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Verschwörungstheorie

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29.05.2006
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Verschwörungstheorie

Ich hab nicht viele Freunde. Es sind eher gute Bekannte oder eben Kumpels. Alles Männer, keine Frauen. Einer davon ist Tom. Ich kenne ihn seit ungefähr zehn Jahren. Mäßig erfolgreicher Werbetexter mit ehemals Frau und Kind. Vor zwei Jahren hat er sich getrennt. Mit viel Trara und dreckiger Wäsche. Seitdem hat er sich komplett zurückgezogen. In unserer alten Stammkneipe taucht er überhaupt nicht mehr auf. Dabei hatten wir dort wirklich legendäre Abende. Wenn ich nicht ab und zu mal anrufen würde, wäre der Kontakt wohl abgebrochen. Aber gestern Abend rief er mich an. Ob ich nicht mal bei ihm auf ein Bier vorbeischauen möchte. Ich würde ja seine Wohnung, in der er seit der Trennung lebte, noch gar nicht kennen. Ach ja, warum eigentlich nicht?

Er wohnte nicht gerade im besten Stadtteil. Bahnhofsgegend. Ganz schöner Absturz, dachte ich mir. Seine Ex-Frau, übrigens ein geiles Luder, lebt mit dem Kind noch im gemeinsamen Haus. Gutbürgerlicher Vorort mit Spielstrasse und dicken Kombis in den Garagen. Ich kannte Tom als typischen Werbefuzzi. Leicht angestylt, mit einem hippen anglophilen Sprachschatz und reichlich Gel im Haar. Der Tom, der mir die Tür zu seiner Bude öffnete, hatte mit dem, den ich kannte, gar nichts mehr zu tun. Wirres, zerzaustes Haar, Jogginghose und Strickjacke. Ich erschrak ein wenig bei seinem Anblick.

"Schön Dich zu sehen, " sagte er und interpretierte meinen Blick genau richtig: "Ich weiß, ich sehe fürchterlich aus. Aber das ist nun mal so. Es gibt wichtigere Dinge. Willst ein Bier?" Wir tranken aus der Flasche und tauschten ein paar Belanglosigkeiten aus. Seine Wohnung bot das Bild einer Original-Hollywoodkulisse. Die Absteige eines Serienmörders. Überall Stapel alter Zeitungen, Aktenordner und Hängemappen. An den Wänden lauter angepinnte Zeitungsausschnitte, Skizzen, Fotos und Computerausdrucke. Komplizierte Organigramme, verschachtelt mit zig Querverweisen. "Betreibst Du hier Ahnenforschung?" fragte ich.

Tom lachte. "Ich bin an einer ganz heißen Sache dran. Das muss ich Dir erzählen." Und dann sprudelte er los. "Die Reform des Scheidungsrechtes in den siebziger Jahren. Kannst Du Dich noch daran erinnern? Bestimmt nicht, damals waren wir noch Kinder und hatten andere Dinge im Kopf. Aber es ist wichtig. Das war ihr größter Coup."

"Wessen Coup?" fragte ich verwirrt dazwischen.

"Gleich - wart nur ab. Damals wurde die Schuldfrage bei der Scheidung abgeschafft. Ein angeblich moderner, gerechter und emanzipierter Gesetzentwurf, der auf einen Schlag Tausende von Privatdetekteien in den Bankrott trieb. Auf dieser Rechtsgrundlage werden auch heute noch Ehen geschieden. Was das für Folgen hat, siehst Du an mir. Ellen hat mich fertig gemacht. Sie hat in der Gegend rumgevögelt und ich muss dafür jetzt bluten. Ich habe alles verloren, per Gerichtsbeschluss, im Namen des Volkes. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Schau Dir mal dieses Bild an. Das ist der parlamentarische Ausschuss, der damals den Gesetzentwurf ausgearbeitet hat. Fällt Dir was auf?"

Ich schaute auf das Foto. Es war ein vergilbter Zeitungsausschnitt mit den typischen siebziger-Jahre Politikerfressen. Riesige Hemdkragen, Backenbärte, wilde Frisuren. "Und?" drängte Tom, "was siehst Du?". Ich zuckte nur mit den Schultern, da zog er auch schon zwei weitere Zeitungsausschnitte hervor. "Das ist das damalige Entscheidungsgremium des BGH und hier ist ein Foto der Bundesratssitzung bei der Billigung des Gesetzentwurfes. Und? Fällt Dir jetzt was auf?"

