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Verstoßen und verloren – Ende der Wacht
Verstoßen und verloren – Ende der Wacht
„Abführen!“
Immer wieder hörte Thorsten dieses harte Wort in seinen Gedanken. Es war mit solcher Gefühllosigkeit ausgesprochen worden. Und dabei bereute er doch, was er getan hatte! Aber das schien niemanden zu interessieren.
Einer der älteren Insassen kam auf ihn zu. Dem Mann war anzusehen, dass er ein Schwerverbrecher war.
„Du bist neu hier“, stellte er sachlich fest.
Thorsten nickte schüchtern.
„Dann will ich dir mal was sagen…“ Bevor er weitersprach, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er sah mit einem Mal viel freundlicher aus. In seinen Augen lag jetzt etwas wie Güte. „Zwei Jahre sind eine lange Zeit, das ist wahr, aber lebenslänglich ist deutlich länger.“
Thorsten nickte mechanisch.
„Jemand wie ich wird seines Lebens nicht mehr froh. Aber du… du wirst irgendwann wieder ans Licht kommen. Was sage ich, irgendwann – in zwei Jahren, vielleicht sogar früher! Und weißt du was ich glaube?“
„Äh, nein?“
„Ich glaube, wenn man das hier einmal hinter sich hat – und wieder leben darf – dann ist das Leben noch viel schöner als zuvor, weil man erst weiß, was man hat. Außerdem glaube ich in deinem besonderen Fall, du wirst glücklich sein für dein Verbrechen gebüßt zu haben.“
„Äh, ja, … Danke.“
„Nichts zu danken.“
Thorsten konnte es sich nicht erklären woher dieser Mann ihn so gut kannte. Er war sich sicher ihn nie zuvor gesehen zu haben. Und vor allem wusste er nicht wie es dem Fremden gelungen war ihn so sehr aufzumuntern, aber er konnte nicht abstreiten, dass es ihm gelungen war. Und irgendetwas sagte ihm, dass zwei Jahre vielleicht gar keine so lange Zeit waren…
Zwei Jahre – eine lange Zeit?. Fünftausend Jahre waren eine lange Zeit! Umso mehr, wenn man nur da sein musste, aber nicht handeln konnte. Aber um zu handeln war er nicht hier. Wozu er hier war? Um zu wachen. Nein, das beschrieb es nicht verständlich, aber er war auch nicht imstande es verständlich zu beschreiben. Gut, das musste er auch nicht. Oder doch? Hätte er es nicht zumindest gegenüber sich selbst klar definieren können müssen? Nicht nach all der Zeit, nein. Auch er durfte sich wohl zugestehen zu vergessen. Menschen wussten schon mit wenigen Jahren nicht mehr, was sie in den Jahren nach ihrer Geburt getan hatten. Also konnte man ja wohl von ihm nicht erwarten, dass er nach fünftausend Jahren noch genau wusste, was seine Aufgabe war.
Immerhin war er sich sicher, dass man ihm nicht viel abverlangte. Es reichte wenn er die ganze Welt und die Menschen auf ihr im Blick behielt – und nichts anderes tat er seit Anbeginn seiner Wacht; er beobachtete ihr Treiben im Leben und versuchte jenen, die in Depressionen und Elend versanken, Hoffnung zu schenken. Das war nicht einfach, aber er konnte immerhin zu ihnen sprechen und die Weisheit und Einsicht, die ihm als Wächter gegeben waren, ließen ihn Worte finden, die in der Regel selbst da noch halfen, wo Menschen nicht mehr zu helfen wussten. Er kannte durchaus die Verantwortung, die ihm aufgebürdet war, aber das konnte nicht verhindern, dass er seiner Aufgabe müde wurde.
Zu seinem Glück – und vielleicht auch zum Glück der Menschen, die unter dieser seiner Müdigkeit leiden mochten – war das Ende seiner Wacht gekommen. Die fünf Jahrtausende waren verstrichen und er wurde endlich abgelöst. Er würde in die ewigen Reiche seines Meisters zurückkehren – und wieder beginnen können selber zu leben.
