Verwirrung im Körper
12.07. Mittags. Herr M steigt die Treppe zur Tür von Frau U hinauf. Seine Zwangsneurosen sind mal wieder so schlimm wie nie zuvor. Die letzte Stufe vor der Tür geht er hoch und dann wieder runter. Im Gehirn von Herrn M herrscht Ratlosigkeit. Der Verstand meldet sich beim Großhirn: „Chef, diese Stufe sind wir bereits gegangen. Warum noch mal das Ganze?“
Großhirn: „Frag den Zwang. Der weiß Bescheid.“
Verstand an Zwang: „Warum zwei mal die gleiche Stufe gehen?“
„Man kann keine Stufe oft genug gehen.“, meint der Zwang nur.“
„Das sehe ich anders.“, erwidert der Verstand.
Zwang: „Mir egal. Großhirn, Fuß wieder eine Stufe nach oben setzen.“ Der Verstand mischt sich ein:
„Boss, dieser Befehl ist sinnlos.“
Zwang: „Chef, hör nicht auf ihn. Er weiß nicht, was er redet. Wenn du auf mich hörst, dann mach ich auch Überstunden.“
„Verstand, was sagst du dazu?“, fragt das Hirn.
Der Verstand ist empört. „Also, für diesen Quatsch mache ich keine Überstunden.“
„Siehst du.“, meint das Hirn zum Verstand.
„Fuß, einen Schritt nach oben.“
„Geht klar, Chef.“, entgegnet der Fuß. Nach diesem kleinen Zwischenfall setzt sich der Körper von Herrn M wieder in Bewegung Richtung Tür von Frau U. Als er davor steht, will er anklopfen. Da fällt ihm seine Krawatte ein. Kritisch prüft er ihren Sitz. Sie sitzt. Kollege Zwang meldet sich wieder zum Dienst: „Großhirn, bitte erneute Prüfung veranlassen.“
Großhirn: „Später vielleicht. Fürs erste sitzt sie.“
Zwang: „Ich will aber jetzt.“
Großhirn: „Dafür gibt’s dann aber Gehaltskürzung.“
Zwang: „Gut, dann lassen wir’s. Befehl zurück.“
Endlich klopft Herr M bei Frau U an. Diese tritt an die Tür. Sie schaut durch den Spion.
„Wer ist da?“, will sie wissen.
„Hier ist Müller.“, sagt Herr M. „Ich muss was mit Ihnen bereden.
Frau U bleibt skeptisch: „Worum geht’s denn genau?“
„Das lässt sich nicht so zwischen Flur und Wohnung bereden. Wollen Sie mich nicht erst mal reinlassen?“ Frau U macht widerwillig auf. Die Augen von Herrn M unterziehen Frau M einer genaueren Prüfung. Der Geschlechtstrieb ruft den Verstand an:
„Du, die sieht echt gut aus.“
Verstand: „Das tut im Moment nichts zur Sache.“
Geschlechtstrieb: „Das denke ich schon.“
Verstand: „Ich glaube nicht, dass du von denken eine Ahnung hast.“
Der Trieb ist beleidigt und zieht das Signal zur Anregung des Blutkreislaufes wieder zurück.
„Gehen wir ins Wohnzimmer.“, fordert Frau U den unangemeldeten Gast auf. Er folgt ihr bereitwillig und bewegt dabei seine Hand in Richtung seiner Hosentasche, wo er ein Klappmesser bereithält. Vernunft an motorisches Zentrum:
„Was hast du vor?“
Zentrum: „Ich weiß von nichts. Frag die Schizophrenie.“
Verstand: „Schizo, was hast du vor?“
Schizo: „Hö hö, das wüsstest du wohl gern, na? Warts einfach ab. Wird lustig, hö.“
„Die spinnt mal wieder komplett.“, denkt sich der Verstand nur. Die beiden Menschen sitzen nun auf dem Sofa. Frau U legt ihre Stirn fragend in Falten:
„Also, Herr Müller, was wollen Sie mir sagen?“
„Gut.“, setzt Herr M an. „Sie kennen doch den Herrn Burghardt.“ Das Langzeitgedächtnis appelliert darauf an das Großhirn.
“Wir kennen keinen Herrn Burghardt.“
„Frag das Kurzzeitgedächtnis.“, meint das Hirn. „Das kennt ihn bestimmt.“
Langzeit- an Kurzzeitgedächtnis: „Woher kennst du einen Herrn B?“
Kurzzeitgedächtnis: „Eigentlich kenne ich ihn gar nicht. Die Augen haben nur den Namen unten am Briefkasten gelesen.“
„Was redet der Mund dann da von ‚kennen’?“
„Frag die Schizo.“
Gedächtnis an Schizophrenie: „Schizo, was spielst du ab?“
Schizophrenie: „Alles nur Taktik. Eigentlich kennen wir den Herrn B auch nicht, aber das muss der Verstand ja nicht wissen.“
„...Sind ihnen denn in letzter Zeit einige Veränderungen an Herrn Burghardt aufgefallen?“, fragt Herr M und macht seine Hand bereit für das Messer in seiner Tasche.
Frau U schaut verwundert drein.
