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Verliebt in eine Elfe
Einer dieser Tage, an denen man am liebsten entweder überhaupt nicht oder nur sehr ungern aus dem Bett steigt. Und dabei möchte ich nicht einmal weiterschlafen. Es gefällt mir einfach nicht wach zu sein.
Aber wie sagt sie immer so schön: „Es hilft alles nichts."
Apropos sie. Vermutlich wird sie jetzt von der Stewardess ein Glas Tomatensaft serviert bekommen und teilnahmslos aus 10000 Meter Höhe auf das Wolkenmeer blicken.
So häufig wie ich mich gestern von ihr verabschiedet habe, könnte man glauben, dass ich sie, wenn überhaupt, erst in einigen Jahren wiedersehen würde. Dabei macht sie ja nur einen stinknormalen dreiwöchigen Urlaub. Vielleicht ist es auch nicht das Schlechteste, wenn sie für ein paar Tage ihre Ruhe vor mir hat und über alles nachdenken kann.
Es hilft alles immer noch nichts. Also stehe ich auf, gehe ins Bad, trinke danach einen Kaffee, kümmere mich dann um die Wäsche, das Geschirr und die drei Pflanzen auf der Fensterbank.
So sehr ich es auch zu verdrängen versuche, fällt es mir verdammt schwer, damit klar zu kommen, dass mein Tagesablauf heute offensichtlich ganz durcheinander geraten ist. Schon jetzt, wo sie ihr Reiseziel ja noch nicht einmal erreicht hat, kann ich erahnen, wie es mir die nächsten Tage gehen wird.
An einem so schönen Samstag wie heute wäre ich normalerweise gut gelaunt aufgestanden. Ich hätte mir als erstes eine Tasse Kaffee geholt und dann das Spiel gestartet, um anschließend sofort in der Freundesliste nachzusehen, ob sie auch schon online ist.
Ich weiß inzwischen nicht mehr, ob ich das überhaupt "Spiel" nennen darf. Für mich ist es was ganz anderes. Etwas, wofür es keinen Namen gibt. Etwas, was aber unbedingt einen braucht.
Dennis, ein Schulfreund, zu dem ich über die Jahre hinweg noch immer, wenn auch selten Kontakt hatte, erzählte mir davon. Davon, wie unglaublich das Spiel sei, und dass ich etwas verpasse, wenn ich es nicht wenigstens einmal ausprobiere.
Von seinen Schwärmereien war ich weit weniger beeindruckt, als ich zu sein vorgab. Jedenfalls gab ich den Versuch nicht auf, das Thema zu wechseln, sobald es irgendwie ging.
Ich gehörte nie zu den Menschen, die etwas für Computerspiele übrig hatten. Nicht ganz unwesentlich für meine Abneigung war auch die Tatsache, dass ich mir mit meinen 32 Jahren ziemlich albern vorkam, wie ein Junge vor dem Rechner zu hocken und stundenlang zu spielen. Dafür hatte ich schon lange nicht mehr die Ruhe und dazu war mir meine Zeit zu kostbar.
Die Zeit, die ich im Bett, bei der Arbeit oder in irgendwelchen Verkehrsmitteln verbrachte, kosteten mich 20 Stunden und mehr am Tag. Wenn überhaupt blieben also ganze vier Stunden Freizeit übrig, die ich irgendwie sinnvoll nutzen wollte. Auch wenn sie nicht selten der Gemütlichkeit des Fernsehsofas zum Opfer fielen, versuchte ich, wenigstens irgendwas Sinnvolles oder zumindest Unterhaltsames zu schauen.
Sofern es die Umstände erlaubten, ging es dann am Wochenende raus aus der Wohnung. Ein ausgiebiger Spaziergang, Besuche bei Freunden oder Verwandten, Einkaufen oder was auch immer, was einen für einige Stunden von den eigenen vier Wänden fern hielt.
Ich lebte allein. Vielleicht aus Trotz, vielleicht aus Überzeugung und vielleicht auch deswegen, weil alles andere mir nicht gelingen wollte. Zumindest redete ich mir ein, dass die Freiheit meine Lebensgefährtin sei und ich tun und lassen könne, wonach mir ist.
Ich sehe vielleicht nicht gut genug aus. Vielleicht tue ich auch nicht genug, um bei Frauen anzukommen.
