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Verlorene Kritik
Verlorene Kritik
Es war wieder einer dieser trostlosen Abende und ich saß wie angenagelt vor dem Bildschirm. Mein Rücken lag vorgebeugt und meine Brille befand sich derzeit etwa 25cm von der Scheibe entfernt. Alles andere um mich herum wurde als unwichtig deklariert, denn ich hatte nur noch Augen für die Rx/Tx-LED (Übertragungssignal) meines Modems und jene Internetseite.
"Heute muss es doch endlich soweit sein" dachte ich mir und durchstöbere die Kategorie Gesellschaft und fand schliesslich eine schlicht betitelte Geschichte, die ich mir vornahm. Um so mehr erfreute es mich jedoch, als ich bemerkte, dass diese Story jemand geschrieben hatte, der wesentlich erfahrener auf dieser Internetseite war als ich. Nun konnte ich zeigen, dass ich mehr als ein Nichts war.
Schon war ich im Geschehen der Geschichte, die mich eigentlich nicht sonderlich begeisterte. Kein Problem, das könne ich für meine Kritik verwenden und auch die stilistischen Dinge, die mir beim zweiten durchlesen auffielen waren zu gebrauchen. Nun kam aber das was kommen musste, es hatten sich schon ein paar andere Klugscheisser über die Geschichte her gemacht. Sofort las ich eifrig auch deren Kritiken sorgfältig durch und dachte mir dabei, dass die Leute sich ihre banalen Kommentare auch hätten sparen können. Nachdem ich also kurz lamentiert hatte wollte ich mein Glück versuchen und klickte auf "Kritik". Jetzt schweifte mein Blick kurz zum Modem rüber, das mir freundlich zurück blinzelte. Flup... nun sah ich das genauso banale Eingabefenster vor mir auf dem Bildschirm. Ich überflog in Gedanken nochmals die Geschichte und überlegte, wie ich beginnen sollte. Es war unglaublich, wie die Gedanken aus mir heraus, über die Tastatur, auf den Bildschirm gelangten. Mir vielen dabei sogar sehr einfallsreiche und zu meinem erstaunen auch grammatikalisch korrekte Sätze ein. Ein paar mal hatte ich schnell mein Fremdwörterbuch aufgeschlagen und mir dementsprechende synonyme Wörter herausgesucht, um meine Kritik nicht fade und trocken wirken zu lassen. Ja, ich war sehr bemüht, bei meinen Kritiken auch etwas dazuzulernen und sei es nur die Erweiterung meines Wortschatzes wegen. Manchmal dachte ich mir, was wohl in den Menschen vorgeht, die hier hundertfache Kritiken schreiben. "Blicken die da noch durch?" Irgendwie bekam ich nun wieder meine Komplexe, dass ich noch nicht viel erreicht hätte und ein Nichts sei. Alle Hoffnung setzte ich also in diese relativ kurze Kritik, denn einige andere waren weitaus ausführlicher gestaltet. Ich zog nach etwa 40 Zeilen, sehr durchdachter konstruktiver Kritik, ein kurzes Resümee mit einer klaren Aussage über die Wirkung der Geschichte. So etwas war mir eigentlich sehr wichtig, denn jede Geschichte und geschriebene Kritik veränderte mich. Nachdem ich hier und da ein paar Rechtschreibfehler ausgemerzt und zumindest eine ironische Bemerkung eingebaut hatte, richtete sich mein Blick zur Abwechslung mal auf meine Armbanduhr. Ich stellte etwas entsetzt fest, dass ich eine volle Stunde mit der Kritik beschäftigt war und den Anfang meiner Lieblingssendung verpasst hatte. "Schnell also" dachte ich mir und klickte auf "Antwort erstellen".
