Vergissmeinnicht
- Jean de la Bruyère –
erfüllt sich nicht,
und wenn es eintrifft,
dann nicht zu der Zeit noch unter
den Umständen,
wo es die größte Freude bereitet hätte.
„Ich habe nur noch drei Monate zu leben.“
Ich – habe – nur – noch – drei – Monate – zu – leben.
Wie in Zeitlupe drangen diese Worte in Saras Ohr, hallten in ihrem Kopf wider, bis es schmerzte. Seine Stimme klang ruhig und fest, als er es sagte. Kein Anflug von Furcht.
Hektisch schaute sie umher. Entsetzte Blicke der Anderen trafen sie – viele sahen betreten zu Boden. Einer von ihnen wischte sich verlegen eine Träne aus dem Gesicht. Schweigen erfüllte den ganzen Raum. Sara spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte, wie ihr Herz bleiern schlug und ihr Tränen in die Augen stiegen. Fassungslos sah sie ihn an, schüttelte den Kopf, blickte wieder umher. Bestürzung zeichnete die Gesichter der Menschen, die ihn kannten, die ihn mochten.
Er stand immer noch ruhig im Raum – es schien fast, als würde er sich über die bedrückten Gesichter wundern.
Angst. Blanke Angst kroch in ihr hoch, kalt und bitter wand sie sich durch ihr Inneres.
Sterben? Er? Weg sein – für immer? Tot? Das durfte es nicht geben.
Ihr wurde übel und langsam glitt sie die Wand hinunter, an der sie lehnte. Sie verbarg ihr Gesicht zwischen ihren angewinkelten Knien und begann hemmungslos zu weinen. Es war ihr gleichgültig, dass alle es sahen. Sie schämte sich nicht für ihre Tränen. Der Gedanke, dass er sterben würde – bald sterben würde – war unerträglich.
Noch immer schwiegen die anderen. Noch immer stand er inmitten des Raumes. Eine Träne nach der anderen rann heiß über ihre Wangen und versiegte im Stoff ihrer Jeans.
Ein Arm legte sich tröstend um ihre Schulter. „Wein doch nicht.“ hörte Sara seine vertraute Stimme. Doch anstatt sie zu beruhigen, lösten seine Berührungen und seine Worte nur noch größeren Schmerz in ihr aus.
„Sag, dass das nicht wahr ist, sag, dass es nicht dein Ernst war, bitte sag es!“ flehte sie mit tränenerstickter Stimme während sie ihren Kopf hob und ihn mit geröteten Augen ansah.
Doch er schüttelte nur den Kopf. Seine sonst so fröhlichen Augen sahen ernst aus. Das Blau war dunkler als gewöhnlich.
Wieder griff die kalte Hand der Angst nach ihr und nahm ihr die Luft zum Atmen, als sie ein weiterer Weinkrampf erfasste.
„Das kannst du nicht tun, du kannst nicht sterben – das darfst du nicht, hörst du!“ schrie sie, riss sich aus seinem Arm los, der noch immer um ihre Schulter lag und lief hinaus. Sara rannte auf die Straße, kaum, dass sie durch ihren Tränenschleier etwas sehen konnte, rannte und rannte…
Ihr Schmerz war schneller, holte sie immer wieder ein. Sie lief unter Bäumen hindurch, übersah rote Ampeln, ignorierte die hupenden und schimpfenden Autofahrer und das Quietschen ihrer Bremsen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie gelaufen war, als sie plötzlich vor ihrer Haustür stand. Sie schloss die Türe auf und ließ sich erschöpft auf ihr Sofa fallen. Sie fühlte sich alleine.
Die Wohnung war leer und dunkel. Licht wollte sie keines, sie wollte sich betäuben, den Schmerz abstellen und sich glauben machen, dass alles nur ein böser Traum sei. Stundenlang starrte sie in die Leere, es gab nichts, an dem ihr Blick sich hätte festhalten können – es gab nichts, an dem sie sich festhalten konnte. Immer und immer wieder spulte sich vor ihrem inneren Auge die Szene ab, als er vor ihnen stand und diese schrecklichen Worte sagte. Schließlich, nachdem sie in der Dunkelheit der Wohnung und ihrer eigenen Dunkelheit drei Flaschen Wein geleert hatte, schlief sie ein.