Es ist einfach zu mühselig. Ich hatte das Gefühl, dass meine Versuche weniger dazu geeignet waren, jemanden kennen zu lernen, als vielmehr dazu, mir wieder einmal zu beweisen, dass es vergebens ist. Nein, ich kam alleine sehr gut klar und brauchte auch niemanden.
Manchmal fuhr ich nach der Arbeit erst in die Stadt, machte einen kleinen Stadtbummel und fuhr dann weiter nach Hause. Es half mir, den Kopf frei zu bekommen, und außerdem war es nicht verkehrt, ein wenig herumzulaufen, nachdem ich fast den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch verbracht hatte.
Es war wohl eher Zufall, dass ich kurz nach meinem Gespräch mit Dennis dieses Spiel in einem Laden entdeckte. Ich kaufte es sofort, auch wenn ich mir den Grund selbst überhaupt nicht erklären konnte. Vielleicht war es eine kleine Rebellion gegen die eigene Vernunft, vielleicht tat ich es auch, weil es mir nichts bedeutete und ich es mir leisten konnte. Vielleicht aber auch, weil ich es für den Bruchteil einer Sekunde wollte.
Das Spiel fing mit einem unglaublichen Animationsvideo an. Selbst als Informatiker, der bei so etwas eher an die technischen Details denkt, die hinter einer solchen Animation stecken, konnte ich mich der Faszination kaum entziehen.
Außer mit historischen Hintergrundinformationen beschäftigte sich die Animation vor allem damit, dass die alten Prophezeiungen sich nun erfüllen würden, denn schließlich war ICH, derjenige nämlich, der das Schicksal dieser Welt besiegeln sollte, im Begriff sie zu betreten.
“Puh, da kam ich ja gerade noch rechtzeitig!”, schmunzelte ich.
Zuerst aber durfte ich erst einmal “Gott für Anfänger” spielen. Ich sollte aus einer Vielzahl der in dieser Welt möglichen Wesen eine Figur erschaffen, die mich dort verkörpern sollte, ihm oder ihr einige äußerliche Merkmale verpassen und einen Namen vergeben.
Und endlich war es dann soweit.
Hier bin ich! Der Erretter der Welt. Und was für ein Glück für ihre Bewohner, dass ich mich für diesen Server entschieden habe und nicht für einen der zig anderen, die es weltweit gibt.
Kaum eingeloggt sah ich auch schon den eben von mir erschaffenen Elfenjäger ratlos auf einer grünen Wiese stehen, umgeben von überdimensionalen, märchenhaft anmutenden steinalten Bäumen. Ich fasste nichts an und beachtete ihn erst einige Sekunden lang.
Nach kurzer Zeit machte er sich dann durch Schulterzucken bemerkbar. Er wies mich damit wohl darauf hin, dass er nicht hier ist, um dumm herum zu stehen, sondern um eine Mission zu erfüllen, eben die Welt retten und alles was da sonst noch zu tun ist.
Während er nun die nächsten 30 Minuten verstört in die Gegend schaute, konzentrierte ich mich darauf, wie ich die Figur steuern kann.
Dabei wechselte mein Blick ständig zwischen dem Monitor und dem Handbuch hin und her, und all die kryptischen Zeichen und Elemente rund um meine Schöpfung gaben nach und nach ihre Geheimnisse preis.
Da ich nicht wirklich vorhatte, das Spiel im Sinne des Erfinders zu spielen, und weil ich zudem nicht den ganzen Tag mit Lesen verbringen wollte, reichte mir diese kleine Einweisung vorerst und ich beschloss, die Umgebung zu erkunden. Merkwürdigerweise hatte ich auch dem kleinen wartenden Jäger gegenüber mittlerweile ein schlechtes Gewissen. Ich hatte ihn ja schließlich erschaffen, eigenhändig in die Welt geholt, ohne einen Plan zu haben, was ich mit ihm anfangen soll.
Das kam mir doch irgendwie bekannt vor.
In den nun rasant vergehenden Stunden, in denen ich mich nahezu frei in dieser mittelalterlich-fantastischen Umgebung bewegen konnte, wunderte ich mich nicht selten darüber, wie andere Götter ihre Figuren geschaffen hatten. Ich fragte mich, ob das mit Absicht passierte oder ob das einfach nur geschmacklos war. Lustig war es jedenfalls.
