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Verloren In Der Demenz
Früher, als meine Mutter noch eine rüstige Rentnerin war, entdeckte sie auf einmal ihre liebe zur Kirche. Jeden Sonntag, ganz gleich ob es regnete, schneite oder die Sonne vom Himmel brannte, ging Mama in die Kirche.
Jetzt hat sie sich verloren, verloren in der Demenz.
Ich selber bin seit geraumer Zeit in der Altenpflege beschäftigt.
Trotzdem war ich, gerade in der Anfangszeit der Pflege meiner Mutter, für jeden Rat, den ich bekommen konnte dankbar.
Ich las jedes Buch, welches mir in die Hände fiel, um so viel wie möglich über diese Krankheit zu erfahren. In einem dieser Bücher las ich, dass es für die Betroffenen hilfreich sein könnte, wenn man mit ihnen Orte aufsuche, welche sie in der Zeit, zu der sie sich noch nicht im großen Vergessen verloren hatten, gerne aufgesuchten.
An diesen Orten können noch einmal Erinnerungen wach werden und man könne, wenn man Glück hatte ein Lächeln auf ihre dementen Gesichter zaubern.
Natürlich stand es nicht so in diesem Buch. Es stand in Fachchinesisch, mit Schachtelsätzen gespickt, auf einer Seite, welche ich vielleicht besser hätte überblättern sollen.
Da ich eben diese besagte Stelle nicht überlas und mir dachte, ich könnte den Rat eines Fachmannes, der Verfasser dieses Buches war ein Dr. Dr. Prof. Sowieso, guten Gewissens annehmen, verfrachtete ich meine Mutter an einem wunderschönen Sonntagvormittag in meine knallig rote 2CV und fuhr mit ihr zur Kirche.
Ich wohne mit meiner Mutter in einer kleinen Stadt mitten in Bayern.
Da mich in dieser Stadt mittlerweile fast jeder, wenn auch nicht mit Namen, kennt, war ich so frei und platzierte mein Auto schräg auf dem Marktplatz, nur ein paar Schritte von der Kirche entfernt.
Auffällig legte ich das Behindertenschild hinter die Windschutzscheibe.
Liebevoll versuchte ich meine Mutter vom Aussteigen zu überzeugen.
Meine Mutter krallte sich an der B-Säule fest.
„Verdammt noch mal Mutti, wir gehen nicht die Verwandtschaft besuchen, wir gehen in die Kirche“, maulte ich sie an.
Schließlich ließ sie das Auto los und ich zog sie, betend und heulend, hinter mir her in Richtung Kirche.
Immer wieder trafen mich von Menschen, welche ebenfalls die Kirche besuchen wollten missmutige Blicke. Ungerührt zog ich meine Mutter weiter.
Wir gelangten schließlich vor der Kirche an.
Mama weigerte sich die Stufen der Kirche zu betreten.
Kurzerhand stellte ich mich hinter sie und schob sie, in einem unachtsamen Augenblick, die Stufen nach oben.
Wir erreichten das Portal.
Mit meinem ganzen Gewicht stemmte ich mich gegen die Türe, die Türe schwang langsam auf und gab einen Blick ins innere der Kirche frei.
Plötzlich war Mama ruhig.
Ihre Augen begannen zu leuchten.
„Das ist aber schön hier“, sagte sie und strahlte mich an.
Diese fünf Worte entschädigten mich Augenblicklich für den Spießrutenlauf der letzten zehn Minuten.
In diesem Moment war Mama glücklich und ich war es auch.
Ich schob Mama in die hinterste Reihe. Dort setzte sie sich auf die Bank.
Immer wieder stand sie auf.
Ich zog sie am Ärmel zurück und bat sie darum, doch sitzen zu bleiben.
Der Pfarrer begann mit der Predigt.
Mama war ruhig.
Die Predigt ging zu Ende.
Andächtiges Schweigen.
Plötzlich begann Mama in dieses Schweigen hinein zu beten.
Köpfe wendeten sich, Blicke durchbohrten uns.
„Ach du lieber Gott im Himmel“, betete Mama.
Am liebsten hätte ich ihr den Mund zugehalten.
„Mama, bitte“, flehte ich.
Mein flehen beeindruckt sie herzlich wenig.
