- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Vergissmeinnicht
Vergissmeinnicht
Langsam schritt Tim den Bahnhofssteg entlang ohne sich auch nur einmal umzuschauen.
Stetig wurde sein Blick von dem kalten grauen Steinboden gefangen, den er entlang ging.
Nur die bunten Herbstblätter konnten kurz seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ihn von seinen Gedanken ablenken.
Sieh nur, wie sie tanzen im Wind, die Blätter. Wie fröhlich sie hin und herwirbeln, getrieben vom leichten Luftzug, nur, um danach wieder unausweichlich gen Boden zu sinken, um dort zu verrotten.
Er riss sich aus den Gedanken, und versuchte sich auf sein Ziel zu konzentrieren, Sara zu finden. Irgendwo hier musste sie herumstehen. Irgendwo hier musste sie auf den Zug warten, der sie wegfahren würde … einfach weg.
Sara schmiss die Zigarette zu Boden, um sie danach auszutreten. Tut mir Leid Junge.Auch sie war mehr als nervös.
Würde sie doch in ein paar Minuten ihren Freund verlassen. Wohl für immer, das wusste sie. Ebenso, wie sie wusste, dass er auf etwas anderes hoffen würde. Und sie hatte wohl nicht den Mut, ihm die Wahrheit offen darzulegen. Tut mir Leid Junge.
Im Verabschieden war sie schon immer eine Niete gewesen. Da war Tim immer viel besser drin gewesen. Aber sie hatten sich schon immer gut ergänzt.
Auf der einen Seite die rationale, sachliche Sara und auf der anderen Seite Tim, der mehr aus dem Bauch entschied und durch und durch emotional veranlagt war.
Sie hatte es immer soziale Kompetenz genannt, er nannte es Schwäche. Sie würde wohl nie herausfinden, ob er das ernst gemeint hat.
Nervös schaute sie auf die Uhr … noch 15 Minuten bis der Zug kommt.
Wenn doch nur diese Anspannung nicht wäre ….
Schweißperlen liefen ihm langsam die Stirn herunter, aber er hatte keine Hand frei, um sie wegzuwischen, da beide Hände hinter dem Rücken ihr Geschenk festhielten.
Ja, dieses Geschenk wird wieder alles ändern … sie wird anfangen zu weinen und mir in die Arme fallen … es MUSS so sein. Wieso sollte es anders sein? Es ist doch wahre Liebe … wahre Liebe MUSS gut gehen.
Eine Schweißperle lief ihm in sein Augen und brachte es zum tränen.
Aber was war, wenn sie nicht mitkommen würde? Wenn sie doch fahren würde?
Sie war doch sein Leben … Was sollte denn sonst sein Lebenszweck sein, wenn nicht die Liebe? Es war sein Lebenssinn.
Die Liebe wird heutzutage oft überschätzt … dachte Sara bei sich, während sie hastig die nächste Zigarette ansteckte … diese Nervosität.
Im Grunde ist es doch nichts als ein Vermehrter Ausstoß von Hormonen … zumindest am Anfang. Nachher bleibt nur noch der Rest … und was ist der Rest? Das dableiben … das füreinander da sein aus reinem Pflichtgefühl dem anderen gegenüber. Das kann es doch nicht sein.
Tim würde das anders sehen, das wusste sie. Viel setzt er auf die Beziehung … viel zu viel.
Wenn er all seine Aufmerksamkeit in die Beziehung steckt, dann hat er nichts mehr, wenn sie vorbei ist … Sie bekam immer mehr Angst vor dem Abschied … so etwas wollte sie ihm nicht antun … so etwas wollte sie ihm nie antun. Schon lange hatte sie ihn davor gewarnt, sich zu sehr da reinzuhängen. Schon lange hatte sie gemerkt, dass es nicht das wahre für sie ist.
Sie ist die Richtige … das hatte er schon immer gespürt. Schon bei der ersten Begegnung war er ganz hin und weg. Bei ihr war es einfach was ganz anderes. Das konnte doch nicht alles umsonst gewesen sein? Die Zeit konnte doch nicht einfach verschwendet gewesen sein?
Die ganzen Jahre hatte er nach jemanden wie sie gesucht. Er hatte getrunken, er hatte sich schon öfters mit Elektrogeräten in die Badewanne gesetzt … oft wusste er einfach nicht weiter.
Er hatte einfach nur Angst. Angst vor dem alleine sein. Einfach treibend auf dem Ocean … hin und hergerissen von den Wellen. Wut, Angst, Frust … wer weiß, wie man sie noch alles nennen konnte. Und nun endlich hatte er das Gefühl, jemanden gefunden zu haben, der ihm halt gab. An wen er sich klammern konnte, damit er nicht weiter so umhergetrieben wurde.