Ich fing an, es auf eine mir bislang unbekannte Art zu genießen. Es war ein eigenartig angenehmes Gefühl, in die Haut eines anderen zu schlüpfen und sich auf dem Rücken eines Greifen über verschneite Berggipfel und endlose Steppenlandschaften oder zu fuß in diesen opulent gestalteten Traumlandschaften zu bewegen.
Das Ganze wurde begleitet von einer Mischung aus den Umgebungsgeräuschen und einer dramatisch schönen Musik, die der eines Monumentalfilms in nichts nachstand. All das vermittelte einem nach und nach das Gefühl, dass diese Welt irgendwie mehr Leben in sich trägt, als man glaubt.
Erst am späten Abend bemerkte ich, wie schnell die Stunden, die ich hier verbracht hatte, vergingen. Auch wenn es im Nachhinein zu voreilig erscheint, hatte ich dennoch das Gefühl, hier eine Art Zuflucht gefunden zu haben, die ich bewusst gar nicht gesucht hatte. Einen Ort, an dem ich derjenige sein konnte, den ich wollte. Ich hatte das Gefühl, dass ich eine Maske gefunden hatte, die ich nur aufzusetzen brauchte, um mich in eine Fantasywelt teleportieren zu lassen, in der ich ein ganz anderes, aufregenderes Leben führen konnte. Und was mich am meisten begeisterte, war, dass ich dort nicht allein war, sondern diese offensichtlich unglaublich große Welt mit tausenden anderen Menschen teilte, die ähnlich empfinden mussten wie ich.
Es hilft alles nichts. Sie ist drei Wochen nicht da und ich muss mich damit abfinden, also beschließe ich, ins Spiel zu gehen.
Also gut. Was willst du machen? Wen willst du spielen?
Ich starte das Spiel und sehe vor mir eine Liste von mittlerweile zehn Figuren, die ich im Laufe der Zeit zum Leben erweckt habe.
Je nachdem, wie ich mich fühle und wozu ich Lust habe, kann ich den zu meiner Stimmung passenden Charakter auswählen. Ich habe mir sogar einen „anonymen" Charakter angelegt, den keiner kennt, damit ich meine Ruhe haben kann, wenn ich ins Spiel gehe.
Nachdem ich einige Monate gespielt hatte, hätte ich in gewisser Hinsicht lieber auf meine eigene Welt verzichtet als auf diese. Je länger ich spielte, umso mehr wuchs die Faszination über die Herausforderungen, die man nicht alleine bewältigen konnte, und umso bedeutender wurden die neuen Bekanntschaften, Freunde und Mitstreiter, die man gefunden hatte.
Hier versammelten sich unzählige Menschen aus allen Ecken dieser Welt mit unterschiedlichsten Hintergründen, wechselten ihre Arbeits- und Alltagsklamotten gegen Leder- und Plattenrüstungen, stiegen aus ihren Autos aus und setzten sich auf Tiger und Drachen, tauschten Kugelschreiber und Werkzeuge gegen Äxte und Bögen, organisierten sich zu größeren Gruppen und gingen gemeinsam auf die Jagd nach beinah unbesiegbaren intriganten Drachen, feurigen Dämonen oder bösen Magiern.
Und manchmal, lange nachdem sie sich kennen gelernt, Einiges miteinander unternommen und viele Abenteuer durchlebt hatten, sich gegenseitig schweinische Witze zugeflüstert und über die Lieblingsfußballmannschaft gestritten hatten, kam es dann vor, dass sie sich eingestehen mussten, dass im wirklichen Leben sie nicht nur riesige Entfernungen, sondern auch 30 oder mehr Lebensjahre voneinander entfernten.
Ich erinnere mich an die Verwunderung eines Mitspielers darüber, dass einer unserer stärksten Krieger, der uns darüber hinaus noch durch seinen schrägen Humor immer wieder zum Lachen brachte und auf den wir alle nicht mehr verzichten wollten, im wirklichen Leben eine 57 jährige Hausfrau war.
Merkwürdigerweise bewirkte das keine Verminderung SEINES, sondern eine Steigerung IHRES Ansehens.
"Kann man sich denn überhaupt vorstellen, dass eine so alte Tante so cool sein kann?", wunderte er sich mir gegenüber.
