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Verlorene Unschuld
Verlorene Unschuld.
oder
Die verlorene Unschuld einer einst so schönen, doch heute schon so fernen Zeit.
Der Kopf dröhnte. Im Bauch ein wild Rumoren. Dort bekämpften sich gerade fünf Halbe Bier, dann sechs Liter Weißwein gespritzt, zwölf Tequila und mindestens zehn Bacardi-Cola mit einer ziemlich aufgebrachten Magensäure. Herr Schluckauf und ein gar nicht freundliches Fräulein Sodbrennen plagten ihn zudem. Rocky war wieder einmal auf einem seiner Selbstvernichtungstrips, er hatte die Nacht durchgemacht und nun ging es schon auf Mittag zu. Der Sommer zeigte sich endlich von seiner besten Seite und brannte ihm den letzten Rest von Schmalz aus seinem letzten bisschen Hirn. Am Himmel zeigte sich nicht einmal der Ansatz einer Wolke und über dem Asphalt verflimmerten sich erbarmungslose zweiunddreißig Grad im Schatten. Ihm war schlecht. Er hätte sich am liebsten erbrochen, doch es ging nicht. Er konnte, wie üblich, wieder einmal nicht kotzen. Er kannte sich nun inzwischen, nach fast neunundvierzig Jahren der Härte gegen sich selbst so gut, dass er wusste, da hilft kein Recken, kein Finger in die Gurgel stecken oder was auch immer. Da musste er wieder einmal durch. Das dauerte wieder einmal ein, zwei Tage, so viel war gewiss.
In seinem Körper kochte es. Sein „Herr Zucker“ kletterte mit Sicherheit irgendwo auf einem Berggipfel herum. Er schwitzte. Der Schweiß strömte ihm in Strömen aus jeder seiner Poren, seine Kleidung klebte patschnass wie eine zweite Haut auf seinem Körper. Und er wusste, stinken nach verrauchter Luft, ausgeschüttetem Bier und dem zarten Pisseduft eines bestimmten Altstadt-Lokals von Linz, das tat er auch. Er konnte sich selber riechen. Pfui Deibel, einfach ekelhaft. Er träumte von einem erfrischenden Bad und dann ab ins Bett. Aber auf dem Weg nach Hause zog es ihn noch schnell in eine Apotheke.
Er schnaufte sich die drei Stufen zum Eingang hoch, öffnete die Türe, die sich dann zu seinem Glück wieder von ganz alleine schloss und machte die wenigen Schritte hin zum Verkaufspult. Dahinter stand eine hoch gewachsene, schlanke Frau, die ungefähr in seinem Alter sein musste und der man den Zahn der Zeit überhaupt nicht ansehen konnte. Wer ihr begegnete, der kam wohl unweigerlich auf den Gedanken, dass alt werden doch was Schönes sein kann, …. mit den richtigen Genen. Sie blickte ihn mit großen Augen an. Ihn überkam sofort das Gefühl: sie kennt dich. Auch ihm schien sie irgendwie bekannt zu sein, auf den ersten Blick, doch seine Hirnwindungen blockierten. Er räusperte sich, um seine Stimmbänder zu lösen, die sich von den vielen, vielen Zigaretten, die er in der Nacht zuvor geraucht hatte, und von dem vielen lauten Reden und Lachen, wie eingerostet anfühlten und kratzte: „Grüß Gott!“ Er konnte erkennen, wie sie auf einmal checkte, wer er war. Sie grinste ihn an: “Ja, wer kommt denn da herein? Welch seltene Gestalt? Servus Rocky, wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen!“
In seinem Kopf machte es endlich klick. Es war einmal! Ja, es war vor mindestens drei Jahrzehnten, als er sie das letzte Mal gesehen hat. „Ja, gibt’s denn das! Die Rosi, ja Halloooo! Wie geht es dir? Ja, wir zwei, wir haben uns ja wirklich schon ewig nicht mehr gesehen.“ Sie grinsten sich nun beide an und er konnte in ihren Augen lesen, was oder besser wohl, woran sie gerade denken musste, nämlich an das Selbe, wie er. Hahaha! Sie übten dann noch ein wenig Small-Talk, ohne jedoch über diese ihre heimlichen Gedanken zu sprechen, weil ein neuer Kunde ins Geschäft herein gekommen ist. Rocky kaufte dann noch schnell eine Schachtel Aspirin und eine Packung Alkaselza.
