Verlorene Erkenntnis
Wir stehen uns gegenüber. Es ist das erste Mal und es ist ein verregneter Tag.
Der Dunstschleier an dem wolkenverhangenen Himmel über München passt zu der Melancholie, die ich mit dir verbinde. Die traurige Unergründlichkeit deiner Augen, die mich vom ersten Augenblick an gefesselt hat und mein Herz in einen grauen Schleier hüllte, der mir trotz oder gerade wegen seiner mystischen Dunkelheit mehr Geborgenheit denn je in diesem irdischen Leben verlieh. Als ich aus der Bahn stieg, hilflos suchend, schweifte mein Blick über Ansammlungen von Menschen. Es war ein heftiges Treiben am Bahnhof und ein lautes Stimmengewirr lag in der Luft. Alles schien hoffnungslos, dich je hier zu entdecken, hatte ich fast aufgegeben. Doch ich erinnerte mich an deine Worte. Du hast mir immer gesagt, dass deine Seele zu mir kommt, wenn ich dich brauche und darauf vertraute ich in diesem Moment.
Regentropfen peitschten in mein Gesicht und der Wind ließ mich die Kälte auf dem zugigen Bahnsteig besonders intensiv spüren. Ich blickte wieder auf. Auf die Menschen hier musste ich einen befremdlichen Eindruck machen, wie ein kleines Kind, dass seine Mutter verloren hatte und völlig überfordert einfach verharrte. In der kindlichen Hoffnung, ein Wunder möge geschehen.
Plötzlich spürte ich einen Windstoß. Die Menschen flüchteten, als ob es eisig kalt wäre. Doch mich überflutete just in besagtem Moment eine unsagbare Wärme, gefolgt von einem Kribbeln, das jeden Nerv unter meiner Haut zu kitzeln schien. Ich wusste, dass du es bist. Du warst da, ich war in deinen Händen. Ich wendete mich um und sah in einiger Entfernung direkt in deine leuchtenden grünen Augen. Sie blickten mich mit einer solchen Tiefe an, dass mich ein schauderndes Glücksgefühl durchfuhr. So musste es Menschen ergehen, die Engel sahen.
Wie in einem Traum schritt ich benommen auf dich zu. Du lächelst. Weißt du, dass du noch viel schöner bist, als ich es mir je in meiner Phantasie hätte ausmalen können? Das Weiß deiner Haut hatte etwas von zerbrechlichem Porzellan, deine dunklen Haare umspielten die zarten Züge deines sanften, rätselhaft schönen Gesichts. Ich war wie betäubt, als ich vor dir stand. Monate hatte ich auf diesen Moment gewartet, mir ausgemalt was ich tun und sagen würde und nun war ich zu betäubt, um zu agieren. Doch du kennst mich, du kennst meine Seele und nimmst meine Hand. „Pssst…“, höre ich dich flüstern, als du mich vom Bahnsteig nach unten führst. Mein Blick war mittlerweile nach vorne gerichtet, doch ich spürte das Lächeln, als du zu mir sprachst.
Hatte ich nicht schon oft gelesen, dass wir auch auf Erden das Paradies finden können, wenn wir die Augen öffnen? Nie habe ich daran geglaubt, doch es war der Moment der Erkenntnis, dass es die Pupillen der Seele waren, die sehen mussten. Das Herz war die Netzhaut, auf der das Bild auftraf. Die Liebe schärft lediglich das Bewusstsein und die Erkenntnis dieser unbeschreiblichen Schönheit. Sie ist unsere „Sehhilfe“. In Worte kann ich es dennoch nicht fassen. Sie sind zu irdisch für diesen inneren Sog, der mich in diesem Moment für alle Schmerzen entschädigte, die ich bisher meinte, in meinem Leben erlitten zu haben.
Sie erschienen mir so nichtig. Ich war zuhause. Ich war bei dir. Bei meiner verloren geglaubten Seele, die du mit mir gesucht und geholfen hast, wiederzufinden. Ich weiß, dass im Leben nichts sicher ist – solange wir mit den Augen eines Menschen schauen – doch schauen wir mit den Augen unseres Innersten, tauft es uns mit Weisheit und gibt uns die Chance zu erkennen.
Uns.
Ich liebe Dich.