Die Geschichte über unsere attraktive und geheimnisvolle Heilpriesterin, hinter der ein 70 jähriger Rentner steckte, würde mir eh keiner glauben. Überflüssig zu erwähnen, dass diese Erkenntnis viele männliche und vielleicht auch weibliche Spielerherzen zerbrach.
Ich denke, ich fange am Besten mit Ardwen an. Ardwen ist mein furchtloser Jäger, der von einem seltenen schneeweißen Löwen begleitet wird. Sein halbes Leben lang hatte er von diesem Löwen geträumt und nach vielen Anstrengungen und noch mehr Geduld hatte er ihn dann gefunden und unter Lebensgefahr gezähmt. Ardwen ist groß und kräftig und mittlerweile ausgestattet mit allem, was das Herz jedes Jägers höher schlagen lässt.
Kaum eingeloggt, steigt er auch schon auf seinen Tiger und reitet davon. Kurz davor kam die Meldung, dass eines unserer Dörfer von den Mächten der Gegenseite angegriffen wird. Ardwen ist nicht mehr der wehrlose kleine Jäger, den ich an jenem Tag vor drei Jahren nicht einmal bewegen konnte. Manchmal, wenn er da ist, habe ich das Gefühl, dass er derjenige ist, der mich steuert und mir zuflüstert, wo er hin will und was er gerne machen möchte.
Gleich zu Beginn des Spiels muss man sich entscheiden, ob man dem dunklen Bösen oder der guten Seite zur Seite stehen möchte. Die meisten neigen zu dem Guten. Vielleicht gibt es doch Hoffnung für die Menschheit?
Dort angekommen, stelle ich fest, dass vier Spieler der Gegenseite immer wieder das kleine Dorf von allen Seiten angreifen. Nur eine furchtlose Gnomenmagierin versucht Widerstand zu leisten. Die meisten der anderen Anwesenden verfolgen das Geschehen zwar offensichtlich sehr aufmerksam, greifen jedoch nicht ein. Warum eigentlich nicht, frage ich mich. Hier wird doch niemand wirklich verletzt. Vielleicht gibt es doch keine Hoffnung für die Menschheit?
Also los. Einige Minuten später bin ich ... ähm, der Ardwen ... schon dreimal gestorben, habe aber eigenhändig, oder besser gesagt mein tapferer Löwe und ich ... ich meine Ardwen natürlich, sieben von denen auf dem Gewissen und das, obwohl sie nur zu dritt waren. Sowas kommt zustande, wenn man jeden von ihnen häufiger als einmal ins Jenseits befördert.
Tja, Wiedergeburt hat ihre Vor- und Nachteile.
Nach der epischen Schlacht, die mich ungefähr 20 Minuten beschäftigte, stehen wir wieder vor den Toren der Hauptstadt und überlegen, was wir machen wollen.
Manchmal frage ich mich, ob ich an den Sachen, die ich mache, auch in irgendeiner Form beteiligt bin. Denn drei Minuten später bin ich auch schon mit Gherias, meinem kleinen, aber tapferen Menschenpriester unterwegs.
Das ist eine Figur, die sie für mich erschaffen hatte. Ich hatte ihr meine Account-Daten gegeben und sie gebeten, für mich einen Priester ganz nach ihrem Geschmack zu machen.
Sie wird bestimmt angenehm überrascht sein, wenn sie wieder aus ihrem Urlaub zurückkehrt und feststellt, dass aus ihrem kleinen Priester mittlerweile ein richtiges Prachtexemplar von einem Mann geworden ist.
Also fange ich voller Tatendrang an, mit ihm die Gegend unsicher zu machen. Ha! Das wird ein Spaß!
...
Ungefähr fünf Minuten später habe ich mich wieder ausgeloggt und schaue mir der Reihe nach die Charaktere von oben bis unten an.
Den Gnomenschurken Kardak, der ziemlich ambitionslos aussieht, dann den geheimnisvollen Menschenkrieger Gitano, der von mir abgewandt mir zu erkennen gibt, dass er keine Interesse hat, den Zwergpaladin Xerax, der mich so anschaut, als wollte er sagen, dass er in meinem jetzigen Zustand doch lieber nicht mit mir ins Spiel möchte, und dann nach und nach die anderen, die durch die Gegend pfeifend mir absolute Desinteresse mimen.
Ich habe sie vor einem Jahr im Spiel kennengelernt. Plötzlich stand diese kleine Elfe vor mir und flüsterte mich an, ob ich ihr bei einer Aufgabe behilflich sein könnte.