Der Abschied fiel ihm nicht schwer. Tatsächlich hatte er das Gefühl, dass ihn nicht mehr viel mit dieser Welt verband. Umso besser, dachte er, und stieg in die Sphären jenseits der Welt auf, wo er bereits erwartet wurde. An dem Ort, wo Formen und Farben nicht mehr existierten und der Raum aus sechs Dimensionen bestand, trat er vor das Wesen der vielen Gesichter und ungezählten Namen. Er selbst nannte dieses Wesen für gewöhnlich einfach „Jenseits“.
Jenseits empfing ihn mit Freundlichkeit und Dankbarkeit, doch lag ein tiefer Schatten in seinem Gesicht. An seiner Seite stand der neu erwählte Wächter, der sich die nächsten fünftausend Jahre Wacht zumuten wollte. Der ausgediente Wächter grüßte beide, reichte ihnen das Herz und wollte seinen Weg fortsetzen, doch der Meister des Seins hielt ihn zurück.
„Wo ist sie?“
Der Wächter sah ihn verständnislos an. „Wer?“
Jenseits wechselte einen Blick mit dem neuen Wächter – ein Blick, der voller Schrecken und Unglauben war. „Du bist hier um die Wacht über die Hoffnung an einen neuen Wächter zu übergeben!“, erinnerte er den Heimkehrer.
Das musste ihm nicht gesagt werden. Das Unverständnis in seinem Blick nahm nur zu. „Ja… ich… ich weiß.“
„Warum übergibst du diesem neuen Wächter hier dann nicht meine Tochter?!“
„Deine Tochter, Meister?“ Eine dunkle Ahnung stieg in ihm auf. Er hatte den Gedanken verdrängt, aber er war da – tief in seinem Bewusstsein drängte das alte Wissen nach vorn.
„Meine Tochter – die Hoffnung!“, bestätigte Jenseits. Auf der Erde mochten die Menschen glauben, dass ihr Gott über solchen Empfindungen wie Verzweiflung stand, doch – wenn denn Jenseits mit dem Gott irgendeines Menschen tatsächlich übereinstimmen sollte, woran es doch gewisse Zweifel gab – war in diesem Moment nicht zu übersehen, dass die Verzweiflung ihn geradezu übermannte.
Das Wissen kam mit all seiner grausamen Kraft zurück. Er war der Hüter der Hoffnung gewesen, ja, aber das hieß nur, dass er in Kooperation mit der Hoffnung selbst auf die Harmonie zwischen den Menschen und der Tochter des Meisters Acht zu geben hatte. Wie hatte er das verdrängen können? Oder, was noch viel wichtiger war…
„Wo ist meine Tochter?!“
Auch die Antwort auf diese Fragen war dem Wächter mit einem Mal wieder zugänglich. Er hatte seine zu bewachende Partnerin verloren. Er hatte es vergessen wollen – es war ihm gelungen.
„Ich… ich weiß nicht…“
„Wie bitte?“
„Sie… war irgendwann einfach verschwunden.“
„Einfach?!“
Nein, erinnerte sich der Wächter. So einfach war es dann doch nicht gewesen. Sie hatte Andeutungen gemacht, war unzuverlässiger geworden… aber das alles änderte nichts daran, dass sie schlussendlich verschwunden war, ohne dass er begriffen hätte weshalb.
Er wollte es seinem Meister, dem Vater der Hoffnung, erklären, doch wie hätte er das anstellen sollen?
Da wandte Jenseits sich ab und entsandte einen Ruf nach seiner Tochter in alle Dimensionen des Raums und in die raumlosen Reiche jenseits des Jenseits.
Die Hoffnung kam.
„Es ist nicht seine Schuld“, erklärte sie, indem sie vor ihren Vater trat.
