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Vertigo

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23.01.2005
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Vertigo

Vertigo

Ich frage mich, wie oft ich schon auf diesem oder einem ähnlichen Stuhl gesessen und eine dieser Knochennachbildungen angestarrt habe. Alles um mich herum verschwimmt, während ich ihn minuten-, vielleicht stundenlang fixiere. Ich muss mich zwingen, woanders hinzuschauen. Auf den Stiftehalter, der nahezu leer ist etwa, Tastatur, Maus, das Stethoskop oder diese immer gleiche Metallkugelkonstruktion, die auf keinem Ärzteschreibtisch zu fehlen scheint. Die Lampen an der Wand - das milchige Glas, die seltsamen Höhlenmenschen mit Speeren in wurfbereiter Haltung oder als würden sie einfach nur tanzen, einen Kriegstanz oder so etwas, darin eingearbeitet. Die Wand dahinter ist brombeerfarben, wie auch etwa die Hälfte des Büros. Das soll wohl beruhigend wirken. Der Rest ist weiß.
Geduldig sehe ich einem Regentropfen dabei zu wie er sich langsam vom Giebel des Hauses löst und schließlich heruntertropft.
Dann geht die Tür auf und er kommt herein, wie immer noch einige medizinische Fachausdrücke der Sprechstundenhilfe diktierend, die wohl den letzten Patienten betreffen. Er bleibt unmittelbar neben mir stehen, grinst übermäßig und streckt mir seine Hand entgegen. Ich sage „guten Tag“ und frage mich, warum meine Stimme so metallisch klingt, während ich in der Jackentasche nach meinem Hausschlüssel taste. Er müsste wissen, dass ich ihm nie die Hand gebe. Ich vermeide jeglichen Körperkontakt zu fremden Menschen. Es ekelt mich einfach zu sehr. Stattdessen tut er erstaunt und lässt sich mit einer weltmännischen Geste, die mich zum Platz nehmen auffordert, in seinen Stuhl fallen. Auch ich setze mich wieder hin und sehe ihm dabei zu, wie er meine Daten im Computer studiert. Dann fängt er an zu reden. Er redet und redet. Ich kann nicht anders, als die verschlungene Skulptur auf seinem Schreibtisch anzustarren.
Drei lang gestreckte Figuren, die einander die Hände reichen. Und ich denke an sie. Ich denke an den Tag auf dem Markt mit ihr. An den marokkanischen Händler, den sie um mindestens 30% heruntergehandelt hat, so wie sie immer jeden in Grund und Boden diskutieren konnte.
Ich denke immer daran, wenn ich hier bin. Und ich denke auch immer daran, wie ich es ihr gesagt habe. Wir standen in der Küche ihrer Wohnung und stritten. Sie hatte wieder einmal angefangen, mir sämtliche Fehltritte unserer gemeinsamen Jahre vorzuhalten. Dieses Mal war sie besonders aufgebracht.
Ich drehte mich weg.
„Ich habe einen Tumor. Im Gehirn.“
Sie sagte nichts.
„Wahrscheinlich bösartig.“
„Was…warum hast du nichts gesagt?“
Ich zuckte mit den Schultern und gab dem Bedürfnis nach, mir über die Lippen zu lecken. Vorsichtig schaute ich sie aus dem Augenwinkel an. Sie hielt noch immer das rot-weiß karierte Geschirrtuch in der Hand, mit dem sie zuvor wild herumgewedelt hatte. Langsam strich sie sich eine Strähne ihrer dunklen, lockigen Haare aus der Stirn und trat einen Schritt auf mich zu. Sie legte ihre Hand auf meine Wange und sagte, „Ich bin da.“
Stille ist eingetreten. Ich sage nickend „ja“, räuspere mich und sehe nach unten. Er murmelt einige Höflichkeitsfloskeln, hält mir nochmals die Hand hin und lächelt. Während ich am Empfang meine Termine für die nächste Woche vereinbare, überlege ich, ob es nicht an der Zeit wäre, mir einen anderen Arzt zu suchen.