„Schenk mir kleines Mensch mit Pimmel“, betete sie unbeirrt weiter.
Immer mehr Leute drehten ihre Köpfe um und schauten zu uns nach hinten.
Um Schlimmeres zu vermeiden versuchte ich die alte Dame zum Aufstehen zu bewegen.
Es war fast unmöglich, denn Mama schien in diesem Moment auf der Kirchenbank fest zu kleben.
Mittlerweile hatte ich das Gefühl, dass mich jeder hier in der Kirche anstarrte. Am liebsten hätte ich mich unter der Kirchenbank versteckt und gewartet bis es dunkel wurde, damit ich unbemerkt zu meinem Auto schleichen konnte um mich danach ins Ausland abzusetzen.
In diesem Moment schätze ich, erbarmte sich Gott meiner, denn Mama stand auf. Ich zog sie am Ärmel hinter mir her.
Hoffentlich hält sie jetzt den Mund.
Die Türe rückte immer näher.
Gleich waren wir draußen.
Ich griff nach dem Türgriff.
Ich öffnete die Türe.
„Doch ich seh es schon im Traume“, mir gefror das Blut in den Adern und ich versuchte sie aus der Türe zu schieben.
„Wird sich wieder Mensch mit Pflaume!“ schrie sie förmlich in die ruhige Kirche hinein.
Ich schob sie nach draußen und versuchte sie so schnell wie möglich über den Marktplatz in Richtung Auto zu lotsen.
Nachdem ich meine Mutter in die Ente gesetzt hatte atmete ich fürs erste erleichtert auf.
Es war ein herrlich sonniger Tag.
Um mich von dem Vorfall in der Kirche zu erholen beschloss ich zum Eisessen zu fahren.
Eine gute Idee.
Nur hier in Burglengenfeld brauchte ich mich nach dem Auftritt in der Kirche heute wohl in keinem Straßenkaffee blicken lassen.
Somit entschloss ich mich, ganz anonym, nach Regensburg zu schüsseln.
Es ist nicht so, dass eine offene Ente mit Rollstuhl in Regensburg nicht auffällt, aber wesentlich weniger als in Burglengenfeld. Außerdem war ich nicht in Regensburg in der Kirche.
Also tuckerte ich durchs Regental nach Regensburg. Mama saß zufrieden neben mir.
Hin und wieder griff sie ins Lenkrad.
„Mama, würdest bitte deine Hände bei dir lassen? Ich wollte eigentlich alleine fahren“. Unbeeindruckt schaute sie mich an und griff erneut zu.
Ich hielt bei nächster Gelegenheit an, sortierte ihre Finger aus meinem Lenkrad und erklärte ihr mit Nachdruck, dass sie entweder neben mir sitzen kann und sich die Landschaft anschauen, oder zuhause und die Wände betrachten.
Irgendwie kamen wir beide, ich völlig entnervt und Mama grinsend, in Regensburg an.
Ich hatte heute nicht mehr die geringste Lust meiner Mutter aus dem Auto zu helfen und sie in den Rollstuhl zu verfrachten, nur damit ich sie durch die Stadt schieben konnte. Mein Entschluss stand fest. Ich werde mir ganz geschwind in dem Eiskaffee gegenüber vom Dom ein Eis in der Waffel holen.
Wie schon gesagt, es war ein wunderschöner sonniger Tag.
In Regensburg angekommen parkte ich mein offenes Auto, mit samt meiner Mutter direkt vor dem Dom, frech im Parkverbot.
Mit Behindertenausweis darf man im Parkverbot parken, sogar eine 2CV.
Damit keine Missverständnisse auftauchten, legte ich auch hier wieder brav den Behindertenausweis hinter die Windschutzscheibe.
Ich ließ Mama im Auto sitzen, da ich nur kurz über die Straße gehen musste um mir ein Eis zu ergattern.
Leider hatte ich nicht mehr daran gedacht, dass Mama teilweise den Drang hatte sich immer und überall auszuziehen.
Peinlich.
Ich hatte nach dem Desaster in der Kirche nicht erwartet, dass sich der Tag noch steigern konnte.
Der Tag konnte sich noch steigern!
„Mama, möchtest du auch ein Eis?“ Ich sah sie an.
Meine Mutter schraubte unbeirrt den Knauf von der Schaltung ab und ignorierte mich und meine Frage.