Nach einem schweren und tiefen Schlaf erwachte sie am nächsten Morgen mit einem Gefühl der Benommenheit. Sie hoffte noch immer, dass es ein Traum war, doch eine innere Stimme sagte ihr etwas anderes.
Mittags begegnete sie ihm. Er verhielt sich, als hätte es den gestrigen Tag nicht gegeben. Sie sah sich um. Die Anspannung schien von den meisten Anderen bereits wieder abgefallen zu sein, aber sie begann, die Tage zu zählen. Drei Monate - 90 Tage.
Sara warf ihm verstohlene Blicke zu. Er saß an seinem Platz und schaute aus dem Fenster. Sie fragte sich, was jetzt gerade in ihm vorging – ob er sich fürchtete, ob er Schmerzen hatte und er alles nur überspielte? Als sie ihn so sah, wusste sie was sie zu tun hatte.
Sie stand auf, ging zu ihm, tippte ihm verlegen auf die Schulter und bat ihn um Verzeihung für ihren Ausbruch, den er miterleben musste. Er drehte seinen Kopf und lächelte sie an. Dieses Lächeln machte sie noch befangener und immer noch hörte sie seine Worte in ihrem Kopf.
Ich habe nur noch drei Monate zu leben.
Sie beugte sich etwas tiefer zu ihm hinunter und flüsterte in sein Ohr:
„Ich liebe dich.“
Bevor er antworten konnte, drehte sie sich um und ging zurück an ihren Platz. Sie wollte mit diesem Satz keine Pflicht verbinden, ihm kein Gefühl vermitteln, dass er ihr das Gleiche schulde, sie wollte es ihm nur sagen.
Heute sind es schon vier Jahre, dass er starb. - Sie hatte neben dem Bett gesessen und seine Hand gehalten. Er hatte ihre Hand schwach gedrückt und Sara hatte es gespürt, gewusst, dass es Zeit war, sich von ihm zu verabschieden. Friedlich war er eingeschlafen - seine Augen für immer geschlossen.
Wie in Trance nahm Sara die Geschehnisse der folgenden Wochen wahr. Die Todesanzeige in der Zeitung, die Beerdigung, ihr Zusammenbruch an seinem Grab.
Sie hatte seinen Sarg gesehen, sein Name stand auf den Schleifen zwischen den unzähligen Blumen, die zu Kränzen gebunden, ihren Platz auf der frischen Erde fanden. Sie hatte es nicht glauben können und manchmal kann sie es heute noch nicht.
Seitdem war Sara jedes Jahr an diesem Tag hier oben. Wie immer hatte sie zunächst seine Eltern besucht und liegt nun auf der grünen Wiese im weichen Gras, blickt in den Himmel und schickt ihre Gedanken an ihn mit den Wolken auf die Reise. Hier hat sie das Gefühl, ihm ein Stückchen näher sein zu können, näher als auf dem Friedhof.
29 wäre er dieses Jahr geworden.
Sie nimmt ihren kleinen Sohn, der spielend neben ihr im Gras sitzt auf den Schoß und sieht ihn liebevoll an. „Du wirst ihm immer ähnlicher.“ sagt sie leise, während der Kleine sie mit seinen fröhlichen blauen Augen anstrahlt.
Sie legt einen Strauß Vergissmeinnicht vor die kleine Kapelle, bevor sie bei Sonnenuntergang wieder ins Tal geht. An der Bank, von der man den Friedhof sehen kann, bleibt sie eine Weile stehen. Die kühle Abendluft lässt sie frösteln und ihr Sohn, den sie auf dem Arm trägt, schmiegt sich näher an sie. Sanft streicht sie ihm übers Haar.
„Du wirst immer bei mir sein“, sagt sie beruhigt, während sie in den Himmel schaut, an dem die letzten Sonnenstrahlen langsam verblassen.
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Mai 2005