Inzwischen hat es wieder angefangen zu regnen. Ich überquere ohne Eile den Marktplatz und kaufe mir in einer Bäckerei ein Laugencroissant, obwohl ich keinen Hunger habe. Als wir auf diesem Fest waren, gab es einen Wolkenbruch. Wir flüchteten uns unter einen der Stände, dessen Dach die Wassermassen nur begrenzt halten konnte. Irgendwann gab es nach. Meine Haare klebten strähnig an der Stirn, mir stand das Wasser in den Schuhen und durch meine Brille konnte ich kaum noch etwas sehen. Und sie lachte.
Wir kannten uns erst wenige Wochen und ich war beeindruckt von ihr. Von ihrer Souveränität, ihrer Leichtigkeit. Ich wusste, ich würde mich auf sie stützen können. Sie war diejenige, die ein Gespräch führen, einen ganzen Abend gestalten konnte. Sie konnte mit Menschen umgehen. Eine Fähigkeit, die mir, wie ich schon einige Male leidvoll erfahren musste, vollkommen abgeht.
Ich werfe das Croissant in einen Mülleimer und gehe ziellos weiter.
Nachts kann ich kaum schlafen. Wenn ich liege werden die Kopfschmerzen unerträglich. Deswegen stehe ich auf, laufe herum, gehe spazieren. Am Anfang ist sie mitgekommen. Sie hat sich frei genommen, wir sind herumgelaufen und haben geredet. Inzwischen ist das anders. Es ist ihr wohl einfach lästig geworden. Die sich ständig wiederholenden Arztbesuche, Tage, die sich nur im Datum unterscheiden.
Ich bin schon mindestens eine halbe Stunde unterwegs, als ich bemerke, dass ich auf dem Weg zu unserem Platz bin. Einer Stelle am Ufer des Flusses, fast wie eine kleine Bucht, sandig und zum Teil mit Geröll bedeckt. Man könnte von dort direkt ins Wasser gehen, wenn man wollte. Ich bleibe stehen und denke darüber nach, ob ich weitergehe oder umkehre.
In der Mitte der Brücke bleibe ich stehen. Ich stütze mich auf die
Brüstung. Der Lack ist fast vollständig abgesplittert. Und ich schaue nach unten.
„Es ist aus!“ Wir waren essen, gerade auf dem Heimweg. Sie rannte fast und ich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Der Wind wehte ihre Haare nach hinten.
„Was? Wie meinst du das?“
Sie blieb unvermittelt stehen.
„Wie ich das meine?“
Sie lachte spöttisch. „Ich werde dich verlassen“
Es ist seltsam. Ich erinnere mich an Details, daran, wie sie eine Augenbraue hochzog, daran, wie sie mit dem Zeigefinger ihren Daumennagel bearbeitete, wie sie es immer tat, wenn sie in einer unangenehmen Situation war, aber was sonst noch? Was ist sonst noch passiert? Was hat sie gesagt?
„Ich werde dich verlassen, weil ich damit nicht mehr klar komme. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du sterben musst.“
Hat sie das gesagt?
„Ich habe mit deinem Arzt geredet.“
Der Arzt. Ich sehe ihn vor mir mit seiner gestreiften Krawatte und der randlosen Brille. Er fährt sich am Kinn entlang und zuckt ständig mit den Augen. Was hat der Arzt ihr gesagt?
„Ich mache das nicht mehr mit. Ich werde dir nicht mehr zusehen, wie du von einem Arzt zum anderen rennst. Ich habe mit deinem Arzt geredet.“
Ich umfasse das Geländer fester. Das Wasser sieht grau aus.
„Er hat gesagt, ich würde dir damit nicht helfen. Und ich habe es satt, darüber nachzudenken, wie ich dir helfen kann.“
Was hat der Arzt mir gesagt?
Er rückt sich die Brille zurecht und lächelt milde. Seine Stimme klingt fest und eindringlich.
„Wir haben bei unseren Untersuchungen nichts feststellen können. Sie sind körperlich vollkommen gesund.“
Ich schaue in die Tiefe, auf das Wasser.
Alles dreht sich.