„Mama, soll ich dir vielleicht auch ein Eis mitbringen?“
Jetzt schaute mich meine Mutter an als wäre ich irgendein fremdes Wesen aus dem All, schüttelte genervt den Kopf und widmete sich weiter dem Knauf auf der Schaltung.
„Gut, dann hole ich nur ein Eis für mich!“ entgegnete ich, stieg aus und ließ die Türe hinter mir zufallen.
Mama blickte kurz auf. Nur ein kurzer Blick, dann versank sie wieder in ihre eigene Welt.
Vor der Eisdiele hatte sich auf Grund des schönen Wetters schon eine beträchtliche Schlange gebildet. Ich reihte mich ein und wartete geduldig bis ich dran war.
Ich kaufte mir zwei Kugeln Malaga und für Mama eine Kugel Vanilleeis.
Mit meinem Eis in der Hand verließ ich die Eisdiele.
An einem sonnigen Sonntag stand ich, mit zwei Eistüten in der Hand, vor der Eisdiele gegenüber des Regensburger Doms und schaute über die Straße.
Nein, das kann nicht sein?
Vor schreck fielen mir die beiden Eistüten aus der Hand und landeten mit einem Platsch auf dem Gehweg.
Das ist nicht mein Auto!
Und was ich hier sehe ist auch nicht wahr!
Mit offenem Mund stand ich, unfähig mich zu bewegen, da und starrte zu meinem Auto herüber.
Meine Mutter hatte sich tatsächlich ausgezogen.
Mama saß oben völlig entkleidet im offenen Auto.
Nicht nur, dass sie sich ausgezogen hatte, sie hatte auch noch mit ihren Klamotten das Auto dekoriert.
Ihre Oberbekleidung hing über der Windschutzscheibe, der BH lag auf der Motorhaube, die Socken waren im Lenkrat verknotet und die Schuhe lagen lässig neben dem Auto.
Oh lieber Gott, schenke mir doch bitte ein Loch, in welchem ich versinken kann.
Leider war der liebe Gott an diesem Tag, ausgerechnet auf diesem Ohr, schrecklich taub, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich als Fahrerin dieses Autos zu outen.
Einige Passanten standen schon schmunzelnd in der Nähe meines nicht gerade unauffälligen Vehikels.
Und das an einem Sonntag in Regensburg vor dem Dom.
Na Bravo!!!
Also gut, dachte ich mir.
Augen zu und durch, bevor sich Mama noch weiter auszieht.
Ich holte tief Luft, und ging gerade so, als wäre es das normalste der Welt, zu meiner 2 CV.
Sammelte neben dem Auto die Schuhe ein, befreite die Socken aus dem Lenkrad und zog lässig Mamas Obergewand von der Windschutzscheibe.
Ohne Mama vor zu warnen zog ich sie an.
Besser gesagt ich versuchte sie an zu ziehen.
Es hatten sich mittlerweile noch ein paar Passanten zu den bereits herumstehenden gesellt und betrachteten, nicht ohne dümmliche Kommentare, dieses seltsame Schauspiel.
Ich versuchte es zu ignorieren, und tat so, als wäre es das normalste der Welt, dass sich eine alte Dame in einer roten Ente entkleidet und ihre Klamotten futuristisch in der Gegend verteilt.
Mama war angezogen.
Bitte lieber Gott, wenn du mir schon kein Loch zum versinken gegeben hast, so lass doch bitte wenigstens mein Auto beim ersten Mal anspringen.
Gott ist nicht immer taub.
Der erste zaghafte Versuch mein Auto zu starten.
Und!
Sofort ist das Auto angesprungen.
Erleichtert verschwand ich, allerdings nicht ohne zu hupen und den Umstehenden kurz zuzuwinken.
Einige hatten zurück gewunken und herzlich gelacht, andere wiederum drehten sich peinlich berührt zur Seite.
Ich selber machte mich schnellst möglich aus dem Staub.
Zu meinem Leidwesen hatte ich vergessen Mamas Halter ihrer Büste von der Motorhaube zu angeln.
Um eventuell auftauchende Fragen zu beantworten: Ich habe nicht mehr angehalten und ich habe den BH nicht eingesammelt.
Ich habe mich wirklich nur noch verkrümelt.