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Vergissmeinnicht

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03.09.2004
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Vergissmeinnicht

Was man am meisten ersehnt,
erfüllt sich nicht,
und wenn es eintrifft,
dann nicht zu der Zeit noch unter
den Umständen,
wo es die größte Freude bereitet hätte.

- Jean de la Bruyère –​

„Ich habe nur noch drei Monate zu leben.“
Ich – habe – nur – noch – drei – Monate – zu – leben.
Wie in Zeitlupe drangen diese Worte in Saras Ohr, hallten in ihrem Kopf wider, bis es schmerzte. Seine Stimme klang ruhig und fest, als er es sagte. Kein Anflug von Furcht.
Hektisch schaute sie umher. Entsetzte Blicke der Anderen trafen sie – viele sahen betreten zu Boden. Einer von ihnen wischte sich verlegen eine Träne aus dem Gesicht. Schweigen erfüllte den ganzen Raum. Sara spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte, wie ihr Herz bleiern schlug und ihr Tränen in die Augen stiegen. Fassungslos sah sie ihn an, schüttelte den Kopf, blickte wieder umher. Bestürzung zeichnete die Gesichter der Menschen, die ihn kannten, die ihn mochten.
Er stand immer noch ruhig im Raum – es schien fast, als würde er sich über die bedrückten Gesichter wundern.

Angst. Blanke Angst kroch in ihr hoch, kalt und bitter wand sie sich durch ihr Inneres.
Sterben? Er? Weg sein – für immer? Tot? Das durfte es nicht geben.
Ihr wurde übel und langsam glitt sie die Wand hinunter, an der sie lehnte. Sie verbarg ihr Gesicht zwischen ihren angewinkelten Knien und begann hemmungslos zu weinen. Es war ihr gleichgültig, dass alle es sahen. Sie schämte sich nicht für ihre Tränen. Der Gedanke, dass er sterben würde – bald sterben würde – war unerträglich.
Noch immer schwiegen die anderen. Noch immer stand er inmitten des Raumes. Eine Träne nach der anderen rann heiß über ihre Wangen und versiegte im Stoff ihrer Jeans.

Ein Arm legte sich tröstend um ihre Schulter. „Wein doch nicht.“ hörte Sara seine vertraute Stimme. Doch anstatt sie zu beruhigen, lösten seine Berührungen und seine Worte nur noch größeren Schmerz in ihr aus.

„Sag, dass das nicht wahr ist, sag, dass es nicht dein Ernst war, bitte sag es!“ flehte sie mit tränenerstickter Stimme während sie ihren Kopf hob und ihn mit geröteten Augen ansah.
Doch er schüttelte nur den Kopf. Seine sonst so fröhlichen Augen sahen ernst aus. Das Blau war dunkler als gewöhnlich.
Wieder griff die kalte Hand der Angst nach ihr und nahm ihr die Luft zum Atmen, als sie ein weiterer Weinkrampf erfasste.

„Das kannst du nicht tun, du kannst nicht sterben – das darfst du nicht, hörst du!“ schrie sie, riss sich aus seinem Arm los, der noch immer um ihre Schulter lag und lief hinaus. Sara rannte auf die Straße, kaum, dass sie durch ihren Tränenschleier etwas sehen konnte, rannte und rannte…
Ihr Schmerz war schneller, holte sie immer wieder ein. Sie lief unter Bäumen hindurch, übersah rote Ampeln, ignorierte die hupenden und schimpfenden Autofahrer und das Quietschen ihrer Bremsen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie gelaufen war, als sie plötzlich vor ihrer Haustür stand. Sie schloss die Türe auf und ließ sich erschöpft auf ihr Sofa fallen. Sie fühlte sich alleine.
Die Wohnung war leer und dunkel. Licht wollte sie keines, sie wollte sich betäuben, den Schmerz abstellen und sich glauben machen, dass alles nur ein böser Traum sei. Stundenlang starrte sie in die Leere, es gab nichts, an dem ihr Blick sich hätte festhalten können – es gab nichts, an dem sie sich festhalten konnte. Immer und immer wieder spulte sich vor ihrem inneren Auge die Szene ab, als er vor ihnen stand und diese schrecklichen Worte sagte. Schließlich, nachdem sie in der Dunkelheit der Wohnung und ihrer eigenen Dunkelheit drei Flaschen Wein geleert hatte, schlief sie ein.
Nach einem schweren und tiefen Schlaf erwachte sie am nächsten Morgen mit einem Gefühl der Benommenheit. Sie hoffte noch immer, dass es ein Traum war, doch eine innere Stimme sagte ihr etwas anderes.

