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Verliebt, verlobt, verheiratet?
Ich sitze vor dem alten Fenster, wessen Fensterscheiben schmutzig und dem zerbrechen nahe sind. Habe es einen Spalt weit geöffnet, sodass mir kalter Frühlingswind durch die Haare weht. Die Sonne scheint, die Spatzen zwitschern und fliegen fröhlich hintereinander her, bunte Blätter tanzen im Wind, fallen von der grossen Buche, die seit vielen Jahren neben dem alten Mietshaus steht. Ein junges Ehepaar geht an den Wohnblöcken vorbei, sie haben meinen Blick auf sich gezogen. Sie sehen so glücklich aus, verliebt.
Ich erinnere mich wieder an diesen schrecklichen Tag, ich kam gerade von den Ferien mit meiner Freundin aus Italien zurück. Ich war guter Laune. Die Nachricht kam so plötzlich, ich war nicht darauf vorbereitet. Dachte zuerst ich träume, doch vielleicht wollte ich es auch einfach nicht wahr haben, wollte es nicht respektieren. Doch ich konnte daran nichts ändern, sie haben es beschlossen und wenn Eltern etwas entscheiden, dann ist es so.
Ich musste mit der neuen Situation umgehen, musste damit leben, dass wir keine ganze Familie mehr waren, dass immer jemand fehlen wird. Ich wollte nie über meine Gefühle sprechen. Gegen aussen war ich immer die Fröhliche, die sich nichts anmerken liess, doch im Innern war ich traurig, wollte das alles nur ein böser Traum war, dass ich endlich aufwache und alles wieder so war wie früher.
Es war wieder einmal ein Freitag, müde kam ich von der Schule nach Hause, packte meine Sachen und machte mich auf den Weg. Ich bog in die Strasse ein, trottete durch den Laubhaufen, der vor dem Hauseingang lag. Ich öffnete die Tür und stand in dem kalten, kahlen Treppenhaus.
Schon so oft war ich als kleines Kind in diesem Treppenhaus gestanden. Im Winter ging ich mit kurzen Schritten die lange Treppe hinauf, nahm einen Tritt nach dem anderen. Oben angekommen stampfte ich meine Winterschuhe aus, so dass eine kleine Wasserlache übrigblieb. Früher war es für mich nichts besonderes, es war nur ein Weg, um in die warme Wohnung zu kommen. Später, als ich dann zur Schule ging, rannte ich die Treppe mit grossen Sprüngen hinunter, um ja nicht zu spät zu kommen. Mit knurrendem Magen und überladenem Schulranzen konnte ich dann die Stufen nur mit grosser Mühe überwältigen.
Doch heute ist es für mich eine Qual, in diesem Treppenhaus zu stehen. Ich stehe hier und habe lauter Erinnerungen an die Zeit, in der das Leben noch schöner war. Ich werde von den grauen Wänden erdrückt, die Luft bleibt mir für einen Moment lang weg und ein lautes Schluchzen ist alles, was ich noch hervorbringe. Und auch heute gehe ich wieder die Treppe hinauf, mit jedem Schritt werden neue Erinnerungen hervorgerufen. Völlig zerstört und in Tränen ausgebrochen stehe ich nun vor der Türe.
Die letzten Tränen werden noch verwischt und dann wage ich ihn, den Schritt in eine Welt, in der ich als glücklich empfunden werde.
Als dann beim Abendessen die ganze “Familie“ beisammen sass, wurde mir plötzlich bewusst, dass mein Vater die Kinder seiner Freundin in sein Herz geschlossen hat. Neid, Trauer, Wut, meine Gefühle spielen verrückt. Er könnte sie mehr mögen als mich, er liebt mich nicht mehr, ich bin ihm nicht mehr wichtig, ich bedeute ihm nichts mehr, er will mich nicht! Als mir plötzlich eine Träne über die Backen kullert, schiebe ich meinen Stuhl mit einem dumpfen Quietschen nach hinten, mache einen Satz, der Stuhl fällt, ein lauter Knall, noch ein Knall und ich liege mit dem Kopf in meine Kissen in meinem Bett und kann die Tränen nicht mehr zurück halten.
Ich merke wie die Türklinke hinuntergedrückt wird, Schritte auf mich zu kommen, wie sich die Matratze leicht wölbt, als sich jemand neben mich hinsetzt.
„Geh weg! Lass mich in Ruhe, ich will nicht mit dir Sprechen, ich will jetzt alleine sein, du verstehst mich nicht, du hast keine Ahnung wie es mir geht, lass mich!“ – „Ich möchte doch...“ –„Nein!!!“
Ein Seufzer war zu hören, die Matzratze wölbt sich wieder in ihre Ursprungsposition zurück und die Schritte werden immer leiser.
Die letzte Haarsträne wird noch zurechtgerückt, der Blumenstrauss wird mir in die Hand gedrückt, das Kleid zurecht gezupft, mein Vater wartet bereits vor der Türe, die Glocken läuten, meine Verwandten sind gespannt, die Orgel ertönt, alles ist bereit. Doch bin auch ich es? Will ich das wirklich? Mein Vater winkt mir aufgeregt zu, meine Beine zittern, vorsichtig mache ich einen Schritt nach dem anderen. Kralle mich am Arm meines Vaters fest und atme noch einmal tief durch.
Die Kirchentür wird geöffnet und ich sehe vor mir am Altar meinen Verlobten. Das Publikum schaut mich mit prüfenden Blicken an. Das Orgelspiel ertönt ein zweites Mal.
In meinem Kopf herrscht ein Gefühlschaos. Zum einen ist es die Aufregung und die grosse Freude. Doch zum anderen ist da die Angst vor dem Ungewissen. Kann ich das Versprechen wirklich halten? Werde ich für immer mit ihm zusammen bleiben? Oder muss ich meine Kinder auch so enttäuschen? Sie würden so fühlen wie ich, müssten von ihren Eltern, von mir enttäuscht sein, müssten sich auch für jemanden entscheiden, auch wenn sie das gar nicht wollen, sie müssten mit der Situation umgehen können ob es ihnen nun gefällt oder nicht. Will ich meinen Kindern so etwas antun? Auch ich müsste noch einmal eine Enttäuschung erleben.
Mit wackeligen Beinen und unsicherem Gewissen lief ich langsam den Kirchengang entlang, bis ich bei meinem Verlobten vor dem Altar stand.
Dann kam die alles entscheidende Frage. Kann ich sie mit „Ja, ich will!“ beantworten?