gesicht Jasmines auf. Was ihn aber noch mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass die Melodie nicht mehr zu hören war und so nahm Francois den Dolch in beide Hände, richtete seine Spitze auf sich, hielt den Atem an und stach zu. Jeane hörte sich selbst schreien und im selben Augenblick tauchte der Fremde in den Erinnerungen auf. Francois blickte auf seine blutverschmierten Hände und ein Tropfen fiel von ihnen herab. Die Lücke war geschlossen und das Bild begann wieder zu zucken, bis Jeane wieder ganz bei sich selbst war. Sie ließ ´Das menschliche Auge´ fallen und schluckte schwer. Nachdem alles von Francois vergessen war, wobei sie erst jetzt bemerkte, dass sie sich erst wieder an Francois erinnert hatte, als der Dolch das erste Mal gebrochen war, war auch das Versprechen nichts weiter als ein unbekanntes Echo. Der Fremde musste die Stimme wieder verloren haben.
Unheilvoll lag der Dolch am Boden und Jeane wurde das erste Mal bewusst, welche Macht diesem Gegenstand innewohnt. Erinnerungen sind es, die eine Elfe, sowie jedes andere Lebewesen ausmachen, denn nur durch sie gelingt es, sich als Wesen zu entwickeln. Ein solcher Dolch durfte nicht existieren und in einer unüberlegten Sekunde, getrieben von der Boshaftigkeit der Erinnerung, die sie zuvor gesehen hatte, nahm Jeane den Dolch und brach ihn komplett entzwei. Alle Gedanken und Erinnerungen strömten aus der Bruchstelle hinaus und kehrten zurück. Der Fremde saß zu diesem Zeitpunkt hoch oben in einer Esche. Plötzlich hörte er eine Melodie und ein breites, genugtuendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Jeane erkannte, als die Welt um sie verschwamm, dass sie einen Fehler gemacht hatte, denn alles, was Francois versucht hatte zu verhindern, geschah nun. Jeane selbst sah nun ein helles Licht und hörte unartikulierte Gedanken. Sie durchlebte das Leben Francois von Beginn an, während sie unter der großen Eiche stand, unfähig sich selbst zu bewegen. Sie war gefangen in den Erinnerungen eines anderen, die mit seiner Geburt begannen.