 

Hallo pennylane!

Herzlich willkommen auf kg.de!

a. Kleinkram

Alles um mich herum verschwimmt, während ich ihn minuten-, vielleicht stundenlang fixiere.
Du beziehst das *ihn* wohl auf
eine dieser Knochennachbildungen
, das ist so aber von der Grammatik her falsch und deshalb auch leicht irreführend.

Wenn ich liege, werden die Kopfschmerzen unerträglich

Ich bin schon mindestens eine halbe Stunde unterwegs, als ich bemerke, dass ich auf dem Weg zu unserem Platz bin. Einer Stelle am Ufer des Flusses
Im folgenden ebschreibst Du dann aber, daß Dein Prot
In der Mitte der Brücke
steht. Das passt nicht zusammen.

„Wir haben bei unseren Untersuchungen nichts feststellen können. Sie sind körperlich vollkommen gesund.“
Das war mir vorher schon deutlich. Früher hätte man egsagt: Der eingebildete Kranke. Aber ich frage mich: Was sind das für Ärzte, die nicht einmal in der Lage sind, auf den subjektiven Zustand eines Patienten einzugehen Ich habe einige Erfahrung damit und deshalb habe ich Deine Geschichte gerne gelesen. Das Ende ist sehr offen und damit vielleicht auch unbefriedigend, da sich aus Deiner Charakterzeichnung nicht hinreichend ergibt,w as der Prot jetzt unternehmen wird. ich neige dazu, zu sagen: Er wird so weitermachen, wie bisher. Und das wäre dann eben mein Kritikpunkt: Man könnte den Prot deutlicher zeichnen: Die Kopfschmerzen nennst ddu einmal, beinahe beiläufig. Wie ist dein Prot sonst: Arbeitet er (Vermutlich nicht, aber das muss man raten), akk er irgendwie mit seiner Krankheit umgehen, was bedeuten ihm die Arztbesuche (das klingt jetzt sehr ambivalent -er sucht anscheinend ständig neue Ärzte auf, hört aber gar nicht zu).

Also: interessante Idee, auch lebendig geschrieben, aber ausbaufähig.

Lieben Gruß

Jo

 

Hallo pennylane und - wenn auch etwas verspätet - herzlich willkommen auf kg.de. :)

Mir hat deine Geschichte gut gefallen. Ein guter Spannungsbogen, sprachlich flüssig und (nahezu) fehlerfrei. Mir war bis kurz vorm Schluss nicht klar, was tatsächlich mit ihm los ist. Erst beim zweiten "Ich habe mit deinem Arzt gesprochen" der Freundin fiel bei mir der Groschen.

Tja, da haben wir also einen Prot, der sehr an seiner Freundin hängt (sonst würde er nicht die "gemeinsamen" Plätze aufsuchen und ständig an gemeinsame Situationen denken). Er selbst scheint an seine eingebildete Krankheit zu glauben. Ich hatte mich kurz gefragt, ob er sein falsches Spiel treibt, um seine Freundin aus Mitleid an sich zu binden, aber die Kopfschmerzen nachts scheint er tatsächlich zu empfinden. Zumindest kommt es so rüber.

Tja, was ich von deinem Prot halten soll, weiß ich nicht wirklich. Eigentlich sollte man mit so jemandem sicher Mitleid haben. Er scheint ein Mensch zu sein, der mit sich selbst nicht klar kommt. Aber so etwas seinem Partner anzutun, ist schon ein starkes Stück. Ist doch klar, dass derjenige sich sehr sorgt. Allerdings scheint dein Prot ja - wie gesagt - selbst daran zu glauben und hat seine Partnerin somit (aus seiner Sicht) nicht angelogen. Hm, auf jeden Fall eine nachdenklich machende Geschichte.


Ein bisschen Kleinkram:

während ich ihn minuten-, vielleicht stundenlang fixiere.
Wenn ich liege, werden die Kopfschmerzen unerträglich
In beiden Fällen hat jobär Recht, diese beiden Stellen sind mir beim Lesen auch aufgestoßen.

Ich stütze mich auf die
Brüstung.
Hier ist noch ein fester Zeilenumbruch drin.

 

Hallo,

erst mal sorry, dass ich so lange gebraucht habe, um zu antworten...
und danke für eure Anregungen!

anstatt der "Nachbildung" stand da vorher was anderes, habs geändert und wohl nicht bemerkt..
das mit dem "fixieren" ist regsitriert, ebenso wie der Zeilenumbruch*g*
Noch eine Frage: Was genau stört euch an "wenn ich liege usw."?

Also, noch mal vielen Dank für Kritik und auch Zuspruch,

liebe Grüße
pennylane

 

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