Das soll jetzt alles vorbei sein? … Was ist denn dann?
Wer weiß schon, was passiert, wenn ich mich von ihm trenne? Ich denke, die Methode ist am besten … wenn noch ein wenig Resthoffnung da bleibt … etwas, was ihn noch über Wasser hält. Er wird schon vergessen … dessen war sie sich sicher.
Warf ihre Zigarette auf den Boden, ließ sie weiterglimmen –Wieder an der gleichen Stelle … immer wieder an der gleichen Stelle und es geht nicht weiter – und schaute auf.
Da ist er ja …
Da ist sie ja endlich …
Schon fast verlegen kam er auf sie zu, Angst davor, kein Wort rauszubekommen. Wie am ersten Tag … das muss doch was heißen.
„Hey, wie geht es dir?“
"Den umständen entsprechend … und dir?“
Darauf wusste er keine Antwort … er wusste nicht einmal, ob er lügen, oder die Wahrheit sagen sollte.
„Musst du …?“
„Tim, ich habe es dir doch lange genug erklärt, ich kann nicht anders. Wenn ich mich nicht versetzen lasse, dann suchen die sich schneller eine Neue, als ich gucken kann.“
Die bittere Wahrheit fing wieder an, sich in seiner Brust auszubreiten … dieser unerträgliche Schmerz der Gewissheit „Ich werde sie verlieren“
„Schatz, dass ….“, seine Stimme zitterte … vor Angst und vor Unsicherheit. Er wollte nichts Falsches sagen, aber das Richtige wollte ihm einfach nicht in den Sinn kommen.
Eine Träne lief Sara über die heiße Wange und verlor sich auf dem Boden direkt neben der noch glimmenden Zigarette. Sie wollte ihm so was doch nicht antun … das war doch nicht ihre Absicht. Sie wollte einfach nur das Beste für ihn.
Und das ist die Trennung von mir … ich liebe dich nicht mehr.
Er wollte sie nicht verlieren, um nichts in der Welt. Was sollte er denn sonst machen?
Aber sie weinte … sie wollte ihn nicht verlassen …. Ganz bestimmt nicht. Er hat noch eine Chance.
Ein lautes Dröhnen riss sie beide aus ihren Gedanken. Es war der Zug, in den Sara einsteigen würde um wegzufahren. Ins Ausland. Weg von ihm.
„Schatz, ich muss nun wirklich fahren.“, stammelte sie mehr zu sich, als zu ihm.
„Ich will dir nur noch etwas schenken, bevor du gehst“, flüsterte er ihr zu, während er die Hände hinter dem Rücken hervorholte und ihr die Vergissmeinnicht offenbarte, die er die ganze Zeit in den Händen hielt.
„Ein Blume“, sprach er mit Hoffnung in der Stimme, „damit du mich nicht vergisst.“
„Ein Vergissmeinnicht“, sagte Sara, halb lachend, halb weinend. So etwas kann auch nur ihm einfallen.
Sie nahm die Blumen, schaute ihn an und fing an zu weinen. Sie konnte die Tränen nicht mehr aufhalten. Es tut mir doch so Leid. Mache es nicht schwerer, als es sowieso schon ist, bitte. Nicht schwerer für dich und für mich.
„Danke“, brachte sie gerade noch so hervor.
Tim stand vor ihr und war nicht einmal in der Lage, sie jetzt, wo sie weinte, zu umarmen.
Noch zusammen, und schon getrennt.
Sie wollte ihn umarmen, um sich zu verabschieden … sie wollte ihn ein letztes mal umarmen.
Doch Tim wich zurück und sagte hoffnungsvoll: „Das hohlen wir nach, wenn wir uns später dann wieder sehen, okay?“ Sie MUSS wiederkommen.
„Klar, wenn wir uns wieder sehen“, stammelte Sara und stieg in den Zug ohne sich noch einmal umzuschauen. Das würde sie nicht aushalten.
Tim blieb noch stehen, bis der Zug wegfuhr und schaute ihm einige Zeit hinterher. Er steckte seine Hände in seine Hosentaschen und wollte gerade gehen, als er eine glimmende Zigarette auf dem Boden sah.
Er trat sie noch aus, bevor er ging.- Tut mir Leid, Junge -
Er würde wohl nie erfahren, dass sie nie vorhatte, sich noch einmal zu melden.
Genauso wenig, wie sie erfahren würde, dass er schon nach kürzester Zeit eine Neue haben wird.
Das Vergissmeinnicht landete schon bei der nächsten Zugstation im Mülleimer neben einem Blumenladen, wo sie neben Alkoholflaschen und gelben Rosen verrotteten.
Und keiner von beiden würde je wissen, ob er richtig geliebt hatte, oder nicht.