Aber was war dann los? Ich sah mit bedrückten Augen auf die, in diesem Augenblick wichtigsten, Dinge vor mir. Die Bestätigungsseite schien sich nicht richtig aufzubauen und mein Modem blinkte nicht so wie sonst. Dann hing meine Brille etwa 5cm vom Bildschirm entfernt und meine Augen richteten sich auf den blauen Ladebalken am unteren Bildschirmrand. Ich schaute auf das Modem und klatsche erregt in die Hände, dabei rief ich "Los Los Los, Seh zu!". Es tat sich gar nichts mehr. Geistesgegenwärtig klickte ich auf den "Zurück" Button, um es nochmals mit dem Absenden zu versuchen. In jenem Augenblick wurde auch prompt die Seite mit dem Eingabefenster angezeigt....
Meine Kinnlade schien auf den Boden zu fallen als ich das Entsetzliche sah, eben das da Nichts, aber auch gar Nichts mehr von meiner geschriebenen Kritik zu sehen war. Ich klickte wild auf "Vor" und "Zurück", aber es war immer das gleiche Bild. Schreiend riss ich die Tür auf und rannte die Treppe hinunter. "Das kann nicht sein, NEIN, nicht dieses mal! Willst du mich verarschen oder was? Das gibt es doch nicht ...." Als ich dann die Treppe zwei, drei mal vor Wut hinauf und hinab gerannt war sank ich mit heiserer Stimme auf dem Sofa zusammen.
"Ausgerechnet Heute, ausgerechnet diese Kritik. Dabei speichere ich sonst immer meine Beiträge vor dem Absenden in der Zwischenablage. Nein, so grausam kann es das Schicksal doch nicht mit mir meinen." Nach etwa einer Minute sinnlosem herum jammern, kamen dann meine Gedanken zu mir durch. "Könnte ich nicht einfach eine neue Kritik schreiben? Ich weis ja schliesslich was ich geschrieben habe." Als ich mich dann hoffnungsvoll an die Tastatur setzte und ein paar dürftige Sätze zustande brachte, da wurde mir bewusst was ich verloren hatte. Es war eine, aus meiner Sicht, perfekte Kritik gewesen. Aussagestark und pointiert, formal, durchschaubar und angereichert mit etwas Ironie. Ja, ich hatte den Nachweis an meine Existenz verloren und es würde mir nicht gelingen dies zu rekonstruieren. Ich hatte beim Schreiben immer neue Gedanken gefunden und dazu gelernt. Wenn ich also versuchen würde etwas zu schreiben, dann wären das nicht die Gedanken, die ich beim letzten mal gehabt hatte. Beim letzten Mal, wo mir die Geschichte auf irgendeine Art merkwürdig erschien. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, denn in dem Augenblick, indem ich schrieb, war es mir völlig gleichgültig, was für Auswirkungen und Gedankengänge das Schreiben einer Kritik auf mich hatte. Mir war nur die Wirkung wichtig, die diese Kritik bei den anderen auslösen würde. Vielleicht Anerkennung und damit dann auch nicht mehr das Gefühl zu haben, ein Nichts zu sein. Bei diesen Gedanken, in jenem Moment, wäre selbst eine neue Kritik kein Trost für meine Gemütslage gewesen. Schliesslich war dann auch meine Lieblingssendung vorbei, aber das hatte ich gar nicht mehr registriert.
"Nein, so grausam kann es das Schicksal doch nicht mit mir meinen." So kam dann auch prompt der Philosoph in mir zum Vorschein: >>Nutze deine Niederlagen, um Kraft für die Siege zu schöpfen.<<
Das habe ich dann auch getan, wie Sie jetzt unschwer erkennen können. Ich habe nämlich seit langer Zeit ein neues Thema für eine Kurzgeschichte gesucht. Dieses Ereignis, das mir leider widerfahren ist, erschien mir als ein ganz besonderes Thema dafür. Trotz Allem, lege ich an dieser Stelle eine Trauersekunde ein, für die Gedanken, die wir meist unbemerkt hinter uns lassen und die für alle Zeit verloren sind.