Zu Hause ging er sich duschen und dann nach Einnahme der gerade gekauften Medikamente sofort in sein im Sommer so wohlig kühles Wasserbett. Dort ging ihm die Geschichte mit seiner Rosi nicht mehr aus dem Kopf, eine Geschichte, an die er schon ewig nicht mehr gedacht hatte, eine Geschichte, die so unschuldig war, wie sich das nach mehr als dreißig Jahren verschärftem Hollywood kein Mensch von Heute mehr vorstellen konnte. Selbst Rocky erschien sie, wie aus einem Traum heraus zu leuchten, einem zart aufleuchtenden Kindertraum, wohl gemerkt.
Was war das doch einmal für eine irre schöne Zeit? Rocky wurde ja nie aufgeklärt, weder im Guten noch im Bösen. Und er denkt auch heute noch so, dass es damals den meisten Jungs und Mädchen in diesem Alter in seiner Umgebung ebenso ergangen ist. In seiner Siedlung lebten eigentlich fast nur anständige Menschen. Selbst die „unanständigen“ waren dort nicht so, dass ein Kind sie aus gewissen Gründen hätte fürchten müssen. Jedenfalls hat Rocky in diesem Sinn nie etwas gehört.
Er musste sich damals sein Liebe- und Sex-bezügliches Wissen einfach Schritt für Schritt, oft auf sehr mühsame, doch immer auch sehr aufregende Art zu recht stolpern, so und so, und dies wirklich im wahrsten Sinne dieses Wortes „Stolpern“. Am Anfang, also so von sechs bis zehn war da nur dieses so harmlose Spiel von „Vati und Mutti“. Außer ein paar spitze Bussilein auf spitze Bussi war da nichts. Das „Doktor-Spielen“, so ab dem achten, neunten Lebensjahr an, war dann schon um eine Nummer schärfer. Zu Beginn war natürlich nur ein wenig „Gucki-Gucki“. Zuletzt, als dann die Neugier doch immer schärfer geworden ist, wurden dann der „Wutzi-Onkel“ und „Lutschi-Tannte“ - so hatten wir es von den Erwachsenen gehört, wenn sie vor uns Kindern im Geheim-Code gesprochen haben - dann schon zart angefasst und auch ein weinig mit den Fingern untersucht. Und auf so ein Bussi darauf, echt, - auch das hatten sie irgendwann einmal bei einem tiefsinnigen Erwachsenengespräch mit aufgeschnappt, als die sich unbeobachtet gefühlt hatten -, echt, auch daran kann er sich noch ganz gut erinnern. Diese Busserln fuhren auch heute noch wie ein greller Blitz mitten durch seinen Verstand. Rocky fand diese seine ersten Schritte in diese so völlig andere Welt des Erwachsenwerdens damals so etwas von geil, dass er nie wieder davon los gekommen ist.
Na, und dann kam einer der Höhepunkte dieser so irre schönen Kinderspielereien, dann kam nämlich das gemeinsame „Lulu-Schauen“. Und das war einfach irre. Er war so stolz auf sich, weil er zielen konnte und sie nicht. Sie hat einfach nur auf den Boden hinunter gepischt. Ab da war Rocky dann Zeit seines weiteren Lebens froh, so froh, dass er einen gut anfassbaren Wutzi-Onkel hatte und keine sich vor aller Welt versteckende Lutschi-Tante. Und er hat sich dann am nächsten Tag gleich mit ein paar richtigen Wutzi-Chefs hingestellt und mit ihnen um die Wette geschifft. Auch darin war Rocky nicht ganz schlecht. Und weil es ihm deshalb so gut gefallen hat, hat er auch dieses nette Spielchen, sie nannten es „Um die Wette brunzen“, eine gewisse Zeit lang ganz gerne gespielt.
Doch ein paar Tage später, da hat sie dann doch glatt gemeint, sie könne das auch – also so zielen, zumindest ein wenig. Und siehe da, sie hat sich einfach ohne mir nix dir nix die Strumpfhose hinunter gezogen, sich hin gehockt und dann da unten herum gezogen und so herum gedrückt – ein Wahnsinn!!! - da hat es doch glatt in alle Richtungen gespritzt. Das hat ihm ebenfalls sehr gut gefallen. Das tut es auch heute noch. Das ist jetzt kein Schmäh.
