Mitglied
- Beitritt
- 24.01.2006
- Beiträge
- 697
Verschwommene Erinnerungen
Das mit den Kopfschmerzen begann gegen Ende des 1. Semesters. Aus dem Nichts heraus. Plötzlich waren sie einfach da. Seitdem kommen sie immer und immer wieder. Dieselbe Stelle. Jedes Mal. Immer an der rechten Schläfe.
„Sie leiden unter Cluster-Kopfschmerzen“, sagte mein Arzt nach der Untersuchung. „Seltenes Phänomen.“, sagte er mit einem Schulterzucken, dass wohl „Pech gehabt“ bedeuten sollte.
Cluster-Kopfschmerzen kündigen sich nicht an. Sie kommen von einer Sekunde auf die nächste. Man liegt an einem sonnigen Frühlingsnachmittag auf einer Blumenwiese. Es riecht nach gemähtem Gras, man schaut in den Himmel und zählt die Wolken. Plötzlich durchbricht ein Düsenflieger die Stille. Das sind Cluster-Kopfschmerzen! Nur, dass sie nicht so schnell wieder verschwinden.
„Stress“, sagte mein Arzt, „kann solche Kopfschmerzen verursachen. Haben Sie Stress?“
Ich lächelte müde und ging. Beim Hinausgehen rief er: „Ich kann Ihnen Aspirin verschreiben. Wird aber vermutlich nichts helfen.“
Wenn man immer starke Kopfschmerzen hat, nimmt man alles wahr, aber nichts wirklich.
Ich muss mich beeilen, sonst bekomme ich den Zug nach Bamberg nicht mehr. Dann ist meine Freundin wieder sauer. Ich werfe hastig meine Sachen in den Koffer und renne zum Bahnhof. Der Zug wartet bereits.
In Bamberg angekommen, begrüße ich meine Freundin: „Hallo Schatz“, sage ich. Sie sagt nichts.
Ich sage: „Ist etwas?“ Verneinendes Kopfschütteln.
Schweigend laufen wir zu ihrer Wohnung. Endlich bricht sie das Schweigen: „Ich dachte, du wolltest schon früher kommen“, sagt sie.
Sie sagt: „Schon gestern!“
Gemeinsame Wochenenden können schöner beginnen.
Ich versuche ihr zu erklären, warum es nicht eher geklappt hat. Aber sie kann oder will es nicht verstehen. Meine Kopfschmerzen werden stärker und ich launischer. Das Restwochenende verbringen wir fast ohne weitere Unterhaltung. Man könnte also fast sagen: harmonisch.
„Tschüss“, sage ich am Sonntag. Sie nickt.
Wieder in Würzburg angekommen, lege ich mich sofort ins Bett. Die Kopfschmerzen sind unerträglich. Bis Montagmittag schlafe ich und fühle mich nach dem Aufstehen trotzdem schlapp.
Ich arbeite, besuche Vorlesungen, lerne, habe Kopfschmerzen und schlafe ein. Die Umwelt nehme ich wie durch einen Schleier wahr.
Am Mittwoch besuche ich meine Eltern in Nürnberg. „Hallo Schatz“, sage ich zu meinem Vater und merke erst da, dass ich nicht in Bamberg bin.
Zuhause bei meinen Eltern sind die Kopfschmerzen erträglich. Nach einem Tag verschwinden sie. Dann muss ich allerdings wieder zurück nach Würzburg.
Ich sitze in der Vorlesung. Der Professor sagt irgendetwas. Ich höre aber nur das Pochen in meiner Schläfe. Ich gehe nach Hause. Kurze Zeit später schlafe ich ein. Als ich aufwache, weiß ich nicht, wo ich bin. Obwohl es mein WG-Zimmer ist, fühle ich mich fremd. Hektisch springe ich auf und laufe in den Flur. „Wo bin ich“, schreie ich die Person an, der ich dort begegne. „Bist du jetzt völlig bescheuert“, ruft mein Mitbewohner und schubst mich weg. Langsam werde ich wieder klar im Kopf. „Tut mir leid“, flüstere ich und flüchte beschämt in mein Zimmer. Dort weine ich so heftig, wie ich es noch nie getan habe.
Mein Handy klingelt. „Wo bleibst du?“, sagt meine Freudin.
Sie sagt: „Wir waren um vier am Bahnhof verabredet.“
Ich schaue auf meinen Radiowecker. 16.35 Uhr. Rot leuchtend und unbestechlich. Ich muss wieder eingeschlafen sein. „Tut mir leid, ich bin wohl noch in Würzburg“, sage ich und merke selbst wie schwachsinnig das klingt.
