Verwickelt
Seltsame Geräusche unterbrachen damals die Stille der eingebrochenen Finsternis. Jämmerliche, ja fast stumme Klänge aus dem Nebenzimmer durchdrangen die einen Spalt geöffnete Tür und rissen mich sogleich aus meinem sonst so tiefen Schlaf. Prompt sass ich wie versteinert in meinem kuscheligen Bett. Die winzigen, feinen Härchen stiegen unter meiner warmen Decke schleunigst in die Höhe. Ein unerträglicher Schauer durchlief meinen Körper und liess die Gedanken herum wirbeln. Durch die zurückkehrende Ruhe beruhigte sich allerdings mein hochgeschossener Puls ein Spürchen. Puuh, zum Glück nur ein grässlicher Albtraum. Doch das plötzliche Klirren von Glasscherben änderte sofort meine Befürchtung. Sogleich schlug ich voller Schrecken meine Decke zurück, schwang meine Beine auf den Boden und lief schnurstracks zur Türe hin. Oh nein, neeeein … bitte nicht, doch es war schon zu spät. Eine Männergestalt zückte die Pistole hinter seinem Rücken hervor und zielte haargenau auf meine Mutter. Schreie, entsetzliche Hilfeschreie hallten durch unsere winzige Baracke. Ein Knall, der mein Leben veränderte, liess die Nacht zum Tag werden. Wieso, wieso hat er das getan? Nur noch ein Räuspern gab er vor sich, bevor auch sein Körper von einer Kugel durchdrungen wurde. Mit letzter Kraft griff meine Mutter nach meiner Hand und flüsterte mit schwacher Stimme ihre letzte Botschaft in mein linkes Ohr, ehe sich ihre Augen für immer schlossen.
Es ist ein Spiel gegen die Zeit. Regenschwere, dunkle Gewitterwolken ziehen gemächlich am Abendhimmel auf. Nur noch eine Minute, es gilt alles oder nichts. Die Gemüter sind längst erhitzt, es geht nicht mehr mit fairen Dingen zu und her. Reiss dich zusammen, sammle all deine Energie, nur noch einen Sprint, nur noch einen Sprint in die gegnerische Hälfte. Erster Gegner, zweiter Gegner, bloss noch ein einziger Mann versperrt mir derzeit den Weg zur freien Schussbahn. Neeein, woher kommt nur dieser Fuss? Keine Chance auszuweichen. Sogleich folgt ein schmerzhafter Aufprall. Beim unsanften Aufschlag auf den harten Boden steigt mir der Duft des Dreckes ungewollt in die Nase. Heftige Emotionen der Rache steigen rasend in mir hoch. Das starke Gefühl von Schmerzen in meinen Armen bringt mich allerdings wieder zur Vernunft. Einzig dank der Hilfe meiner Mitspieler konnte ich mich dem Täter fern und meinen explosiven Zorn in Grenzen halten. Der schrille Pfiff aus der Pfeife des Schiedsrichters lässt nicht lange auf sich warten. Die Situation eskaliert völlig, gelbe, sogar rote Karten müssen gezückt werden. Auf den Penaltypunkt starrend, schiessen mir die schrecklichen Bilder wie ein Film durch meinen Kopf. Zwanzig Jahre ist es her … warum nur? Noch heute beschäftigt mich diese einzige unbeantwortete Frage. Aber jetzt, nur nicht die Fassung verlieren… vergiss die anderen, es zählt nur noch das hier und jetzt…erfülle ihr und dem ganzen Team diesen einzigen Wunsch. Rechts, links, oder doch eher rechts? Nein, lieber links. Ich habe das Gefühl, gleich wie ein Eisberg zu schmelzen, meine Knie, weich wie Frischkäse. Kaum hörbar durchdringt das Signal des Schiedsrichters meine Ohrmuscheln. Nun gilt es ernst. Mein Herz, es rast, es rast wie ein Auto auf einer Autobahn. Erster Schritt. Sechzigtausend Zuschauer auf den Rängen, Millionen vor dem Bildschirm, alle richten ihren Blick auf mich. Mit einem Moment werde ich plötzlich zum Mittelpunkt des Geschehens. Alles wird von mir abhängen. Zweiter Schritt. Tief in mir drin eine bekannte Stimme, die Stimme meiner Mutter, sie gibt mir Kraft. Dritter und auch letzter Schritt. Mit voller Wucht treffe ich mit der Innenkante des Fusses das runde Leder an seiner besten Stelle. Ein saftiger Schuss, exakt in Richtung untere Ecke. Was passiert nur mit mir? Dieser schwarze Nebel vor meinen Augen, ich fühle mich so schwach, er wird immer dunkler. Ich glaube, ….
Der Welt stockt der Atem, alle Augen sind auf den zusammengesackten Spieler gerichtet. Sind es die Strapazen, die seinem Körper zu schaffen machen? Viel Aufregung ist nun im Spiel. Von allen Seiten strömen Ärzte und Betreuer auf den Platz, mit dabei die Tragbahre.
Alles so ungewohnt, die fremde Umgebung, die unbekannten Leute. Und was machen die vielen Schläuche ringsherum, woher kommen sie? Eine Ungewissheit bahnt sich in meinem Körper an. Wo bin ich nur? Und… was suchen die Personen vor mir? Dies alles ist mir zu viel, meine Augen schliessen sich wieder, bevor sie es nochmals versuchen. Nur noch schwache Umrisse sind erkennbar, die Schärfe meiner Sehkraft ist annähernd vollständig verschwunden. Mit Geduld kann ich dennoch die Gesichter identifizieren. Die Freude über den grossartigen Besuch zaubert mir trotz allem ein Lächeln auf die Lippen. „Wieso lacht ihr nicht“, frage ich in die Runde, „freut euch, unser Traum ist Realität geworden“. Der aufkommende Glanz in ihren Augen lässt mein Herz stetig erwärmen. Der Teamkapitän streckt mir ein undefiniertes Gebilde entgegen. „Hier nimm es, das hast du dir rechtlich verdient!“ Ich muss mich zusammenreissen, damit ich meinen schwer gewordenen Arm strecken kann, die Kraft hat meinen ganzen Körper längst verlassen. Dieses Ding versprüht eine Wärme, die mich letztendlich zufrieden stellt. „Feiert ausgelassen, egal ob mit oder ohne mich. Früher oder später werden wir uns im Jenseits wieder begegnen.“