Der einzige Mist dabei ist jedoch gewesen, ein ganzes Rudel von Erwachsenen hat ihnen dabei zugesehen, hauptsächlich natürlich Mutter, damals gab es ja noch viele davon, also so echte Mütter. Und neugieriger als heute waren sie ja auch. Damals, 1967, Rocky war zehn, gab es ja noch kein so langweiliges, weil so viel-programmiges Dauerfernsehen Tag und Nacht, und am Nachmittag oder gar schon am Vormittag schon gar nicht. Zu jener Zeit hingen sie, die braven und noch richtigen Mütter deshalb alle gerne zum Fenster heraus. „Kinderaufpassen“ hat das damals geheißen. Und dass dieses Kinderaufpassen zu jener Zeit noch ein echtes und auch noch extrem aufregendes Abenteuer für die braven Mütter gewesen ist, das hatten sie den damals noch extrem neugierigen und so extrem unternehmenslustigen Kindern zu verdanken, wie auch Rocky eines gewesen ist. Der ist damals nicht Tag und Nacht vor einem Computer herum gesessen und hat dort Bumm-Bumm gemacht.
Sie haben sich ja beide nicht viel dabei gedacht, eigentlich gar nichts. Sie war genauso unschuldig, wie er. Er glaubt auch heute noch, dass es damals hier in Österreich so richtige Sex- oder Porno-Hefte noch gar nicht gegeben hat, zumindest hat man sie nicht so leicht gekriegt. Denn als 1968 seine Verwandtschaft aus Übersee, die Familie der älteren Schwester seiner Mutter, aus den USA, Chicago, auf Besuch gekommen ist, da hat sein ältester Cousin, der war damals schon über einundzwanzig, allen männlichen Verwandten, die schon alt genug dafür waren, ein paar Sex-, besser wohl Porno-Hefte zum Geschenk gemacht. Man hat in diesen Hefterln nämlich auch Schwanzerl, besser wohl Schwänze gesehen.
Rocky hat beim großen Begrüßungsfest die so heimlich geheim gehaltene Übergabe aus seinem Versteck heraus, das er mit seinen zwei etwa gleichaltrigen Cousinen geteilt hatte, genau beobachtet. Sie saßen in ihrem „Zelt“, eine große Decke über zwei Sessel gehängt, und haben da drin „Mama und Papa und Kind“ gespielt. Diese so „schuldigen Blicke“ der Beschenkten nach ihren Frauen oder gar Müttern hin, dieses Gegrinse, das von seinem Cousin aus dem Wilden Westen damals auf seine älteren Cousins, seine vielen Onkeln und so ähnlichem Zeugs übergesprungen ist, all dies kam ihm und seinen zwei Cousinen sofort sehr verdächtig vor. Als dann all diese „Geschenke“ gut versteckt waren und alle Erwachsenen dann einträchtig bei Cafe und Kuchen beisammen gesessen sind, da haben sie natürlich nachgeschaut. Sie haben sich ein Hefterl nach dem anderen „ausgeborgt“ und in ihrem Zelt gut versteckt dann einträchtig begutachtet. WOW! Viel geredet haben er und seine zwei Cousinen dabei aber nicht mehr. Ihr erster Blick auf ein Meer von Schwänzen und noch viel mehr Mösen hat sie alle drei ganz still und so leise gemacht.
Rocky hat damals einen schweren Schock davon getragen, ehrlich, auch das ist kein Schmäh. Der Seine war damals nämlich noch nicht so groß, und zu seinem lebenslangen Dauerschock ist er das auch niemals geworden. Die Schwänze in den Heften waren alle mindestens dreißig Zentimeter lang und mindestens so dick, wie Rockys damaliger Oberarm. Er konnte sich damals überhaupt nicht vorstellen, wo so ein Monster hinein gehen sollte oder gar konnte. Und Rocky ist sich heute, wenn er sich diese obskure Lage der Weltpolitik ansieht, sicherer, denn je: die Erwachsenen, die damals ja mehr oder weniger alle eine Verwandtschaft in Amerika hatten, müssen von der Größe dieser Schwänze ebenfalls sehr geschockt gewesen sein, denn seit damals glauben alle europäischen Männer, dass us-amerikanische Schwänze einfach größer, also viel dicker und viel länger sowieso, als die der europäischen Kriegsverlierer sind. Dabei ist sich Rocky heute ebenfalls absolut sicher, dass sein Cousin aus Amerika damals mit Sicherheit keinen bösen Hintergedanken dabei gehabt hat. Er hat halt was Ordentliches schenken wollen. Und seien wir uns doch ehrlich: Ein Porno mit normalen Durchschnittsschwänzen wie vielleicht gar dem deinen oder meinetwegen auch dem meinen, nun echt, das grenzt doch nahe an eine Beleidigung. Na ja, egal. Aber seit damals steckt jedenfalls unsere alt gewordene Göttin Europa im schon lange nicht mehr gefühlten Super-Dilemma: ihre Männer rennen heute alle mit verlegen eingezogenem Schwanzerl durch die Gegend. Es sind halt allesamt brave Friedensmänner. Rocky muss lachen. Hahaha. Und er weiß, er ist trotz aller aktuellen zeitlichen Erkenntnisse, wie Irak-Krieg und so weiter und so fort, selbst heute noch nur einer der ganz, ganz wenigen Europäer, der weiß: wieso? Ursache: die „ordentlichen Geschenke“, die Mann damals in den Care-Paketen finden konnte, wenn er ein wenig Glück hatte.