Mittags begegnete sie ihm. Er verhielt sich, als hätte es den gestrigen Tag nicht gegeben. Sie sah sich um. Die Anspannung schien von den meisten Anderen bereits wieder abgefallen zu sein, aber sie begann, die Tage zu zählen. Drei Monate - 90 Tage.

Sara warf ihm verstohlene Blicke zu. Er saß an seinem Platz und schaute aus dem Fenster. Sie fragte sich, was jetzt gerade in ihm vorging – ob er sich fürchtete, ob er Schmerzen hatte und er alles nur überspielte? Als sie ihn so sah, wusste sie was sie zu tun hatte.
Sie stand auf, ging zu ihm, tippte ihm verlegen auf die Schulter und bat ihn um Verzeihung für ihren Ausbruch, den er miterleben musste. Er drehte seinen Kopf und lächelte sie an. Dieses Lächeln machte sie noch befangener und immer noch hörte sie seine Worte in ihrem Kopf.
Ich habe nur noch drei Monate zu leben.

Sie beugte sich etwas tiefer zu ihm hinunter und flüsterte in sein Ohr:
„Ich liebe dich.“
Bevor er antworten konnte, drehte sie sich um und ging zurück an ihren Platz. Sie wollte mit diesem Satz keine Pflicht verbinden, ihm kein Gefühl vermitteln, dass er ihr das Gleiche schulde, sie wollte es ihm nur sagen.


***​

Heute sind es schon vier Jahre, dass er starb. - Sie hatte neben dem Bett gesessen und seine Hand gehalten. Er hatte ihre Hand schwach gedrückt und Sara hatte es gespürt, gewusst, dass es Zeit war, sich von ihm zu verabschieden. Friedlich war er eingeschlafen - seine Augen für immer geschlossen.
Wie in Trance nahm Sara die Geschehnisse der folgenden Wochen wahr. Die Todesanzeige in der Zeitung, die Beerdigung, ihr Zusammenbruch an seinem Grab.
Sie hatte seinen Sarg gesehen, sein Name stand auf den Schleifen zwischen den unzähligen Blumen, die zu Kränzen gebunden, ihren Platz auf der frischen Erde fanden. Sie hatte es nicht glauben können und manchmal kann sie es heute noch nicht.
Seitdem war Sara jedes Jahr an diesem Tag hier oben. Wie immer hatte sie zunächst seine Eltern besucht und liegt nun auf der grünen Wiese im weichen Gras, blickt in den Himmel und schickt ihre Gedanken an ihn mit den Wolken auf die Reise. Hier hat sie das Gefühl, ihm ein Stückchen näher sein zu können, näher als auf dem Friedhof.
29 wäre er dieses Jahr geworden.
Sie nimmt ihren kleinen Sohn, der spielend neben ihr im Gras sitzt auf den Schoß und sieht ihn liebevoll an. „Du wirst ihm immer ähnlicher.“ sagt sie leise, während der Kleine sie mit seinen fröhlichen blauen Augen anstrahlt.

Sie legt einen Strauß Vergissmeinnicht vor die kleine Kapelle, bevor sie bei Sonnenuntergang wieder ins Tal geht. An der Bank, von der man den Friedhof sehen kann, bleibt sie eine Weile stehen. Die kühle Abendluft lässt sie frösteln und ihr Sohn, den sie auf dem Arm trägt, schmiegt sich näher an sie. Sanft streicht sie ihm übers Haar.

