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Verstummte Seele
Sie hörten seine Schritte auf dem Flur. Still und starr lagen sie in ihren Betten und kniffen die Augen zu. Beide hofften, er würde vorbeigehen, doch vor ihrer Tür rissen die Schritte ab. Der Türgriff gab ein leises Geräusch von sich , als er ihn herunterdrückte. Beide wussten, dass jetzt ein schmaler Streifen gelbes Licht in ihr Zimmer und auf ihre Betten fiel, der immer breiter wurde. Mit leisen, schweren Schritten trat er in das Zimmer. Luisa öffnete die Augen, einen Spalt breit, als sie ihn durch den Raum gehen hörte. Vor dem Bett ihres Bruders blieb er stehen. Sie spürte, dass auch Ben wach, aber regungslos, dalag. Flüsternd richtete er seine Worte an Ben, der sich langsam im Bett aufrichtete. Ihr Bruder schlüpfte in seine Hausschuhe und stand auf. Ben wurde aus dem Zimmer geführt. In dem Moment, als sie an Luisas Bett vorbeigingen, hatte ihn die übliche Leere bereits ergriffen. Seine Augen waren grau und matt. Luisa ahnte, dass er es nur so ertragen konnte. Sie jedoch konnte es nicht ertragen. Beinahe jeden Abend war es die gleiche Prozedur. Seit drei Jahren schon. Nie hatte er sie in die geheimen, nächtlichen Vorgänge eingeweiht. Einmal war sie ihnen nachgeschlichen. Er brachte Ben immer in den Keller. Dort er ihnen einmal seine Videokamera gezeigt. Immer, wenn er mit Ben dort runtergegangen war und Ben wieder in seinem Bett lag, weinte er noch lange. Nie hatte er erzählen wollen, was er ihm antat. Das Einzige, was er auf ihre Fragen je geantwortet hatte, war, dass er ihm sehr traurige Filme zeigte.
Sie hatte mit angesehen, was wirklich passierte: Die Wände waren mit Eierverpackungen beklebt und ein Bett stand mitten im Raum, daneben die Kamera...Ben hatte sich ausziehen müssen und auch er zog sich aus. Danach hatte er die Kamera angeschaltet und zu ihrem Bruder gesagt, wenn er nicht still sei und täte was ihm gesagt wurde, würde er sie, Luisa, tot machen. Ben hatte geweint und gefleht, doch er hatte ihn nur geohrfeigt und streng auf das Bett gewiesen.
Anfangs hatte er noch geschluchzt, dann nur noch gewimmert. Zuletzt hielt er nur noch still und seine Tränen fielen stumm. Am Ende gab er dann gar nichts mehr von sich. Ihr Stiefvater hatte die ganze Zeit gestöhnt, als habe er Schmerzen. Luisa fand das ungerecht, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass er Schmerzen hatte. Ben hingegen litt Qualen. Das sah sie ihm an.
Als alles vorbei war, zog er sich an und Ben auch. "Vergiss nicht, das ist unser kleines Geheimnis", sagte er zu ihrem Bruder, der mit leerem Blick vor sich hin starrte "Man darf Geheimnisse nicht weitersagen. Wer sowas macht, wird bestraft. Du kennst die Strafe?", fragte er ihn. "Dann tust du Luisa weh", antwortete er tonlos. "Genau. Du hast deine kleine Schwester doch lieb, nicht wahr?" In dem Moment hatte sie seine Hilflosigkeit begriffen. Er erpresste Ben mit seiner Liebe zu ihr. Sie hatte die ganze Nacht geweint und versucht, eine Möglichkeit zu finden, ihrem Bruder zu helfen. Ihr wurde allerdings schnell klar, dass das niemand konnte.
Auch in dieser Nacht kam Ben wieder ins Zimmer. Er legte sich ins Bett, doch er weinte nicht sonst. Nachdem ihr Stiefvater gegangen war, krabbelte sie aus dem Bett und kroch zu ihrem Bruder unter die Decke und hörte ihn leise atmen. Er rührte sich nicht und obwohl sie erst sechs Jahre alt war, fühlte sie, dass Ben heute Nacht gestorben war.