Nun ja, auch egal. Der Traum einer jeden Frau hat bei Rocky jedenfalls irgendwann kurz nach der Hälfte zu wachsen aufgehört, so glaubt er zumindest auch heute noch, so groß, so dick und so lang sind diese us-amerikanischen Mördergeräte in diesen Heften gewesen. Auch von diesem Schock hat er sich nie ganz erholt, wie er schon oft festgestellt hat, wenn er einmal in seinen seltenen tiefenpsychologischen Selbstgesprächen einmal ehrlich mit sich selbst und seinem Mann-Sein gewesen ist, denn selbst dann, wenn eine Frau unter ihm zur perversen Furie mit kochender Einspritzpumpe verkommen ist, hat er immer wieder einmal, zumindest einmal und ganz kurz an seinen höchstwahrscheinlich nur mittelmäßigen Wutzi-Onkel da unten denken müssen, und dabei hat er auch immer wieder einmal ganz kurz überlegen müssen, ob er, sein Wuzi-Onkel da unten, eh lang und dick genug für sie und sie, die Lutschi-Tante, auch zufrieden mit ihm, jetzt so und so gemeint, ist. Und wenn er, der Wutzi-Onkel, dann deshalb ein wenig weich geworden ist, dann musste er, der Rocky, immer die Stellung wechseln, damit er, der Wutzi-Onkel da unten, wieder hart geworden ist, und gleichzeitig musste er, der Rocky, dann auch ein wenig grob werden.
Aber er muss auch ehrlich zugeben, alle seine Frauen sind in diesen so schwierigen Problemmomenten seines Mannseins immer echt brav, also verständig, gewesen. Sie haben zwar geschrieen, wie am Spieß, aber all zu sehr beschwert haben sie sich dann hinterher auch nicht. Er, der Rocky, ist wohl nie ein extrem grober Lackel gewesen. Eine Freundin hat irgendwann einmal zu ihm gesagt, als er ihr in diesem Sinne in einer seiner schwachen Stunden sein Herz ausgeschüttet hat, dass das, was er da für grob halten würde, bei den meisten Männern der Normalzustand wäre, und dies auch tagsüber und ohne jeden Sex. Er, Rocky, er wäre schon voll okay, so und so. Damals ist Rocky aber schon fast dreißig gewesen, und es war wohl somit für jede rein positiv gestimmte Aufklärung zu spät. Und so hat er trotzdem auch heute noch immer dieses „Scheiß-Ginky-Problem“. Und heute kommt ja noch Etwas dazu: so ein Ginky wird ja nicht mehr größer, wenn Mann einmal über dreißig ist, und Rocky kneift demnächst dem letzten geilen Jahr vor seinem Fünfziger in den nicht mehr ganz so festen Hintern. Man sieht, wie wichtig so eine saubere Aufklärung ist, und das auch noch zur richtigen Zeit!
Na ja, auch egal, jedenfalls wurden er und seine Lulu-Freundin von Damals bei ihrer ersten und so schwer wissenschaftlichen Erkundung dieser damals für sie beide noch so fremden und sich gerade so sehr verändernden Lulu-Geräte erwischt. Auch ihre Mutter hat dabei zugesehen. WOW! Angeblich soll sie dabei vor Schreck fast vom Balkon gefallen sein. Wahnsinn! Was hatten sie doch damals für ein Glück! Zu Mördern hätten sie werden können, bei etwas mehr Pech!? Was war das doch dann für ein Bahöööööh!!! Auf einmal war er mit ihr, der Rosi, dieser Unschuld aus einer scheinbar nie da gewesenen Zeit, von einem guten dutzend Erwachsener, meist Müttern, so richtigen nämlich, umzingelt.