„Ich möchte nicht wissen wer aus wessen Sicht Schuld trägt.“ Jenseits war zwischen Freude und Hoffnung und neuer Verzweiflung gefangen. „Ich möchte verstehen.“
„Nenn es wie du willst, es wird immer das gleiche sein, das ich dir erzählen werde. Dein Wächter hat seine Arbeit getan so gut er konnte. Doch lag es nicht länger an ihm die Hoffnung in der Welt zu erhalten. Es sind die Menschen, die sich von mir abgewandt haben. Sie suchen nach etwas, dass sie Hoffnung nennen, aber ich kann ihnen diese Hoffnung nicht geben. Ihr Verständnis von Hoffnung hat sich gewandelt, oder wenn nicht ihr Verständnis, so zumindest doch der Sinn, der folgerichtig nun hinter der Hoffnung stünde. Aber ich lasse mich nicht verformen – wenigstens nicht von der Menschheit. Die Menschen sind nicht mehr wie du sie geschaffen hast, das weißt du, aber ich fürchte sie sind nicht einmal mehr so wie du sie siehst. Sie haben immer unerfüllte Wünsche. Und das ist der Grund warum es keine Hoffnung mehr für sie geben kann: sie strapazieren mich über bis in die Unmöglichkeit. Und die leidet – wie die meisten meiner Geschwister – schon mehr als genug!“
„Was heißt das – sie leidet?! Was können die Menschen ihr anhaben? Sie haben doch keine Macht über die Geschöpfe dieser Ebene!“
„Offensichtlich wissen sie nicht, dass sie keine Macht haben! Die Menschen versuchen mit allen Mitteln die Unmöglichkeit und viele andere zu zerstören. Mit mir wollen sie das vielleicht nicht machen – nicht bewusst – aber ich lasse mich nicht zu ihrem Werkzeug machen. Ich bin dazu da aus Krisen herauszuhelfen und die Menschen zu befriedigen, aber du kannst sie nicht mehr befriedigen. Mit du meine ich natürlich ich, wenn ich auch bezweifle, dass du es noch könntest. Jedenfalls haben sie immer neue Ziele und ein Hoffen, das kein Ende finden kann, ist kein Hoffen mehr. Das bin nicht mehr ich, Vater. Deshalb bin ich geflohen. Im übrigen bin ich mir sicher, dass ich nicht die Letzte sein werde. All deine Kinder, die du zur Behütung dieser missratenen Geschöpfe – tut mir Leid, soll keine Kritik an dir sein – ausgesandt hast, werden nach und nach zu dir zurückkehren. Und wenn dein letztes Kind die Sphären der Menschheit verlässt, in spätestens diesem Moment wird die Menschheit selbst ebenso enden. Denn nur noch ihre eigenen Geschöpfe wie Gier und Neid, und all diese widerwärtigen Gestalten, werden ihnen geblieben sein und dann ist ihre Lebensfähigkeit erloschen.“
„Das ist die dunkelste Prophezeiung, die je ausgesprochen wurde“, stellte Jenseits erschüttert fest.
Seine Tochter schüttelte den Kopf. „Ich habe von Menschen schon ganz andere gehört.“
Lange standen sie da und schwiegen. Der Wächter versuchte noch recht erfolglos sich darüber klar zu werden, wie er selber dazu stand. Er verstand die Anklage, welche die Hoffnung gegen die Menschen erhoben hatte, aber er teilte ihren Absolutheitsanspruch nicht. Jetzt, da er nicht mehr unter ihnen weilte, wurde ihm erst wirklich klar, dass er die Menschen – einige unter ihnen – gemocht hatte. Da war zum Beispiel diese niederländische Tierschützerin gewesen, für die es immer Hoffnung gegeben hatte, weil sie sie sich selbst eingeredet hatte. Und nicht nur sich, sondern auch allen, die auf ihrer Seite standen – genau genommen sogar allen, die nicht gegen sie waren. Ja, das war eine resolute und einfühlsame Frau gewesen – und attraktiv dazu. Nein, jetzt schweifte er ab! Obwohl… hatte er sich nicht lange genug verboten zu denken?!
