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Verstand und Gefühl
Manchmal möchte ich es ihm sagen. Gestern beispielsweise. Wir trafen uns wieder einmal bei mir, um für eine Klausur zu lernen. Der Stoff war schwer, aber Kai erklärt die Dinge so, dass ich sie schnell begreife. Wir schlugen in Lexika nach, wälzten Grammatiken und interpretierten Textstellen. Später dann legte er den Stift beiseite und erzählte mir von seinem letzten Urlaub. Ich sagte immer weniger und ließ ihn stattdessen reden. Ich sehe ihm gerne dabei zu. Manche finden seine übertriebene Gestik womöglich albern. Ich nicht. Nicht bei Kai.
Während er redete, trank ich ein Glas Wein und zeichnete gedankenverloren den Stiel nach. Ich hörte nicht mehr auf Kais Worte, sondern nur noch auf seine Stimme. Er merkte es und nannte mich eine kleine Träumerin. Ich wurde rot und ich glaube, auch das hat er gemerkt. Wieviel er noch gemerkt hat, weiß ich nicht. Wenn er über seinen Freund spricht, bin ich stiller als sonst. Vielleicht fällt ihm das auf, vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht.
Manchmal möchte ich es sagen, ohne an die Folgen zu denken, manchmal will es einfach raus aus mir.
Einmal war ich kurz davor. Wir fuhren nach dem Kino mit der Bahn nach Hause. Es war spät am Abend und niemand saß in unserer Nähe. Mein Kopf lehnte an seiner Schulter. Durch die Kleidung hindurch spürte ich seine Wärme. Mit geschlossenen Augen lauschte ich seiner Stimme und wünschte, diese Fahrt möge niemals enden.
Doch sie endete. Sie endete, ohne dass ich ihm etwas gesagt hatte. Kai nahm mich zum Abschied in die Arme und küsste mich auf die Wange, ehe er in die andere Richtung davonging.
Meine Tränen sah er nicht mehr. Meine Liebe auch nicht.