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Verstummte Seele

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16.02.2010
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Verstummte Seele

Sie hörten seine Schritte auf dem Flur. Still und starr lagen sie in ihren Betten und kniffen die Augen zu. Beide hofften, er würde vorbeigehen, doch vor ihrer Tür rissen die Schritte ab. Der Türgriff gab ein leises Geräusch von sich , als er ihn herunterdrückte. Beide wussten, dass jetzt ein schmaler Streifen gelbes Licht in ihr Zimmer und auf ihre Betten fiel, der immer breiter wurde. Mit leisen, schweren Schritten trat er in das Zimmer. Luisa öffnete die Augen, einen Spalt breit, als sie ihn durch den Raum gehen hörte. Vor dem Bett ihres Bruders blieb er stehen. Sie spürte, dass auch Ben wach, aber regungslos, dalag. Flüsternd richtete er seine Worte an Ben, der sich langsam im Bett aufrichtete. Ihr Bruder schlüpfte in seine Hausschuhe und stand auf. Ben wurde aus dem Zimmer geführt. In dem Moment, als sie an Luisas Bett vorbeigingen, hatte ihn die übliche Leere bereits ergriffen. Seine Augen waren grau und matt. Luisa ahnte, dass er es nur so ertragen konnte. Sie jedoch konnte es nicht ertragen. Beinahe jeden Abend war es die gleiche Prozedur. Seit drei Jahren schon. Nie hatte er sie in die geheimen, nächtlichen Vorgänge eingeweiht. Einmal war sie ihnen nachgeschlichen. Er brachte Ben immer in den Keller. Dort er ihnen einmal seine Videokamera gezeigt. Immer, wenn er mit Ben dort runtergegangen war und Ben wieder in seinem Bett lag, weinte er noch lange. Nie hatte er erzählen wollen, was er ihm antat. Das Einzige, was er auf ihre Fragen je geantwortet hatte, war, dass er ihm sehr traurige Filme zeigte.
Sie hatte mit angesehen, was wirklich passierte: Die Wände waren mit Eierverpackungen beklebt und ein Bett stand mitten im Raum, daneben die Kamera...Ben hatte sich ausziehen müssen und auch er zog sich aus. Danach hatte er die Kamera angeschaltet und zu ihrem Bruder gesagt, wenn er nicht still sei und täte was ihm gesagt wurde, würde er sie, Luisa, tot machen. Ben hatte geweint und gefleht, doch er hatte ihn nur geohrfeigt und streng auf das Bett gewiesen.
Anfangs hatte er noch geschluchzt, dann nur noch gewimmert. Zuletzt hielt er nur noch still und seine Tränen fielen stumm. Am Ende gab er dann gar nichts mehr von sich. Ihr Stiefvater hatte die ganze Zeit gestöhnt, als habe er Schmerzen. Luisa fand das ungerecht, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass er Schmerzen hatte. Ben hingegen litt Qualen. Das sah sie ihm an.
Als alles vorbei war, zog er sich an und Ben auch. "Vergiss nicht, das ist unser kleines Geheimnis", sagte er zu ihrem Bruder, der mit leerem Blick vor sich hin starrte "Man darf Geheimnisse nicht weitersagen. Wer sowas macht, wird bestraft. Du kennst die Strafe?", fragte er ihn. "Dann tust du Luisa weh", antwortete er tonlos. "Genau. Du hast deine kleine Schwester doch lieb, nicht wahr?" In dem Moment hatte sie seine Hilflosigkeit begriffen. Er erpresste Ben mit seiner Liebe zu ihr. Sie hatte die ganze Nacht geweint und versucht, eine Möglichkeit zu finden, ihrem Bruder zu helfen. Ihr wurde allerdings schnell klar, dass das niemand konnte.
Auch in dieser Nacht kam Ben wieder ins Zimmer. Er legte sich ins Bett, doch er weinte nicht sonst. Nachdem ihr Stiefvater gegangen war, krabbelte sie aus dem Bett und kroch zu ihrem Bruder unter die Decke und hörte ihn leise atmen. Er rührte sich nicht und obwohl sie erst sechs Jahre alt war, fühlte sie, dass Ben heute Nacht gestorben war.