Ich sage: „Ich nehme den nächsten Zug.“
Sie legt einfach auf. Normalerweise würde ich mich schlecht fühlen, aber die Kopfschmerzen sind so stark, dass sie Emotionen nur schwer zulassen.
Bamberg. 18.45 Uhr. Ich klingele an der Tür meiner Freundin. Sie öffnet, ich entschuldige mich, sie küsst mich. Ich erzähle ihr von den immer schlimmer werdenden Kopfschmerzen. Zum ersten Mal!
„Ich habe mir schon so was gedacht“, sagt sie, hält mich im Arm und weint. Als ich aufwache, hat sie schon gekocht und in der Wohnung duftet es nach gebratenen Würsten und Sauerkraut. Mein Lieblingsessen.
Die Kopfschmerzen haben nachgelassen. Wir essen, gehen ins Kino und spazieren am Ufer der Regnitz entlang. Ein schöner Abend.
Es sollte der letzte für sehr lange Zeit bleiben.
Mitten in der Nacht wache ich auf. Mein Kopf pocht wie nie. „Mikroökonomie ist kein Teilbereich der Makroökonomie“, sage ich zu meiner schlafenden Freundin.
Ich sage: „So ein Schwachsinn. Glaub doch so was nicht!“
Und weiter sage ich: „Ja, lass uns morgen in den Eulenspiegel gehen. Bis acht schaff ich die Hausarbeit auf jeden Fall.“
Von meinem Gefasel wird meine Freundin wach und schüttelt mich.
„Bist du verrückt geworden Ingo“, schreie ich sie an. Dabei schubse ich sie nach hinten. Sie verlässt das Zimmer und ich höre wie sie im Nebenzimmer leise schluchzt.
Allmählich lassen die Kopfschmerzen etwas nach. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Hellblaue Wände, Ikea-Einrichtung. Das heißt, ich bin in Bamberg. Das heißt, ich habe meine Freundin geschubst.
Ich will ins Nebenzimmer gehen und mich bei meiner Freundin entschuldigen. „Verpiss dich“, kreischt sie und schlägt mir die Tür vor der Nase zu.
Ich gehe zum Bahnhof. Es ist 3:42 Uhr. Mit dem ersten Zug fahre ich nach Würzburg und schlafe zwei ganze Tage durch. Die Kopfschmerzen verschwinden mittlerweile nicht mehr. Im Gegenteil. Sie werden immer schlimmer. Ich fahre nach Nürnberg zu meinen Eltern. Während der Zugfahrt verliere ich zum ersten Mal das Bewusstsein. Als ich am Bahnhof abgeholt werde, schaffe ich es gerade noch meinen Eltern davon zu erzählen. Sie werden panisch. Sofort fahren sie mich in Richtung Krankenhaus. Auf dem Weg dorthin schwinden meine Sinne das zweite Mal.
Ich wache auf und fühle mich sehr, sehr müde. Das Licht brennt in meinen Augen. Ich brauche Minuten bis ich sie öffnen kann. Mir tut alles weh. Ich versuche meine Glieder zu bewegen, schaffe es aber nicht. Alles in diesem Zimmer sieht sehr modern aus. Neben mir stehen viele Apparaturen. Manchen blinken, andere piepsen. Eine Schwester betritt pfeifend das Zimmer. Sie schaut mich an und bleibt erschrocken stehen.
Wortlos dreht sie sich um und rennt aus dem Zimmer. Ich versuche ihr Verhalten zu verstehen, kann aber nicht klar denken, weil ich schon wieder so müde werde. Kurze Zeit später betritt ein ganzer Ärztestab das Zimmer.
„Herr Schneider, können Sie mich hören?“, fragt einer der Ärzte. Ja, will ich sagen, bringe aber keinen Ton heraus. Ich versuch zu nicken, was mir anscheinend gelingt.
„Sie lagen im Koma ...“ Pause! ‚Wie lange?’, will ich fragen, ‚Wo sind meine Eltern, meine Freundin?’, will ich fragen.
Kein Ton kommt über meine Lippen.
„Sie lagen sehr, sehr lange.“, sagt er.
Er sagt: „Zwanzig Jahre. Ihre Muskeln haben sich fast vollständig zurückgebildet...“
Was er dann noch sagt, höre ich schon nicht mehr. Plötzlich will ich nur noch länger schlafen. Ganz lange schlafen.