Ich wusste nicht worauf er hinauswollte. Das war nicht mehr der Tom, den ich kannte. Bloß schnell raus hier, schoss es mir durch den Kopf. Mit gespieltem Interesse betrachtete ich die Fotos, die er mir mit weit aufgerissenen Augen unter die Nase rieb. Die gleiche Siebziger-Polit-Optik. Andere Figuren, gleicher Look. "Keine Ahnung."

Er knallte die Zeitungsausschnitte auf den Tisch und raufte sich theatralisch die Haare. "Dass das keinem auffällt. Ich kann es nicht glauben. Das sieht doch jedes Kind! ES SIND ALLES MÄNNER!" Mit seinen wahnsinnigen Augen schaute er mich an, als wenn er mir gerade verkündet hätte, die Erde sei doch eine Scheibe.

"Ah ja, genau, das stimmt. Und?" entgegnete ich belustigt. Tom wurde laut: "Wie und? Das fragst Du Dich wirklich? Alles Männer! In jedem verdammten Gremium, das dieses Gesetz auf den Weg gebracht hat, saßen immer nur Männer. Verstehst Du denn nicht? Männer haben ein Gesetz gegen Männer gemacht. Sie haben sich selbst und ihre Geschlechtsgenossen verraten. Es waren keine Kampflesben oder Feministinnen, die uns das eingebrockt haben. Noch nicht einmal eine stinknormale Quotenhausfrau hat daran mitgewirkt Es waren nur Männer! Und warum haben sie das gemacht? Weil sie infiltriert sind. Frauen müssen gar nicht dabei sein, um irgendetwas mit zu entscheiden. Sie sind in unseren Köpfen, steuern und leiten uns, lassen uns wie Puppen nach ihrer Pfeife tanzen. Ich habe hier Tausende von Beweisen gesammelt. Hinter jeder politischen Entscheidung steht ein ganzer Haufen Weiber, die mit Titten, Arsch und Hinterlist alles nach ihren Vorstellungen vorbereitet haben. Soll ich sie Dir zeigen? Willst Du es sehen?"

Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Tom fegte ein paar Papiere vom Sofa und setzte sich. Er trank sein Bier und starrte an die Decke. Sollte ich höflich sein oder jetzt einfach gehen? Tom war wahnsinnig - eindeutig. Was nützte da noch Höflichkeit? Ich stellte das Bier ab, klopfte ihm auf die Schulter und ging aus der Tür. Er starrte weiter an die Decke und schien meinen Abgang überhaupt nicht wahrzunehmen.

Auf dem Weg zu seiner Ex schaltete ich das Autoradio an. Vaterschaftstests dürfen auch weiterhin nur mit der Erlaubnis der Mutter vorgenommen werden, sagte der Nachrichtensprecher. "Tom ist `ne arme Sau, " dachte ich mir, "wie gut dass er nicht auch noch weiß, wer der Vater seines Kindes ist."

 

Hallo Henry-L,

hat mir gut gefallen, dass der arme Tom so entsetzt über seine "Entdeckung" ist. Dabei hat er doch nur aufgedeckt, was ein schlecht gehütetes Geheimnis ist: Das wir Männer eh nur nach der Pfeife der Frauen tanzen (heißt ja nicht umsonst: hinter jedem starken Mann, stünde eine starke Frau - und schwache Männer werden eben von ihren Frauen verlassen). Das lässt sich natürlich nicht auf jeden Fall anwenden. - aber bei sehr vielen schon.

Nur die wörtliche Rede zweier Personen, würde ich nicht in die selbe Zeile setzen.

Grüße

 

Hallo Henry_L!

Bevor ich auf den Inhalt eingehe, eine kurze Sache zur Form: Ich hätte fast noch nach zwei Absätzen aufgehört zu lesen, weil vor allem in der ersten Hälfte deiner Geschichte alle Sätze unheimlich kurz und abgehackt wirken, was es fast unmöglich macht, in einen Lesefluss hineinzukommen. Bisschen entzerren, mal nen kleinen Relativsatz verwenden etc. wirkt Wunder.

Jetzt zu sagen: "Zum Glück habe ich mich nicht abschrecken lassen vom Weiterlesen" wäre etwas übertrieben. Ich finde die Geschichte in ihrem Grundzug und ihrer Idee, die dahintersteckt nicht schlecht. Durch den letzten Absatz scheint mir angedeutet zu werden, dass der Ich-Erzähler der neue Freund von Toms Ex ist, der zudem auch noch mit höchster Wahrscheinlichkeit diese geschwängert hat. Den Bogen zu schlagen zwischen "einem Haufen Männer" (Politiker), die einen durch die Gesetzgebung schaden, und dabei einen so empfundenen Freund (den Ich-Erzähler) als Mann zu vernachlässigen, der Tom eigentlich noch viel mehr geschadet hat, ist in meinen Augen ziemlich klasse gelungen.