Wenn er heute daran denkt, muss er sich immer noch halb tot lachen. Ihr öffentliches Tun muss für diese im damaligen Tief-Konservativismus schwer einzementierte Erwachsenengeneration, die ja selbst auch keine richtige Aufklärung genossen hatte, insbesondere aber für Rosis und wohl auch für seine Mutter der absolute Wahnsinn von einem Anblick gewesen sein, der sich ihnen da so frei und offenbar „schuldig“ dargeboten hat. Man stelle es sich vor: Es war Herbst. Vor einer in den späten Sechziger- und in den frühen Siebziger-Jahren dann immer mehr angewachsenen Wohnblock-Siedlung breitete sich ein heute schon seit langer Zeit verschwundenes Feld aus. Der Bauer hatte einige Tage zuvor den Kukuruz, also den Mais, weg gemäht. Er und Rosi sind da mitten drin in diesem Meer von gut einem halben Meter hohen, abgemähten Maisstauden gestanden. Weithin und für einen Jeden und eine Jede frei sichtbar, der und die Lust hatten, beim so unschuldigen Lulu-Schauen von zwei noch so unschuldigen Kindern zuzuschauen. So unschuldig war dann niemals wieder eine Zeit, jedenfalls nicht für Rosi und ihren dann nie wieder von ihr richtig angeschauten Rocky. Dabei hat er auch heute noch oft so ein eigenartiges Gefühl, als hätte diese Rosi von Damals auch seine Rosi von Später werden können. Diesen gemeinen Stich ins Herz, den kann sich wirklich nur Jemand vorstellen, den das Leben auch einmal auf so lebenszerfetzende Art und Weise mitten in sein noch so unwissendes und so unschuldiges Herz hinein gestochen hat. Rocky hat diese Begegnung an diesem Tag in der Apotheke nach so langer Zeit jedenfalls seine ganze darauf folgende Woche total versaut. Erst nachdem er dann ein Wochenende darauf diese Geschichte nieder geschrieben hat, war sein Leben für ihn wieder einigermaßen in Ordnung. Diese Zeit war damals noch so ohne jeder, nur von Erwachsenen nicht erdenkbaren und deshalb so engelhaften Scheu.
Nun ja, egal, oder auch nicht. Seine Mutter hat ihm wie aus einem Nichts heraus eine geknallt und dann gleich seinen noch so kleinen Ginky in die zuvor von ihr hinauf gezogene Hose eingepackt. Rocky hat damals jedenfalls überhaupt und nochmals überhaupt nicht verstanden, um was es da eigentlich gegangen ist. Neben ihm hat die Mama der Rosi die leicht nasse, weil im Übereifer leicht angespritzte Strumpfhose hinaufgezogen und dabei hat sie mit ihr fürchterlich geschrieen und noch viel, viel fürchterlicher geschimpft. Seine Rosi hat geweint. Dabei hat sie ihn dauernd aus ihren verheulten Augen angeschaut, so als hätte er es wissen müssen. Dabei hat er doch gar nichts gewusst, denn diese Geschichte mit den Pornoheften aus dem reichen Amerika ist ja erst im nächsten Sommer darauf geschehen. Welch Schock? Dieser Schock sitzt ihm auch heute noch tief in seinem männlichen Geknoche.
