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- 13.10.2005
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Verlorene Kindheit
Es gibt einen Fleck in Deutschland, der ist so ganz anders als der Rest.
Ruhige Seen, weite Felder und Wälder, einsame Gebiete ohne Menschen sind hier zu finden.
Im Norden erstreckt sich die Küste zur Ostsee und im Innland eine große eiszeitliche Seenplatte. Mecklenburg.
Das Land zwischen Ostsee und Prignitz ist heute noch eine verhältnismäßig schwach besiedelte Region. Nicht mehr als eine Million Menschen leben auf einer Fläche dreizig Mal so groß wie die Stadt Berlin. Kleine Städte mit altgothischen Kirchen und versteckte Dörfer zwischen einer zum Teil noch unberührten Natur zeichnen dieses Land aus - mein Heimatland. In Mecklenburg kommt alles fünfzig Jahre später, und sollte die Welt untergehen so ginge sie in Mecklenburg auch erst fünfzig Jahre später unter. So sagte es der letzte deutsche Kaiser.
Als ich ein Kind war, lebte ich in Mecklenburg. Es war eine schöne Kindheit, geprägt von Natur, Abenteuerlust und Freiheit.
Ich war ein begeisterter Angler. So lief ich oft, die Angel in der Hand, zum nächsten See und blickte den tieffliegenden Sommerwolken hinterher.
Ich lag am Ufer, hörte wie der Wind das Schilf bog und die Amsel ihr Lied pfiff.
Es war ruhig und einsam, aber ich liebte diese Einsamkeit und konnte mir nichts besseres vorstellen, als mit einer Angel an der Schilfkante zu sitzen und dem schwankenden Flott zuzusehen in der Hoffnung eine Plötze oder ein Brachsen würde beißen.
So saß ich oft tagelang am See und verbrachte die Zeit meiner Ferien am Wasser. Es war interessant die Tiere und alles Keuchende und Fleuchende zu beobachten. Prachtvolle Libellen, tieffliegende Schwalben auf der Jagt nach Insekten, Blesshühner und Haubentaucher. Wenn man an einer baumgeschützten Stelle ins Wasser blickte, dort wo die Wurzeln einer Esche und kühles nährstoffarmes Wasser das Schilf verdrägt hatten, dann konnte man die Unterwasserwelt beobachten, Krebse und Blutegel, kleine Barsche die nach Larven suchten. Desweilen sah man einen lauernden Aal im Uferwasser. An heissen Sommertagen saß ich dann auf einem Baumfortsatz und kühlte meine Füße, verloren mit meinen Blicken im silbern glitzernden Wasser des Sees.
Wenn mir die Zeit am See zu lang wurde, dann wanderte ich oft mit Freunden über das Land und durch die Wälder. Meist hatten wir dafür einen Vorratsbeutel gepackt, den uns unsere Eltern am morgen gaben und sie wußten, daß wir erst am späten Abend wieder kommen würden. Ich erinnere mich, daß ich einen guten Freund hatte und das wir zusammen so manche Gegend erkundeten. Dann kamen wir auf die Idee Höhlen zu bauen und Banden zu gründen, die sich gegenseitig bekriegten.
Nicht weit von unserem Dorf entfernt war eine alte Maierei, längst zerfallen und zugewachsen. Sie beherbergte allerlei Feldsteine, mit denen sich Befestigungen bauen ließen. Auf einem Acker erkohren wir einen Hain bestehend aus drei oder vier hohen Linden zu unserem Bauplatz. Am Morgen schleppten wir die schweren Steine ins Gebiet und dann bauten wir unsere Befestigungen. Wir hatten sogar einen Opferstein. Das Wasser eines nahen Baches wurde gestaut, um eine Art Brunnen zu errichten. Im Vorbau unserer Befestigungen legten wir einen kleinen Garten an und sähten allerlei Kraut.
Während des Sommers wurde uns bewußt wie günstig unsere Befestigung lag, da wir durch ein mannhohes Rapsfeld abgeschnitten waren und nur durch Geheimgänge zu unserer Festung gelangten. Für Zerstörer, die wir viele kannten, war es sehr schwer uns zu erreichen. Die narkotisierende Wirkung des Rapses machte eine Durchquerung des Feldes fast unmöglich.
Technologie war für uns Kinder kein Thema. Wir hatten keine Handys, Walkmans und Computerspiele, keine Videorecorder und Fernbedienungen, auch keine Sportschuhe nach denen wir gieren konnten, keine Mode-Trends die wir mitmachen durften.
Wir hatten unsere Ruhe, unsere Luft zum atmen, unsere Äcker, Seen und Wälder unsere Einsamkeit und unsere Freiheit.
Mehr brauchten wir nicht.