Dennoch kommt für mich die Geschichte in ihrer Gesamtheit schwer in Fahrt, der Überraschungsmoment des letzten Absatzes wird nicht vorbereitet und deshalb bleibt die Geschichte in den ersten 95% recht schwierig und fade zu lesen.
Vielleicht ist dies auch deine Absicht. Vielleicht möchtest du so ein wenig die Kälte dieser "nur Bekanntschaft" herausstellen (die KG steht schließlich auch unter "Gesellschaft"). Doch selbst wenn es Absicht wäre, holpert mir die Geschichte etwas zu sehr und bleibt mir einen Tick zu fad.

Man könnte sie vielleicht ein klein wenig auflockern, in dem auch schon im Haupttext ab und zu mal ein kleiner Hint in Richtung des letzten Absatzes gelegt wird. Der Ich-Erzähler weiß ja um seine Position gegenüber Toms Ex - er könnte subtile Pfeile in Richtung Tom abschießen, ihn in gespieltes Mitleid einwickeln etc - ihn nur zu ignorieren und schnell wegzuwollen von ihm reicht schwerlich aus, um damit eine Kurzgeschichte zu füllen.

Fazit: Grundskelett sehr schön, jetzt noch etwas mehr Fleisch in den Textkörper hineinfüllen.

Nicht grußlos verbleibt
König_Bindehaut

 

Hallo Bindehaut und Ekkelein,

danke für eure Kommentare. Die kurzen Sätze sind ein Stilelement, das ich bewusst verwendet habe. Ist ein Tageszeitungsstil, der normalerweise sehr leicht lesebar ist. Außerdem wollte ich damit eine entsprechende Stimmung aufbauen. Wer kunstvoll verschachtelte Sätze mag, für den ist das natürlich nichts.

Die Anregung, die Beziehung des Ich-Erzählers mit der Ex von Tom schon vorher anzudeuten finde ich gut. Hab ich mir auch schon gedacht, es aber nur bei dem geilen Luder bewenden lassen.

Mich würde wirklich interessieren, ob der Stil mit den kurzen Sätzen auch bei anderen Lesern negativ empfunden wird.

LG
Henry

 
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Hallo Henry,

Mal eine Geschichte mit unerwarteter Pointe. Ich finde auch nicht, dass man das Ende vorher noch irgendwie andeuten müsste (sonst wird's langweilig).
Ebenfalls nicht störend empfand ich den Satzbau am Anfang. Im Gegenteil. Gerade die ersten Sätze sollten ohnehin nicht lang sein.
Dnnoch hätte die Geschichte ohne die Pointe kaum Eindruck auf mich gemacht, denn die krassen Überzeugungen des Durchgedrehten finde ich nicht schlüssig genug erklärt und etwas zu simpel (das ist aber nur meine persönliche Auffassung). Auf die schnelle weiss ich aber nicht, wie man das besser machen könnte :(

Gruß,
HienTau

 

Ich denke auch, dass die kurzen Sätze am Anfang vom Lesen abhalten.

Sicher sind so kurze Sätze Stilelemente. Aber bedenke, sie bringen Tempo in eine Geschichte. Bei so kurzen Sätzen erwartet der Leser, dass die Ereignisse sich überschlagen. Das Geschehen läuft so schnell ab, dass der Leser nicht schnell genug liest, der Autor mit Schreiben nicht nachkommt.
Kannst du machen bei einem Autounfall, bei dem viele Erlebnisse mehrerer Personen gleichzeitig geschildert werden müssen. Oder bei einem Prot, der in Hektik verfällt und tausend Sachen gleichzeitig erledigen muss.

Der Anfang deiner Geschichte ist aber eher ein Bericht. Alles schon passiert, schon gelaufen. Ist nicht mehr zu ändern. Also hast du als Autor auch die Zeit, mir das ordentlich zu erzählen.
Du musst nicht unheimlich verschachtelte Sätze schreiben. Aber ein Nebensatz hier oder da verknüpft die Gegebenheiten miteinander und lässt sie nicht so tabellarisch erscheinen.

Man sagt doch "Show, don't tell".
Ich glaub, du hast ein Drittes geschaffen.
Erzählen ist bah, Bilder sollst du zeigen.
Du vermeidest das Erzählen und zeigst. Aber nicht die Bilder, die ich erwarte, sondern du zeigst mir eine Excel-Tabelle.
...ich glaub, die ist noch trockener als die Erzählung, die du vermeiden solltest.

;)
ok, war hart. Ich weiß, manchmal bin ich gemein. Tschuldigung.

