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Veronikas Bart
Das letzte Mal, als man Veronika sah, hing ihr der Bart bereits bis vors Brustbein. Wildwüchsig und ungepflegt, mit buschigen Koteletten und einem gezwirbelten Schnurrbart; die schwarzen Nasenhaare verschmolzen mit den graubraunen Stoppeln über der Oberlippe, die Brauen hingen in zotteligen Fransen über die Augenwinkel. Ein unwirklicher Kontrast zu ihrem blonden, langen Zopf, den kastanienbraunen, strahlenden Augen und der kurvigen Figur. Sich hinter dem haarigen Ungetüm verbergend verschwand Veronika in die zeitlose Abgeschiedenheit ihres Zimmers, versteckte ihre Seele vor mitleidigen und mitunter spöttischen Blicken und gab sich, allein mit ihren Zweifeln, vollkommen der Einsamkeit hin.
Nur zwei Jahre zuvor, noch in Besitz samtener, pfirsichweicher Gesichtshaut, beendete sie die Oberschule mit Prädikat. Sie war offen und lachte gerne mit ihren Freundinnen; kicherte, wenn diese von ihren ersten Erfahrungen mit Jungs erzählten und wurde rot, als ihr Nachbar ihr seine Liebe gestand. Sieben Jahre älter als sie, gepflegt und mit Diplom, offenbarte er sich ihr in einer kalten Herbstnacht, während der Wind blutrote und dunkelgelbe Blätter über die Felder peitschte und Wolkenfetzen vor der tiefschwarzen Unendlichkeit dahinjagte. Veronika hielt dem Wind stand, nicht aber dem Werben ihres Nachbarn, und so kam es, dass sie sich als Paar bezeichneten. Er führte sie aus, beschenkte sie mit bestickten und mit Rosenwasser besprenkelten Deckchen und verlor sich vollkommen in die Tiefe der Liebe zu ihr. Sie freute sich über seine Aufmerksamkeiten und Schmeicheleien, und auch sie war verliebt, doch gleichzeitig schaffte sie eine Distanz, welche es ihm unmöglich machte, sich ihr körperlich zu nähern. Sie fühlte die wohlige Wärme der Liebe, die sie durchströmte, zartes Kribbeln in ihren Innereien, welche sie zu gelegentlichen Lachanfällen verführten, und nur ganz langsam realisierte sie eine warnende Wärme im Herzen. Geplagt von Sehnsucht und Angst urinierte sie nachts in ihr Bett, sie drehte sich und konnte nicht schlafen, sie riss ihn an sich und stieß ihn weg, sie lachte und weinte im selben Moment. Einen Tag ging sie mit ihm spazieren, sog in tiefen Zügen die klare Oktoberluft ein und genoss seine Nähe. Sie neckten sich, jagten den Blättern hinterher und ertranken in Gefühlen. Am nächsten Tag zweifelte sie an ihrem Verstand, und ihr innerlicher Zwiespalt drohte sie zu zerreißen. Nach kurzer Zeit sah ihm Veronika nicht mehr in die Augen, dann hörte sie auf, seine Briefe zu beantworten, und nur kurz danach ging sie auf sein Bitten und Flehen überhaupt nicht mehr ein. Alle seine Versuche, sie für sich zu gewinnen, waren vergebens; Veronika schloss sich in ihrer Verzweifelung in ihrem Zimmer ein. Neunundvierzig Wochen lang ertrug sie ihren Frust, sie weinte salzige Rinnsale, kaute ihre Fingernägel bis aufs Fleisch, und während der Gram und der Verlust sie innerlich auffraßen, wuchs ihr leichter Flaum an Kinn und Oberlippe.
Im folgenden Sommer verließ sie ihr Exil, angezogen von der wärmenden Sonne, die sämtliche Wunden und vergangenen Momente vergessen machte. Erneut traf sie sich mit ihren Freundinnen, welche sie wieder jauchzend in ihren Kreis aufnahmen. Mit der Zeit vergaß Veronika das Gewesene, sie blühte auf und genoss das Leben. Sie immatrikulierte in Pädagogik, lernte neue Leute kennen und begann sich für Malerei zu interessieren. Am liebsten malte sie stürmische Herbstlandschaften mit blutroten und dunkelgelben Blättern, welche in wildem Durcheinander vor tiefschwarzen Himmeln umherwirbeln. Freunde sagten, dass ihre Bilder depressiv wirkten, worauf Veronika erwiderte, jeglicher Ausdruck eines scheinbar negativen Gefühls sei das Spiegelbild ihres innerlichen Wohlbefindens. Ihre Bilder wurden mit der Zeit immer dunkler und lediglich in langen Gesprächen mit sich selbst offenbarte Veronika ihre unendliche Einsamkeit; jedoch war sie außerstande, diese zu bekämpfen. Sie sehnte sich sogar nach ihr, sie suchte die Einsamkeit wie ein Wanderer den Weg im verschneiten Birkenwald. Und wenn der Wind scheinbar alles Wärmende mit sich nahm, alle strahlende verwehte, dann fühlte Veronika das sanfte Stechen der Zufriedenheit.