 
Zuletzt bearbeitet:

Moikka LamiaLacrima,

und willkommen in Gesellschaft!

Auch wenn man das von anderen gesellschaftsrelevanten Themen nicht sagen kann, repräsentiert hier im Forum die Anzahl der Geschichten zu sexueller Gewalt gegen Kinder wohl die Opferstatistik. (Ohne damit sagen zu wollen, daß jeder der Texte autobiographisch sei.)

Du hast Dich eines extrem schwierigen Themas angenommen - nicht, weil dies ein Tabuthema wäre, sondern weil entsprechende Geschichten meistens von einer entsetzlichen Gleichförmigkeit geprägt sind.

Erstmal ist das setting stets gleich gewählt: Nacht, Schlafzimmer, verängstigte Kinder, unschuldig und tot-traurig, irgendein vollkommen anonymer, brutaler Täter (Vater, Stiefvater, Onkel), 'getötete Seele'-Thematik, Ende. Zeit ist hier & jetzt, live dabei. Aber immer hübsch distanziert - nämlich in Worthülsen verpackt. Damit meine ich u.a. sowas:

Mit leisen, schweren Schritten trat er in das Zimmer.
Leise und schwer bei Schritten widerspricht sich zudem
hatte ihn die übliche Leere bereits ergriffen. Seine Augen waren grau und matt. Luisa ahnte, dass er es nur so ertragen konnte.
Ben hatte geweint und gefleht, doch er hatte ihn nur geohrfeigt und streng auf das Bett gewiesen.
Zuletzt hielt er nur noch still und seine Tränen fielen stumm.
Sie hatte die ganze Nacht geweint und versucht, eine Möglichkeit zu finden, ihrem Bruder zu helfen. Ihr wurde allerdings schnell klar, dass das niemand konnte.
Er rührte sich nicht und obwohl sie erst sechs Jahre alt war, fühlte sie, dass Ben heute Nacht gestorben war.
Dabei wird eines vergessen: Wir wissen alle, daß so etwas existiert, haben vllt. solches selbst erlebt, Fälle im Familien- und/oder Freundeskreis. Wenn nicht, haben wir Informationen darüber aus den Medien/Büchern erhalten. In einer Kurzgeschichte reicht es daher nicht aus, diese Fakten in einer Aufzählung zu bringen.

Was mich aufrüttelt, ist eine eigenwillige, harte Sprache; eine direkte, innovative Art & Weise, das Thema zu vermitteln. Ein Erzählfluß, der es mir unmöglich macht, mich von den Figuren, vom Geschehen, zu distanzieren. Das ist nicht zu erreichen, indem man dem Täter keinen Namen gibt, und ihn zu einem gesichtslosen "er" macht. Die Identität des Täters macht doch keine Pointe, das war doch sonnenklar.

Du hast Dir hier, dadurch, daß es sich um einen Jungen handelt, noch ein zusätzliches Problem eingebrockt: Du mußt ständig er ihm er verwenden, damit entstehen häßliche Satzreihen, teils Konfusion wer was wo.
Sogar mit der Türklinge ergibt das Eigenartiges, zumal das 'Geräusch von sich geben' aktiv ist, ein lebendiges Etwas etwas erfordert:

Der Türgriff gab ein leises Geräusch von sich, als er ihn herunterdrückte.

Angrenzende Thematiken kommen mir zu kurz: Die Psychologie der Abhängigkeit in Familien; die Zerrissenheit/Schuldgefühle der Opfer, wenn der Täter einmal wirklich liebevoll (= nicht sexualisiert!) mit ihnen umgeht; Körperzustände, Körpergefühl, Dissoziation erlebbar gemacht, nicht nur behauptet, undundund.

Mich interessieren keine herzzereißenden Klischees von toten Augen und weinenden Kindern, auch wenn das existieren mag. Wenn mir die Kinder in dieser penetranten Opferrolle präsentiert werden, macht mich das aggressiv. Die Opfer werden mir schlichtweg sofort unsympathisch, was jegliches Mitgefühl abwürgt. Ich möchte mir zu einem Thema keine Haltung aufzwingen lassen, die ich eh schon habe. Ich will, daß mich das Thema an der Gurgel packt und nicht mehr losläßt.