 
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Moinsen!
Die Geschichte ist auf jeden lesenswert. Die Situation der beiden Männer,
gefangen in diesem Raum, stellst du nachvollziehbar dar. Mir gefällt auch die Idee "eine Verschwörung der Titten und Ärsche" ..... ( wenn ich wüsste wie man Smileys macht, stünde hier ein Zwinker Ding ).
Die Poente is für mich nich wirklich verständlich. Kann sein, dass es an meinem mangelnden Intellekt liegt, könnte aber auch sein das des Ende einfach hinkt. Um die Situation zu beschreiben, bedienst du dich an einigen Stilelementen aus Funk und Fernsehn, wie z.B. den vergilbten Zeitungsausschnitten un so ( Beautiful Mind, 23,.....).
Aber da des ziehmlich gut reinpasst und deine Tat auch nicht wirklich verwärflich ist.... vergeb ich dir ( zwinker ).

Fette geschichte, gefällt!

Tschausen, Till.

 

Tolle Geschichte, Henry, echt toll. Nur den ersten Absatz sollst du lieber streichen. Komplett. Nicht wegen der kurzen Sätze, sondern weil er unwichtig ist, jedenfalls nichts bringt, das für Geschichte wichtig wäre. Auch würde ich den Titel ändern – weil er zuviel verrät. Wie wär’s mit: Weiber sind an allem schuld. Das stimmt erstens :D , und zweitens weiß nach dem Lesen eh jeder, daß es sich hier um eine Verschwörungstheorie oder Schizophrenie handelt – Beautiful Mind läßt grüßen.

Auch die überraschende Info am Ende, daß der Ich-Erzähler schon seit längerem die Frau seines Freundes Tom fickt und möglicherweise auch der Vater des Kindes ist, für das Tom aufkommt und weiter aufkommen muß, braucht keine Einleitung oder Erklärung vorweg – sonst wäre das keine Überraschung mehr -, die kleine Bemerkung, die Frau sei ein geiles Luder, ist Hinweis genug.

Dion

 

Hey henry

also mir hat deine Kg wieder spitze gefallen.
Schließe mich allerdings Dion an: erster Absatz sollte weg. Führt gedanklich in eine Richtung, die keinerlei Relevanz hat.
Würde auch keine weiteren Andeutungen fallen lassen, das Luder is jenuch!
Den Titel kannst du ruhig lassen. Macht neugierig und verrät ja nicht das Ende (das übrigens sehr gut kommt!)

Gerade im Vergleich mit deinem Grab bin ich beeindruckt, wie sehr du deinen Schreibstil dem Thema anpassen kannst. *Hut-ab-smiley*

gespannt auf weitere Geschichten
weltenläufer

 

Hallo Henry_L,

gute Geschichte. Der Stil erlaubt ein flüssiges Lesen und die Geschichte erlaubt sich keine verspielten Ausreißer. Gradlinig, knochentrocken und konkret zieht sie mich mit zu der nicht allzu überraschenden Pointe. Aber ich bin kein Maßstab, weil ich Pointen relativ schnell wittere. Dennoch hat es Spaß gemacht, deinen Text zu lesen. Der Einstieg mit den kurzen Sätzen stört mich nicht sonderlich. Habe selbst schon ähnliche Einstiege gewählt (und dafür eins auf die Mütze bekommen). Habe aber auch schon das Gegenteil ausprobiert (und auch eins auf die Mütze bekommen). Ich würde den ersten Absatz nicht streichen, er ist die Tür.

Sehr unterhaltsame Story. Aus einem "kleinen" Thema ziemlich viel heraus geholt.

Grüße von Rick

 

Na schönen Dank auch!
Hier schreibt ja jeder was anderes. Dann lass ich doch mal alles so wie es ist und bedanke mich bei allen für die Auseinandersetzung mit dieser kleinen Geschichte. Ich bin sehr zufrieden, denn es zeigt mir wieder einmal, dass es kein "Schema F" für die perfekte Kurzgeschichte gibt. Gott sei Dank!

LG Henry

 

Hallo Henry_L!

Ich habe deine Geschichte toll gefunden. Zügig dargebracht, mit einem pointierten Ende: Einfach sauber gemacht. Gut dass du den ersten Absatz nicht entfernt hast. Mit den knappen Sätzen machst du schön Tempo, und hältst den Leser bei der Stange.
Ein Vorschlag möge erlaubt sein:
"Tom fegte ein paar Papiere vom Sofa" würde ich überdenken. Klingt Mn nicht besonders gut. Vielleicht: einige, mehrere?
Aber sonst? Hat Spass gemacht.
Liebe Grüße,
Manuela

 

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