„Vielleicht“, wagte der für die Zukunft angedachte Wächter sich einzumischen, „müsste man den Menschen nur die Todesangst nehmen. Ein Leben nach dem Tod oder etwas ähnliches – ist das nicht noch immer die größte Hoffnung der meisten Menschen?“
„Und den Tod würden wir dabei belassen wie er ist?“ fragte Jenseits zweifelnd.
„Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht einmal wie er jetzt ist.“
„Das weißt du nicht?“
„Nein; hat mich nie interessiert.“
„Die Todesangst darf ihnen nicht genommen werden“, entschied die Hoffnung. „Das ist das Einzige, was sie im Zaum hält. Ich möchte mir die Folgen nicht ausdenken, wenn sie ihnen genommen würde!“
„Und so eine Feststellung von der Hoffnung persönlich!“
Die Hoffnung zuckte die Schultern. „Warum auch nicht. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die Abschaffung der Todesangst die Abschaffung der Hoffnung zwangsläufig mit sich führen würde – na ja, wenn sich die Hoffnung nicht schon selbst abgeschafft hätte, versteht sich.“
„Also bleibst du bei deiner Entscheidung?“ fragte Jenseits. „Du willst nicht in die Welt zurückkehren, auch wenn das bedeutet, dass die Menschen ins Dunkel fallen?“
„Es war nicht meine Entscheidung. Sie haben sie selbst getroffen.“
„So oder so, die Sache ist damit beschlossen. Damit hat auch die Wacht über der Hoffnung in jener Welt für immer ein Ende. So sei es.“
Damit wandte er sich ab und entfernte sich. Mit dieser Einfachheit ging die Hoffnung für die Menschen für alle Zeiten verloren.
Der alte Wächter aber blieb zurück. Die gesprochenen Worte hallten in seinem Kopf nach. Er mochte sie noch immer nicht recht begreifen. Lange stand er da und wartete, ohne zu wissen worauf. Da aber niemand kam, um mit ihm Rat über die getroffenen Entscheidungen zu halten, traf er schließlich selbst eine Entscheidung. Er stritt nicht ab, dass die Menschheit sich verändert hatte, aber er war zu der Überzeugung gelangt, dass sie nicht die einzige war. Er hatte das Gefühl, dass auch die Hoffnung in ihrem Selbstverständnis nicht mehr ganz die selbe war wie einst, dass auch diese Sphäre des Jenseits der Veränderung in zunehmendem Maße unterlag. Und nicht zuletzt hatte er den Eindruck, dass er selbst sich in der Zeit seiner Wacht verändert hatte. Ob wissentlich oder unwissentlich, die Hoffnung hatte etwas von ihrer heiligen Macht auf ihn abgegeben. Auch wenn er in den letzten Jahrhunderten seiner Wacht nicht mehr sehr aktiv gewesen war, so hatte er doch Menschen Hoffnung gegeben – und das obwohl die Hoffnung selbst die Welt bereits verlassen haben wollte. Ein Lächeln erfüllte sein Gesicht und seinen Geist. Ja, er hatte sich verändert, hatte einen Teil jener Macht übernommen, die zuvor ein einziges Wesen inne gehabt hatte. Auch er wandte sich nun zum Gehen, doch folgte er nicht der Hoffnung und ihrem Vater, sondern wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, den Sphären der Welt wieder entgegen.
Die Hoffnung konnte sich so verraten fühlen wie sie wollte, noch war die Welt nicht am Ende. Und auch wenn die Wacht über die Hoffnung für beendet erklärt sein mochte, die Wacht über die Welt würde er fortsetzen. „Hoffnung gibt es immer!“, wie die niederländische Tierschützerin mit dem aufmunternden Blick so schön zu sagen pflegte. Sie hatte ja so recht…