Gleich als ich sie sah, wusste ich, dass sie was Besonderes ist.
Zwar sehen die meisten Elfen in diesem Spiel recht ähnlich aus, aber man glaubt ja nicht, wie die Haarfarbe oder die Länge der Ohren für eine Rolle spielen. Diese Kleinigkeiten können einem wirklich eine Art Individualität verleihen.
Nachdem ich ihr geholfen hatte, und wir ein wenig geplaudert hatten, fügte ich ihren Namen auch schon direkt meiner Freundesliste hinzu.
Wenn ihr Name in dieser Liste leuchtete, wusste ich, dass sie auch online war, und darüber hinaus auch in welchem Gebiet sie sich gerade befand.
Es kam dann dazu, dass ich mit Ardwen zufällig und vollkommen unbeabsichtigt immer die Gegend aufsuchte, wo sie "questete", man also irgendwelche Aufgaben von einem nichtmenschlichen Spieler bekam, für deren Durchführung man dann mit Waffen, Rüstung, Geld oder Erfahrungspunkten belohnt wird.
Und obwohl die Gegenden, in denen sie sich aufhielt eigentlich Anfängergebiete waren und keine Orte, wo ein so erfahrener Jäger wie Ardwen irgendeine Herausforderung finden konnte, ging ich dennoch hin, um sie aufzuspüren und hoffte auf eine Gelegenheit, ihr Leben in einer für sie aussichtslosen Situation ganz zufällig retten zu können.
Daraufhin würde ich zumindest ein „thx", was für „Danke" steht, im Chatfenster lesen und Ardwens ganzen Charme einsetzen, um sie in ein weiteres Gespräch zu verwickeln.
"Ach du bist es! Kennst du mich denn noch?!"
Hört sich zwar dämlich an, funktionierte aber.
Jeden Tag, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, ging ich zuerst auf den Rechner zu. Während dieser hochfuhr, zog ich mich schnell um, machte mir fix etwas zu essen und loggte mich ins Spiel ein, um mit ihr zu chatten. Ich habe diese Zeit genossen. Ich musste mich nicht bemühen, nicht auf mein Äußeres achten und mir soviel Zeit für meine geistigen Ergüsse nehmen, wie ich wollte. Und wenn es mal eng wurde und ich nicht schlagkräftig und sicher genug auf eine ihrer Aussagen reagieren konnte, dann deutete ich mit einem "tele" darauf hin, dass ich dummerweise gerade angerufen werde und daher nicht sofort antworten kann.
Die Zeit, die ich für den vermeintlichen Anruf brauchte, nutzte ich entweder um eine geniale Antwort zu finden, oder das Thema komplett zu wechseln, indem ich das Gespräch mit einem ganz anderen Thema wieder aufnahm.
Sie hatte keine Ahnung, wie ich aussehe, kannte meine Schwächen und Stärken nicht und machte sich ihr eigenes Bild von mir. Alles, was sie von mir hatte, war das, was sie von mir zu lesen bekam. Was ich schrieb, verlieh mir mein Gesicht. Jeder Satz, den sie gerne las, ließ mich interessanter und attraktiver werden und umgekehrt. An diesem Abschnitt des Spiels erschufen wir keine Spielfiguren mehr. Nein, wir erschufen uns gegenseitig.
Schließlich wurde ich ihr Traummann und sie meine Traumfrau.
Und so kam es dann auch bald zu unserem ersten Rendezvous. Wir haben uns für diesen Anlass einen wunderschönen Fluss an einem rauschenden Wasserfall ausgesucht und nahmen dann auch unser Angelzeug mit. Leider weiß ich nicht, wie der Fluss hieß, denn die Flüsse im Spiel haben keine Namen.
Wir haben ein Lagerfeuer gemacht und unterhielten uns zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht, ohne dass wir nebenbei was anderes taten. Ab und zu liefen zwar ein paar andere Spieler, die gerade in diesem Gebiet waren über uns hinweg, aber wir ließen uns davon nicht stören.
Es war traumhaft und der häusliche CD-Spieler sorgte zumindest auf meiner Seite für eine romantische Stimmung.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass sie sich endlos Zeit für ihre Antworten nahm. In gewisser Hinsicht fand ich das auch angenehm. Bisweilen dauerte es auch fast eine Minute oder länge, bis ich dann ein einfaches „Ja“ zu lesen bekam. Worüber sie wohl nachdachte...