„Du wirst immer bei mir sein“, sagt sie beruhigt, während sie in den Himmel schaut, an dem die letzten Sonnenstrahlen langsam verblassen.

---------

Mai 2005

 

Weiß nicht genau, ob die Geschichte bei R/E richtig ist, aber sowas wie "Trauriges" habt ihr hier ja nicht, von daher wars meiner Meinung nach hier der richtige Ort. Falls nicht, bitte verschieben.

LG Blue

 

Hi BlueSoul,

ich muss sagen, dir ist da eine wirklich sehr bewegende Geschichte gelungen. Ich könnte nun ausholen und alles loben, was es an Feinheiten zu beachten gibt. Ich finde die Geschichte sehr gut. Ich kann an ihr überhaupt nichts aussetzen. Lass mich versuchen das zu sagen, ohne, dass es wie Schleimerei oder Sarkasmus klingt : ich finde sie menschlich.

Eine der besten Geschichten, die ich hier bisher gelesen hab.


Liebe Grüße,
fallen

 

Hallo fallen,

vielen lieben Dank für dein Lob! Die Geschichte liegt mir persönlich sehr am Herzen und es freut mich außerordentlich, dass scheinbar etwas von dem Gefühl, das ich beim Schreiben hatte auch ankommt. :)

Nochmals danke fürs Lesen.

Lieben Gruß
Blue

 

Hallo BlueSoul,

du schaffst es auf einzigartige Weise den Leser in den Bann deiner Geschichte zu ziehen. Deine Worte sind so gefühlvoll, man glaubt alles auf seiner eigenen Haut spüren zu können. Die Geschichte liest sich sehr flüssig und das unerwartete Ende mit dem Kind rundet alles auf eine wunderbare Art ab.
Da ich ebenfalls die Verbundenheit mit der Kapelle genieße, weiß ich nur zu gut, wie es sich anfühlt, das Gefühl von Einsamkeit und Schmerz.

Liebe Grüße

 

@ MisceloneuM:
Danke dir für deine liebe Kritik Marco. :) Wenn es wirklich so ist, dass man als Leser spürt, was ich sagen wollte, dann kann ich zufrieden sein.
Jaja, dieser Ort, diese Kapelle... Du hast beim Lesen den "Vorteil", dass du ein konkretes Bild vor Augen haben kannst, vielleicht unterstsützt diese Tatsache dein Gefühl beim Lesen...

Lieben Gruß

@ someday

Auch dir danke für deine Kritik. Freut mich sehr, wenn dir die Geschichte gefallen hat. :)

Lieben Gruß

 

Hm, was soll ich dazu sagen? Meine Vorgänger haben alles schon gesagt, was ich bei dieser geschichte empfunden habe. Ein Wort hätte ich dann doch noch übrig: wow. :thumbsup:

 

Hallo BlueSoul,

mich hat diese Geschichte, die flüssig und gut lesbar geschrieben ist, nicht so mitgenommen wie die anderen Kommentatoren.

Ich versuche mal aufzuzeigen, wo ich gestutzt habe:

„Ich habe nur noch drei Monate zu leben.“
Ich weiß ja schon, dass Ärzte manchmal Prognosen abgeben, wie lange noch jemand ungefähr leben wird / leben kann, darf. Mich stört dieses Absolute der drei Monate, später noch als 90 Tage definiert. Vielleicht wäre ich über ein vermutlich um die drei Monate zufriedener gewesen.

