Verloren ist das kleine Mädchen auf dem Hochhausbalkon.
Verloren ist das kleine Mädchen auf dem Hochhausbalkon. Leise singt es die erste Strophe eines englischen Liedes –lalala – und trinkt warmen Pfefferminztee. Es ist dunkel und in der Platte gegenüber schillern die Lichter in vielen kleinen Fenstern. Gemütlich und kalt. Es zündet sich eine graue Zigarette an und raucht, obwohl es nicht rauchen sollte. Es raucht um ein kleines Mädchen zu sein, weniger verloren.
Sie heißt Nina. Immer wieder und zu oft ist es schief gelaufen. Robert ist lange her und immer noch präsent. Wie ein Präsent ist er gekommen und dann kaputt gegangen. Man sollte nicht an Dingen festhalten, denn sie gehen kaputt. Menschen auch. Der Vater und die Mutter sind ebenfalls kaputt gegangen. Erst der Vater, dann die Mutter. Sie starrt in die Lichter, kneift die Augen zusammen und versucht das Vergangene zu rekonstruieren.
Die Farben verschwimmen, das ist schön, sie fühlt sich entspannt. Schwach und ohne Verantwortung, sie schwebt. Jan hat sie aufgehoben, ganz zart, ihr Arm um seine Schulter. Er trägt sie über die Schwelle seiner Wohnungstür in die frische Morgenluft, in sein Auto, legt sie vorsichtig auf den Rücksitz und steigt vorne ein.
Höchste Zeit, sie nach Hause zu fahren. Er keine Lust mehr auf ihr Theater. Macht sich keine Sorgen; weiß, dass sie auch diesmal das Koks verträgt. Er will ihre Kopfschmerzen nicht, ihren Kater, ihr Selbstmitleid. Warum auch, es betrifft ihn nicht. Sie kennen sich doch fast gar nicht. Diesen Sonntag will er lieber joggen und vielleicht im Sonnenschein Brunchen. Abends dann Fußball gucken mit dem besten Freund. Im Wetterbericht wurden die ersten Frühlingstage vorhergesagt. Er ist groß, ziemlich attraktiv, mit dunkelbraunen vollen Haaren und blauen Augen, einem intensivem Blick. Er war schon in der Schule ein Gewinnertyp, der es geschafft hat hübsche Mädchen von seinen guten Noten abzulenken. Jetzt studiert er Medizin. Er hat Nina gar nicht nötig und hofft, dass ihn niemand sieht, wie er sie nachts aus seiner Wohnung trägt. Dass sie ihm anstrengend wird, hat sich schon am Anfang abgezeichnet. Er mag keine anstrengenden Menschen, auch wenn sie oft eine lustige Spielkameradin war, jung und schön. Er hasst ihre Wohngegend und ist froh, als er sie vor ihrer Platte absetzt.
Sie steht auf, noch schwankend. Im Spiegel sieht sie, dass ihre Lippe eingerissen ist und noch rot blutet, ihre Augen dunkel vom verwischten Make-up. So, stellt sie sich vor, sehen hübsche Nutten aus, wenn sie morgens aufstehen um ihre erste Zigarette auf dem Balkon zu rauchen. Wenn sie noch nur für sich sind, bevor sie sich frisch machen um auf den ersten Anruf von einem Freier warten. Es ist nicht mehr morgens. Es ist dunkel und kalt. Sie macht sich einen Pfefferminztee bevor sie auf den Balkon geht um zu rauchen.