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Verstand und Gefühl

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02.01.2002
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Verstand und Gefühl

Manchmal möchte ich es ihm sagen. Gestern beispielsweise. Wir trafen uns wieder einmal bei mir, um für eine Klausur zu lernen. Der Stoff war schwer, aber Kai erklärt die Dinge so, dass ich sie schnell begreife. Wir schlugen in Lexika nach, wälzten Grammatiken und interpretierten Textstellen. Später dann legte er den Stift beiseite und erzählte mir von seinem letzten Urlaub. Ich sagte immer weniger und ließ ihn stattdessen reden. Ich sehe ihm gerne dabei zu. Manche finden seine übertriebene Gestik womöglich albern. Ich nicht. Nicht bei Kai.

Während er redete, trank ich ein Glas Wein und zeichnete gedankenverloren den Stiel nach. Ich hörte nicht mehr auf Kais Worte, sondern nur noch auf seine Stimme. Er merkte es und nannte mich eine kleine Träumerin. Ich wurde rot und ich glaube, auch das hat er gemerkt. Wieviel er noch gemerkt hat, weiß ich nicht. Wenn er über seinen Freund spricht, bin ich stiller als sonst. Vielleicht fällt ihm das auf, vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht.

Manchmal möchte ich es sagen, ohne an die Folgen zu denken, manchmal will es einfach raus aus mir.

Einmal war ich kurz davor. Wir fuhren nach dem Kino mit der Bahn nach Hause. Es war spät am Abend und niemand saß in unserer Nähe. Mein Kopf lehnte an seiner Schulter. Durch die Kleidung hindurch spürte ich seine Wärme. Mit geschlossenen Augen lauschte ich seiner Stimme und wünschte, diese Fahrt möge niemals enden.

Doch sie endete. Sie endete, ohne dass ich ihm etwas gesagt hatte. Kai nahm mich zum Abschied in die Arme und küsste mich auf die Wange, ehe er in die andere Richtung davonging.

Meine Tränen sah er nicht mehr. Meine Liebe auch nicht.

 

Hallo Ginny,

bei dieser kleinen Geschichte verlässt dich für mein Gefühl etwas, was dich sonst im Allgemeinen auszeichnet. Ein Gespür für das Timing von Stimmungen.

Manche finden seine übertriebene Gestik womöglich klischeehaft.
Bei diesem Satz zum Beispiel, kippt die Träumerei glatt weg. Wenn du stattdessen ein einfachse Wort wie "albern" schreiben würdest, oder eine Reaktion wie "Manche lachen über seine übertriebene Gestik" sürde sie bleiben. Mir ist schon klar, dass du mit dem Begriff die Unerreichbarkeit Kais in Folge seiner Homosexualität andeuten willst, aber für mein Gefühl funktioniert das nicht. Außerdem reicht mE dieser Satz dazu völlig aus.
Wenn er über seinen Freund spricht, bin ich stiller als sonst.
Mein Kopf lehnte an Kais Schulter.
Ich mag es sonst ja, wenn Menschen in Geschichten Namen haben. Und dass Kai einen hat finde ich auch gut. An dieser Stelle hat mich die Nennung des Namens aber gestört und ich hätte seiner vorgezogen.
Ich versuche mal, das zu begründen. Deine Prot redet die ganze Zeit über Kai. Wenn du den Namen hier noch mal nennst, nimmst du ohrer Träumerei für mein Gefühl ein Stück der Selbstverständlichkeit, so als ob plötzlich von jemand anderem die Rede wäre. Das trifft es vielleicht nicht, aber besser kann ichs nicht ausdrücken. Bin beim Lesen direkt drüber gestolpert. Alle anderen Namensnennungen sind ok.

Das sind im Grunde nur zwei Stellen, aber die können für den Gesamteindruck bei einer so kurzen Geschichte ja schon sehr entscheidend sein. Und für mein Gefühl würde die Geschichte durch einer Änderung, dieser beiden Stellen an emotionaler Tiefe gewinnen.

Lieben Gruß, sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi sim!

Ich glaub du hast Recht, ausgerechnet bei den beiden Stellen war ich mir unsicher. Hatte zuerst ein "seiner" stehen und dann den Namen hingemacht, weil ursprünglich der vorherige Satz anders war und das "seiner" als Bezugsfehler hätte gesehen werden können ...
Beim Satz mit der Klischeehaftigkeit stimme ich dir auch zu ... bin mir nur noch nicht sicher, ob ich ein anderes Wort wähle, oder ihn ganz streiche, denn natürlich wollte ich damit in der Tat einen ersten Hinweis auf seine Homosexualität liefern - der aber wohl unnötig ist.

Danke für's schnelle Lesen und Kommentieren. :-)

Ginny

 

Hallo Ginny!
Deine kleine Geschichte ist sehr schön und am Besten ist der Schlussatz. Ich kann Dir leider keine fachliche Kritik geben, aber ich finde Deine Geschichte sehr gefühlvoll und kann darin die Liebe, die leider nicht erwidert werden " kann" erkennen.
Lg Jenny

 

Hey, Joe,

eine Frau sehnt sich nach einem Mann, der sie als Freunin liebt, aber nicht mehr. Seine Liebe gehört einem Mann, wenn er über ihn redet, ist sie stiller als sonst, weil es ihr weh tut.

Verstanden? ;)

Lieben Gruß, sim

 

Hey Ginny,
ich bin heute in Herzschmerz-Stimmung, da kommt deine kleine Geschichte gerade recht. Allerdings muss ich Sim zustimmen, wenn er sagt, dass du solche Momentaufnahmen üblicherweise besser verpackst. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mich als "Außenstehender" nicht wirklich in diese Situation hineinversetzen kann. Ein Mädel verliebt sich in ihren besten, schwulen Freund. Klingt für mich irgendwie Ausweglos. Und irgendwie hat mich das wilde herumgestikulieren gestört. Ab dem Zeitpunkt hatte ich keinen Mann mehr im Sinn, sondern eine hibbelige Tunte.

Trotzdem kann ich nicht sagen das mir der Text nicht gefallen hat. Das hat er nämlich irgendwie. Leider unbegründlich :D

Ähh ja, ich warte auf deinen nächsten Shorty!

*Christian*

 

Auch wenn diese Diskussion schon etwas älter ist, möchte ich mal kurz einwerfen, dass ich an der Stelle mit dem Gestikulierungen noch nicht an einen schwulen Mann gedacht hatte. Es gibt auch Leute, die einfach nicht ohne Hände reden können. Sie fuchteln wild in der Gegend rum, um ihren Worten noch mehr Ausdruck zu geben. Oder meine Mutter tippt z.B. immer mit ihrem Zeigefinger z.B. auf einen Tisch, wenn sie etwas extrem verdeutlichen will (das sieht verdammt dumm aus). Ich dachte mir halt eben, dass er vielleicht eine Art "Zappelfillip" ist. Aber an Schwul habe ich in diesem Moment noch nicht gedacht.

 

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