Und hin und wieder musste ich solange warten, dass ich mich schon fragte, ob ich was Falsches geschrieben und sie vielleicht verletzt haben könnte.
Den wahren Grund habe ich aber dann herausgefunden, als sie auf meine Frage, wo sie denn in RL (Real Life) leben würde, ich den folgenden Text zu lesen bekam:
"Ja, das hat mir auch Spaß gemacht und wir sollten das auf jeden Fall wiederholen. Jetzt ist aber grad schlecht. Ich melde mich wieder", gefolgt von:
„uups“, gefolgt von:
„war gar nicht für dich, der Satz eben, sry.“
Da wusste ich, dass sie nebenbei wohl auch mit jemand anderem redete.
„Du Depp! Und du glaubtest, dass sie über deine lächerlichen Sätze nachdenken würde!“, hätte ich beinahe mir selbst geschrieben.
Irgendwie kratze das ziemlich an das Image meiner Einzigartigkeit.
Damit wurde aus unserem ersten Rendezvous auch direkt unsere erste Beziehungskrise.
Ich stand auf und lief davon. Ich hätte auch das Spiel beenden können, aber das wäre nicht theatralisch genug gewesen, und insgeheim wünschte ich, dass sie sich rechtfertigt.
Sie stand auf, tippte gleichzeitig "?!", und lief mir hinterher. Zumindest eine Weile, denn im Spiel laufen alle gleich schnell. Sie hat wohl eingesehen, dass sie mich auf diese Art wohl nie einholen würde. Also blieb sie stehen und fragte, was denn mit mir los sei.
„Gar nichts. Ich dachte, ich sollte dich bei deiner Plauderei lieber nicht stören!"
Heute bin ich nicht mehr sicher, ob ich ihr diese Taktlosigkeit auch dann verziehen, und sie eine Stunde später angeschrieben hätte, wenn sie nicht mit ihrer attraktiven Elfendruidin, sondern ihrer Zwergenkriegerin gekommen wäre.
Nach einigen Monaten und etliche Gesprächen mehr haben wir dann das erste Mal miteinander telefoniert. Sie war sehr neugierig und fand es "blöd", sich ewig zu schreiben. Am Ende nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, um jemanden anzurufen, mit dem ich seit vielen Monaten täglich Gespräche über Gott und die Welt führte, und zwar über alle Götter und alle Welten, die wir kannten.
Das Telefonat war befremdlich. Ihre Stimme klang irgendwie anders, als ich sie mir vorstellte. Sie war mir fremd.
Man hatte sich am Telefon plötzlich doch nicht viel zu sagen, und die Sätze, die heraus kamen, waren nicht wohl formuliert und klangen irgendwie dämlich.
Gerne hätte ich Ardwen vorgeschickt, aber hier hatte er nichts zu sagen. Auf eine Weise war ich auch froh, dass er nicht mitbekam, wie sein Schöpfer, der sonst so selbstsicher und überzeugend durch Rhetorik glänzte, dabei war, sich mit seiner lächerlichen Darbietung bis auf die Knochen zu blamieren. Selbst meine eigene Stimme kam mir fremd und unangenehm vor.
Im Spiel fühlte ich mich irgendwie verliebt und jetzt, wo wir miteinander sprachen, kam mir nichts mehr vertraut vor. Die wunderschöne Landschaft, die zauberhafte Musik im Hintergrund, die magische Atmosphäre, nichts davon war da. In wen hatte ich mich eigentlich verliebt. In sie oder in eine Elfendruidin aus Bits und Bytes?
Nach unserem kurzen Gespräch am Telefon, gestand sie mir, dass sie in einer Beziehung lebt. Innerlich fühlte ich mich erschüttert und zugleich erleichtert. Vermutlich würde ich nie die Person kennenlernen, in die ich wirklich verliebt war, weil sie ihre Welt wohl nie würde verlassen können.
Gestern Abend, nachdem ich ihr ungefähr 30 Mal einen schönen Urlaub gewünscht hatte, und kurz bevor sie das Spiel verließ, schrieb sie, dass sie mir eine Email und vielleicht ein paar Fotos aus Spanien schicken wird.
Ich bin sehr gespannt, wie sie aussieht.