Hektisch schaute sie umher. Entsetzte Blicke der Anderen trafen sie – viele sahen betreten zu Boden. Einer von ihnen wischte sich verlegen eine Träne aus dem Gesicht. Schweigen erfüllte den ganzen Raum. Sara spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte, wie ihr Herz bleiern schlug und ihr Tränen in die Augen stiegen. Fassungslos sah sie ihn an, schüttelte den Kopf, blickte wieder umher. Bestürzung zeichnete die Gesichter der Menschen, die ihn kannten, die ihn mochten.
Er stand immer noch ruhig im Raum – es schien fast, als würde er sich über die bedrückten Gesichter wundern.
Wo ist das? Im Krankenhaus? Bei sich zu Hause? An einer Fete?
Sie verbarg ihr Gesicht zwischen ihren angewinkelten Knien und begann hemmungslos zu weinen. Es war ihr gleichgültig, dass alle es sahen. Sie schämte sich nicht für ihre Tränen.
Wann soll den ein öffentliches Weinen legitimer als bei so einer Nachricht sein?

Der Gedanke, dass er sterben würde – bald sterben würde – war unerträglich.
Noch immer schwiegen die anderen. Noch immer stand er inmitten des Raumes.

Ein Arm legte sich tröstend um ihre Schulter. „Wein doch nicht.“ hörte Sara seine vertraute Stimme.
Punkt hinter nicht weg und Komma nach den Schlußzeichen hin

„Sag, dass das nicht wahr ist, sag, dass es nicht dein Ernst war, bitte sag es!“ flehte sie mit tränenerstickter Stimme während sie ihren Kopf hob und ihn mit geröteten Augen ansah.
Nachdem ich die ganze Geschichte gelesen hatte, fragte ich mich, wie der Prot ihr es antun konnte, ihr diese Hiobsbotschaft inmitten der Anderen weiterzugeben. Sie, mit der er schon intim war, die also doch eine enge Beziehung hatten, erfuhr es nicht separat?

Mittags begegnete sie ihm. Er verhielt sich, als hätte es den gestrigen Tag nicht gegeben. Sie sah sich um. Die Anspannung schien von den meisten Anderen bereits wieder abgefallen zu sein, aber sie begann, die Tage zu zählen. Drei Monate - 90 Tage.
Dann sieht sie ihn am nächsten Tag wieder, es gibt wieder andere, die wohl am gleichen Ort sind - aber das ist so wischiwaschi. WG-Kollegen, Familie?
Sara warf ihm verstohlene Blicke zu. Er saß an seinem Platz und schaute aus dem Fenster.

Sein Platz? Doch Krankenhaus?
Ich brauche nicht endlose Erklärungen über die Örtlichkeiten, aber doch ein grobes Gerüst, an dem ich meine Vorstellungen aufbauen kann.

Ich fände es auch besser, wenn man früher erfahren würde, in welchem Verhältnis die beiden stehen. Anfangs könnte man auch denken, es handle sich um einen Familienangehörigen - so distanziert, wie das beschrieben wird, könnte man ja fast noch meinen, er hätte sie erst nach dieser Offenbarung geschwängert.
In der Geschichte kommt inhaltlich viel Anrührendes vor: Mich nimmt es aber nicht so mit, weil das Kind so als Pointe eingesetzt wird und das wird für mich der Thematik nicht gerecht; oder ich finde es eben nicht so passend. Interessanter hätte ich noch gefunden, wenn in der Geschichte erzählt wird, dass sie miteinander schlafen, dann käme diese Info mit dem Kind auch nicht so abrupt.

Lieber Gruß
bernadette

 

Hallo Bernadette,

danke für deinen Kommentar. Hätte gar nicht gedacht, dass meine alte Geschichte noch mal ausgebuddelt wird. ;)
Du hast sicherlich Recht mit diesen Anmerkungen und ich habe die Geschichte inzwischen auch gründlich überarbeitet, da mir selbst klar war, dass sie so nicht "rund" ist. Ich merke, dass es in der vorliegenden Version scheinbar einige Missverständnisse über Beziehung, Örtlichkeit, etc. gibt. So ist das halt, wenn man als Autor das "Drumherum" im Kopf hat... Da wird man dann wohl betriebsblind.


Lieben Gruß
Blue

 

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