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Verschwörungstheorie
Ich hab nicht viele Freunde. Es sind eher gute Bekannte oder eben Kumpels. Alles Männer, keine Frauen. Einer davon ist Tom. Ich kenne ihn seit ungefähr zehn Jahren. Mäßig erfolgreicher Werbetexter mit ehemals Frau und Kind. Vor zwei Jahren hat er sich getrennt. Mit viel Trara und dreckiger Wäsche. Seitdem hat er sich komplett zurückgezogen. In unserer alten Stammkneipe taucht er überhaupt nicht mehr auf. Dabei hatten wir dort wirklich legendäre Abende. Wenn ich nicht ab und zu mal anrufen würde, wäre der Kontakt wohl abgebrochen. Aber gestern Abend rief er mich an. Ob ich nicht mal bei ihm auf ein Bier vorbeischauen möchte. Ich würde ja seine Wohnung, in der er seit der Trennung lebte, noch gar nicht kennen. Ach ja, warum eigentlich nicht?
Er wohnte nicht gerade im besten Stadtteil. Bahnhofsgegend. Ganz schöner Absturz, dachte ich mir. Seine Ex-Frau, übrigens ein geiles Luder, lebt mit dem Kind noch im gemeinsamen Haus. Gutbürgerlicher Vorort mit Spielstrasse und dicken Kombis in den Garagen. Ich kannte Tom als typischen Werbefuzzi. Leicht angestylt, mit einem hippen anglophilen Sprachschatz und reichlich Gel im Haar. Der Tom, der mir die Tür zu seiner Bude öffnete, hatte mit dem, den ich kannte, gar nichts mehr zu tun. Wirres, zerzaustes Haar, Jogginghose und Strickjacke. Ich erschrak ein wenig bei seinem Anblick.
"Schön Dich zu sehen, " sagte er und interpretierte meinen Blick genau richtig: "Ich weiß, ich sehe fürchterlich aus. Aber das ist nun mal so. Es gibt wichtigere Dinge. Willst ein Bier?" Wir tranken aus der Flasche und tauschten ein paar Belanglosigkeiten aus. Seine Wohnung bot das Bild einer Original-Hollywoodkulisse. Die Absteige eines Serienmörders. Überall Stapel alter Zeitungen, Aktenordner und Hängemappen. An den Wänden lauter angepinnte Zeitungsausschnitte, Skizzen, Fotos und Computerausdrucke. Komplizierte Organigramme, verschachtelt mit zig Querverweisen. "Betreibst Du hier Ahnenforschung?" fragte ich.
Tom lachte. "Ich bin an einer ganz heißen Sache dran. Das muss ich Dir erzählen." Und dann sprudelte er los. "Die Reform des Scheidungsrechtes in den siebziger Jahren. Kannst Du Dich noch daran erinnern? Bestimmt nicht, damals waren wir noch Kinder und hatten andere Dinge im Kopf. Aber es ist wichtig. Das war ihr größter Coup."
"Wessen Coup?" fragte ich verwirrt dazwischen.
"Gleich - wart nur ab. Damals wurde die Schuldfrage bei der Scheidung abgeschafft. Ein angeblich moderner, gerechter und emanzipierter Gesetzentwurf, der auf einen Schlag Tausende von Privatdetekteien in den Bankrott trieb. Auf dieser Rechtsgrundlage werden auch heute noch Ehen geschieden. Was das für Folgen hat, siehst Du an mir. Ellen hat mich fertig gemacht. Sie hat in der Gegend rumgevögelt und ich muss dafür jetzt bluten. Ich habe alles verloren, per Gerichtsbeschluss, im Namen des Volkes. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Schau Dir mal dieses Bild an. Das ist der parlamentarische Ausschuss, der damals den Gesetzentwurf ausgearbeitet hat. Fällt Dir was auf?"
Ich schaute auf das Foto. Es war ein vergilbter Zeitungsausschnitt mit den typischen siebziger-Jahre Politikerfressen. Riesige Hemdkragen, Backenbärte, wilde Frisuren. "Und?" drängte Tom, "was siehst Du?". Ich zuckte nur mit den Schultern, da zog er auch schon zwei weitere Zeitungsausschnitte hervor. "Das ist das damalige Entscheidungsgremium des BGH und hier ist ein Foto der Bundesratssitzung bei der Billigung des Gesetzentwurfes. Und? Fällt Dir jetzt was auf?"
Ich wusste nicht worauf er hinauswollte. Das war nicht mehr der Tom, den ich kannte. Bloß schnell raus hier, schoss es mir durch den Kopf. Mit gespieltem Interesse betrachtete ich die Fotos, die er mir mit weit aufgerissenen Augen unter die Nase rieb. Die gleiche Siebziger-Polit-Optik. Andere Figuren, gleicher Look. "Keine Ahnung."
Er knallte die Zeitungsausschnitte auf den Tisch und raufte sich theatralisch die Haare. "Dass das keinem auffällt. Ich kann es nicht glauben. Das sieht doch jedes Kind! ES SIND ALLES MÄNNER!" Mit seinen wahnsinnigen Augen schaute er mich an, als wenn er mir gerade verkündet hätte, die Erde sei doch eine Scheibe.
"Ah ja, genau, das stimmt. Und?" entgegnete ich belustigt. Tom wurde laut: "Wie und? Das fragst Du Dich wirklich? Alles Männer! In jedem verdammten Gremium, das dieses Gesetz auf den Weg gebracht hat, saßen immer nur Männer. Verstehst Du denn nicht? Männer haben ein Gesetz gegen Männer gemacht. Sie haben sich selbst und ihre Geschlechtsgenossen verraten. Es waren keine Kampflesben oder Feministinnen, die uns das eingebrockt haben. Noch nicht einmal eine stinknormale Quotenhausfrau hat daran mitgewirkt Es waren nur Männer! Und warum haben sie das gemacht? Weil sie infiltriert sind. Frauen müssen gar nicht dabei sein, um irgendetwas mit zu entscheiden. Sie sind in unseren Köpfen, steuern und leiten uns, lassen uns wie Puppen nach ihrer Pfeife tanzen. Ich habe hier Tausende von Beweisen gesammelt. Hinter jeder politischen Entscheidung steht ein ganzer Haufen Weiber, die mit Titten, Arsch und Hinterlist alles nach ihren Vorstellungen vorbereitet haben. Soll ich sie Dir zeigen? Willst Du es sehen?"
Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Tom fegte ein paar Papiere vom Sofa und setzte sich. Er trank sein Bier und starrte an die Decke. Sollte ich höflich sein oder jetzt einfach gehen? Tom war wahnsinnig - eindeutig. Was nützte da noch Höflichkeit? Ich stellte das Bier ab, klopfte ihm auf die Schulter und ging aus der Tür. Er starrte weiter an die Decke und schien meinen Abgang überhaupt nicht wahrzunehmen.
Auf dem Weg zu seiner Ex schaltete ich das Autoradio an. Vaterschaftstests dürfen auch weiterhin nur mit der Erlaubnis der Mutter vorgenommen werden, sagte der Nachrichtensprecher. "Tom ist `ne arme Sau, " dachte ich mir, "wie gut dass er nicht auch noch weiß, wer der Vater seines Kindes ist."