Ein Referendariat verschaffte ihr im Herbst eine Abwechslung von der bekannten Umgebung, wieder lernte sie neue Leute kennen, unter ihnen ein junger Lehramtstudent aus dem Norden. Zarten Blicken folgten unaufdringliche Briefe, welche zunehmend mit romantischen Prisen und schwärmerischen Zutaten gewürzt waren. Diese Korrespondenz beflügelte Veronika, sie spürte ein Kribbeln im Magen und in der Brust, welches ihr bekannt war, und sie verlor sich in Gedanken an eine sonnige Zukunft. Die Blätter auf ihren Bildern wurden bunter, selbst der Wind schien sich in eine leichte Brise verwandelt zu haben. Der Lehramtstudent machte ihr den Hof; des Morgens begrüßten sie vom Tau befeuchtete Blumen vor ihrer Balkontüre, die Briefe trugen schwül-warme Gedichte und wie zufällig lagen teure Pralinés auf ihrem Bürotisch. Veronika war scheinbar glücklich, ihr Lächeln nahm kein Ende, es wich erst, als ihr ein Stechen in der Brust offenbarte, dass sie Angst hatte. Angst vor der Zukunft, dem Nicht-Alleinsein, dem Zulassen von Gefühlen, was allerdings gleichzeitig eine unausgesprochene Sehnsucht darstellte. Denn in diesem Moment war sie sich sicher, dass der Tag kommen würde, an dem sie jede Beziehung mit dem Lehramtsstudenten bereuen würde; an diesem Tage würde sie das Loslassen von ihrer Unabhängigkeit beweinen, sie wusste nur nicht, warum. Sie gestand sich ein, dass sie eher sterben würde vor Verzweifelung als sich ihm vollends hinzugeben, und während sie verzweifelt den Grund suchte für ihre Angst, beschloss sie innerlich bereits die ewige Einsamkeit. ’Schon wieder’, schoss es ihr durch den Kopf, ’schon wieder muss ich den verborgenen Monstern meiner Seele den Vortritt vor meinen Gefühlen lassen’. Sie begann, die immer häufigeren und zum Schluss fast täglichen Telefonanrufe zu ignorieren und die Briefe ungelesen zu zerreißen; und der Herbstwind jagte über die weiten Ebenen des Südens, riss dunkelgelbes und blutrotes Laub mit sich und peitschte dicke Wassertropfen an die Fenster. Veronika weinte ununterbrochen, die Angst und die Zweifel lähmten ihr Denken und selbst ihre Bewegungen, und erneut schloss sie sich in ihrem Zimmer ein, verloren in den Tiefen des Zorns und des Kummers. Das Mysterium wurde nie geklärt, doch es ergab sich, dass das gesamte Haus von Veronika mit dunkelgelbem und blutrotem Laub eingedeckt wurde, und ihr Vater konnte es noch so oft beiseite schieben, ein neuer Wind brachte ein neues Blättergrab; jeden Tag, neunundvierzig Wochen lang. Erst dann verließ Veronika ihr Zimmer, und während der Frühling die ersten Knospen blühen ließ, die ersten Zugvögel ihre unnachahmlichen Lieder zwitscherten und die ersten Sonnenstrahlen das Grau der Winterwolken durchstießen, offenbarte sich Veronika ihr herrlicher Bart. Er bedeckte das ganze Gesicht, die Wangen und die Oberlippe, tiefschwarz und mit einem prächtigen Schnurrbart; der Hals voller Stoppelhaare. Eines jeden Mannes Stolz wäre er gewesen, doch bei ihr war er Ausdruck ihres Zweifelns an sich selber; ihrer unüberwindbaren Angst vor dem Eingehen jeglicher Bindung.
Der wärmende Frühling brachte Licht in Veronikas Bilder, sie schöpfte neuen Mut, und sie versuchte, zu leben. Sie malte wie besessen, die Farben sprudelten durcheinander wie unbezwingbare Bergbäche, Expressionen ihres Trotzes. Sie suchte sich Tätigkeiten, ihr Antrieb war ihr innerer Zweifel, er verging, wenn sie beschäftigt war. So begann sie, zu studieren und zu malen; sie studierte und malte voller Elan, studierte, malte, studierte, malte. Mit der Zeit wandten sich ihre Freundinnen von ihr ab, sagten, ihr Verhalten sei zwanghaft, sie wirke getrieben. Veronika winkte ab, doch die Kommentare stachen ihr in die Seele wie ein enges Dornengewand, denn nur sie wusste, dass sie in der Tat eine Getriebe war; ihre eigenen Ängste und Zwänge hingen ihr an den Fersen, nein, sie wucherten in ihren Gedärmen, in ihrem Kopf, sogar in ihrem Herzen. Sie entfernte sich von den Menschen, sah ihnen nicht mehr in die Augen, und während erstes Herbstlaub an ihrem Fenster klebte, sehnte sie sich nach Wärme, nach Zuneigung, nach einer Spur menschlichen Interesses. Veronika wusste, dass sie irrlichterte, doch wie ein Magnet trieb sie immer tiefer in die selbstgewählte Einsamkeit hinein. Und während die Minuten, die sie außerhalb ihres Zimmers verbrachte, dahinschmolzen wie Eis auf einem sonnenbestäubten Eschenzweig, die Bilder wieder dunkler wurden und altes Laub die Sicht aus dem Fenster mehr und mehr eintrübte, rannen dicke Tränen durch Veronikas wuchernden Bart, suchten sich ihren Weg durchs haarige Dickicht wie pralle Frösche im Schilfgras.