Am Abend ist dann sein Vater, einer der bravsten Gendarmeriebeamten seiner Zeit, nach Hause gekommen. Als allwissender, weil kleiner Ortgendarm, hatte er von der Unzucht seines widernatürlich gearteten Sohnes natürlich schon vernommen, der sich neuerdings anscheinend in Richtung Sexstrolch zu entwickeln schien, schließlich war inzwischen seine Vorliebe für „Doktor-Spielchen“ und ähnlichem Unfug ja schon ein wenig tat- und ortsbekannt. Sein Blick, mit dem er die Türe zugemacht und dabei Rocky taxiert hat, sprach Bände. Rocky ging sofort auf „Indianer-Position“: Ein Winnetou weint nicht, und am Marterpfahl schon gar nicht. Sein Vater hat ihm dann einfach ohne viele Worte die Hose hinunter gezogen und ihm den nackten Arsch versohlt, so dass Rocky die ganze Woche darauf in der Schule nur mit seinen Oberschenkeln auf der Stuhlkante sitzen konnte. Rocky versteht eigentlich bis heute nicht, weshalb? Schließlich, was hat er denn schon viel getan? Da war doch weit und breit kein böser Gedanke. Außer gesunder Neugier war da Nichts! Verdammt! Wieso verstehen diese so doofen Erwachsenen das nicht? Rocky hat das bis heute irgendwie nie ganz kapiert. Also, wenn sein Sohn so etwas anstellen würde, Rocky hätte seinen Spaß daran, aber der sitzt auch lieber vor dem Computer. Da sieht man wieder einmal, wie sich die Sinnhaftigkeiten der Zeiten verändern.
Nun ja, der Schrecken war noch nicht zu Ende! Am nächsten Tag wurde Rocky schon in aller Frühe auf dem Schulweg die Mitteilung zugetragen, dass auch der große Bruder von der Rosi mit ihm ein Hühnchen, besser wohl ein Huhn, zu rupfen hätte. Nach der Schule hat sich Rocky zwar in seinem stillen Lese-Eck im Keller gut versteckt, was aber nicht viel geholfen hat. Der böse Wolf ist nach siebzehn Uhr von der Arbeit als Lehrling nach Hause gekommen, er hat sich unter den Kindern ein wenig umgehört, hat ein wenig in kleine Kindernasen hinein gezwickt und hat dann Rocky kurz darauf im Keller so gut versteckt und sooo allein und so ohne jeden Zeugen entdeckt. Na, da gab es dann Saures. Die Oberlippe aufgeplatzt, die Wangen von den Watschen gerötet, beide Augen von ein paar Fausthieben dicht, die Ohrwascheln lang gezogen und damit zwei „Heiße Semmeln“ gemacht, also mit den Handflächen so lang und so intensiv gerubbelt, so lange, bis sie fast abgefallen sind, sie brannten dann schön roter noch als rot, ein paar Büschel Haare fehlten auch auf dem Kopf. Rocky dankte deshalb seinem Gott, dass er davon keine Glatze bekommen hat. Damals hat Rocky ja noch an einen Gott geglaubt. Heute weiß er es ja besser. Es gibt ja keinen Gott. Wenn es schon so Was gibt, dann wird es wohl eine Göttin sein. Denn das Einzige, was einem Erdenmenschen helfen kann, das ist Göttin Danae, unsere Mutter Erde. Jeder andere Glaube ist bloß typisch männerklarer und deshalb wohl bloß völlig abstruser, weil sich wichtig machender Schmafu. Und einige Rippen hatte ihm der böse Wolf während seiner Folterstunde auch geprellt, so dass Rocky dann drei Wochen lang nicht mehr Fußball ohne Schmerzen spielen konnte. Und dieser von allen Kindern sowieso und sogar von den meisten Erwachsenen von Hörsching so sehr gefürchtete Herr Zurucker, ein damaliger Nachbar, der auch beim Lulu-Schauen zugeschaut und sich dabei mit Sicherheit selbst befriedigt hat, der hat ab da dann immer zu ihm „Sexstrolch“ gesagt, wenn sie sich irgendwo begegnet sind. „Du Sexstrolch, du!“ und sonst nichts, schließlich haben sie sich aus im Ort Hörsching und auch Umgebung allseits bekannten und auch von den Meisten verstandenen, bestimmten Gründen nie gegrüßt.
Eines hat Rocky damals jedenfalls begriffen: Die Moral von der Geschicht’, „Lulu-Schauen“, meine lieben Kinderlein, also „Lulu-Schauen“, so Etwas tut man nicht. Aber jede Philosophie von Erwachsenen nun hin und her und ix mal umgedreht und auch bis hinein ins Nichts zerdacht, also, wie auch immer, eine extrem interessante Sache ist und bleibt es schon. Und genau das hat sich Rocky noch gedacht, ehe er an diesem Nachmittag dann doch endlich, trotz der sich drehenden Zimmerdecke, mit einem Lächeln im Gesicht eingeschlafen ist.
© Copyright by Lothar Krist (16./17.6.2006 von 22.10 – 22.45 Uhr in O-Bus und Straßenbahn und von 01.05 – 05.50 Smaragd)