Qual kann man nunmal nicht mit Kitsch ausdrücken.

Die Geschichte würde sehr gewinnen, wenn Du sie sowohl inhaltlich wie sprachlich nochmal überarbeiten würdest. Dasselbe gilt auch für Deine anderen beiden Texte. Du wählst potentiell spannende Themen, aber sie ertrinken in Klischees, das ist sehr schade.

Rein subjektiver Tip: Auf dieser site gibt es einen Text zum Thema sexueller Gewalt in der Kindheit, den ich stilistisch perfekt gewählt und wirklich gut finde. In eben dieser Rohheit. Wenn Du Interesse hast, schau mal hier rein. (Will nicht sagen, 'mach es ganz genauso', aber Dir einen anderen Ansatz aufzeigen).


Ansonsten würde ich Dir empfehlen, Deine Texte erst zu überarbeiten, bevor Du neue postest; so lernt man schneller ;). Auch hilfreich ist es, sich hier umzulesen, die Kritiken anzuschauen, sich selbst mit Fremdtexten kommentierend auseinanderzusetzen.

Herzlichst,
Katla

 

Hallo LamiaLacrima!

Ich habe deinen Text gerade erst entdeckt, und er hat mir außerordentlich gut gefallen.
Ich bin durchaus der Ansicht, dass eine Türklinke schon mal ein Geräusch von sich geben kann (aus Sicht des Kindes stellt sie vielleicht tatsächlich etwas Lebendiges dar, nämlich den Vorboten dessen, was nun folgen wird).
Auch der Gegensatz zwischen leisen und schweren Schritten hat mir gut gefallen, denn es symbolisiert in gewisser Weise den leisen (da von außen unbemerkten) Einbruch in das Leben der Kinder, der aus deren Perspektive doch so schwerwiegend ist.
Generell hat mir deine Sprache gut gefallen, ich bin nicht der Ansicht, dass immer alle Details geschildert werden müssen, das hier ist schließlich kein seitenlanger Roman, sondern eine Kurzgeschichte. Deswegen muss der "ER", der sich allnächtlich an Ben vergreift, auch nicht genauer beschrieben werden - es ist der Fantasie des Lesers überlassen und gewinnt dadurch an Eindringlichkeit, da man sich die offene Frage selbst beantworten muss.
Ich finde nichts langweiliger als eine Kurzgeschichte, in der alle Fragen beantwortet werden. Übrigens war auch schon Hemingway dieser Ansicht, er vertrat die Theorie des Eisbergs, die besagt, dass vieles ungesagt bleiben sollte und es Aufgabe des Lesers ist, die Antworten selbst zu finden.
Deine Geschichte ist nicht kitschig, da war kein Herz-Schmerz und kein Gejammere, und sie hat mich sehr berührt.
Großes, großes Lob!

Liebe Grüße,
Sommerhimmel

 

Hallo LamiaLacrima,

ich hoffe, dass ich dich jetzt nicht entmutige, aber auf mich wirkt dein Text viel zu bemüht. Du willst aussagen, wie furchtbar sexuelle Gewalt von Kindern ist. Das tust du auch, aber viel zu vordergründig: Du legst den Fokus deines Textes auf die Gefühle, die du beim Leser erreichen willst und nicht auf Handlung, Figuren etc. Und genau weil du unbedingt erreichen willst, dass der Leser denkt "Die armen Kinder, wie schrecklich!", benutzt du, entschuldige bitte, abgedroschene Formulierungen, die mich irgendwie an die Bild-Zeitung erinnern.

Bitte versteh das nicht als Verriss; es ist keiner. Ich habe durchaus Respekt für den Versuch, sich einem derartigen Thema zu nähren. Aber: Mach es anders. Trau dich vor allem, ausgetretene Wege zu verlassen. Versuch es mit einer anderen Perspektive, mit einem anderen Anfang. Lass deine Figuren lebendiger werden, gib ihnen Gesicht und Stimme.

 

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