„Nicht, dass ich wüsste.“
Mittlerweile im Gehirn; Vernunft an Schizophrenie:
„Was hast du verdammt noch mal vor? Das Messer bleibt in der Tasche, klar?“
„Du hast hier gar nichts zu sagen.“, wehrt die Schizo ab. Jemand funkt in die Unterhaltung:
„Gehirn, ich muss dringend entleert werden.“
„Jetzt nicht. Es gibt gerade Wichtigeres als deine Entleerung.“
„Was gibt es bitte Wichtigeres als die Entleerung der Blase?“
„Unser Gast ist dabei, in Rage zu geraten. Er hat offensichtlich was vor. Nebenniere, bitte produzier Adrenalin und Noradrenalin.“
„Wie viel?“, will die Nebenniere wissen.“
„Volle Pulle!“ Die Blase schweigt wieder. Im Körper von Herrn M wird der Ausnahmezustand ausgerufen. Doch er lässt sich nichts anmerken und redet beiläufig weiter. Es kommt der Befehl vom Großhirn ans Bewegungszentrum:
„Hand, bitte Messer zücken und auf Frau U zu bewegen.“
Die Vernunft schaltet sich dazwischen:
„Dazu sehe ich überhaupt keinen praktischen Anlass. Es geht keine Bedrohung von dieser Frau aus.“
„Tut mir leid, ich habe meine Anweisungen.“, entschuldigt sich das Gehirn.
„Diese Frau wäre aber anderweitig sehr gut zu gebrauchen.“, argumentiert der Geschlechtstrieb.
„Sorry. Die Geisteskrankheit hat leider höhere Priorität.“
Jetzt wird die Vernunft langsam erzürnt:
„Schizo, welche Argumente sprechen deiner Meinung nach für diesen Akt des Grauens?“
„Was sind denn Argumente?“
„Gut. Warum machst du so was?“
„Ganz einfach. Weil wir verrückt sind und jetzt Bock auf einen Mord haben, ganz einfach.“
„Und warum?“
„Vielleicht, weil wir eine schwere Kindheit hatten?“
„Das ist noch lange keine Grund für diese Gräueltat. Ist dir überhaupt bewusst, in welche Zwangslage du den Gast bringen kannst?“ Dem Irrsinn reicht es.
„Ich habe jetzt kein Interesse an Diskussionen. Chef, fahr bitte die Hand aus.“
Großhirn: „Moment, ich habe da ein paar Störungen. Schalte um auf Kanal drei. Wer will mich sprechen?“
„Hier spricht die Erinnerung. Weißt du noch, was die Mutter von Herrn B mal gesagt hat?“
„Nein, was?“
„Du sollst nicht töten. Das steht in der Bibel.“
„Moment, da muss ich erst nachschauen.“, murmelt das Großhirn abwesend. Man hört es in seinen Bahnen klicken. „Stimmt, so ist es gespeichert. Als es das gesagt hat, kommt die unterdrückte Aggression hervor:
„Scheiß auf die Bibel. Ich habe mich das ganze Leben lang nur angepasst und untergeordnet. Damit ist jetzt Schluss. Zeit für Rache. Lass uns endlich mit der Arbeit anfangen.“
„Hör nicht auf sie. Sie hat sich nicht unter Kontrolle.“, ruft die Vernunft dazwischen.
Jetzt schreit die Aggression:
„Verdammt, ihr Spielverderber. Jetzt seid mal alle still. Ihr haltet nur den Betrieb auf.“ Das war wieder die Schizophrenie.
Großhirn: „Eigentlich haben sie ja recht. Ein Mord ist nichts Gutes.“
Aggression: „Nichts haben sie. Und vor allem: Was haben die schon für dich getan? Sie mit ihren Moralpredigten und Anstandsreden. Die haben doch nie was geleistet. Und wenn es spät wurde, waren sie die Ersten, die Feierabend gemacht haben.“
„Du hast Recht.“, stimmt das Großhirn zu. „Hand, bitte ausfahren.“
„Stop!“, schreien Verstand, Vernunft und Erinnerung im Trio.
Gehirn: „Ruhe da unten.“ Die rechte Hand schießt blitzartig mit dem Messer fest im Griff auf Frau U zu. Sie bekommt einen gigantischen Schreck. Zum Glück hat sie gute Reaktionen sowie genug Kraft, um sie fürs Erste zurückzuhalten. Somit gewinnt sie wichtige Lebenszeit. Genug Zeit für einen weitere Zwischenmeldung im Körper des potentiellen Mörders:
„Hier spricht die Abteilung für innere Sicherheit. Sie haben keine Befugnis, diesen Befehl auszuführen. Er verstößt gegen das Grundgesetz sowie sämtliche Konventionen.“
Das Gehirn gibt sich hilflos.
„Entschuldigung, aber der Befehl ist nicht in meiner Schaltzentrale entstanden. Er wurde in höherer Instanz beschlossen.“
Der Sicherheitschef wirft einen prüfenden Blick ins Innere der Hirns.
„Oh, das sieht nicht gut aus. Schwerer Befall von Wahnsinn. Harry:
„Hol den Krisenstab raus.“ Ein kleiner Helfer taucht zwischen den Gehirnwendungen auf.
Mittlerweile zittert Frau U vor Angst und Anstrengung. Lange wird sie nicht mehr durchhalten. Harry ist bereit für seinen Einsatz.
„Harry, unterbrich die Synapsenverbindungen zur Schizophrenie.“
„Kein Problem.“ Harry wirft den Anlasser der handlichen Maschine an. Die Hand von Herrn B kommt Frau U bedrohlich näher. Dass Gerät will leider nicht anspringen.
„Lass mich mal ran, Harry.“ Der Sicherheitschef übernimmt das Ruder. Das Messer berührt bereits den Ansatz vom Hals der Frau. Sie bekommt allmählich einen Krampf. Endlich läuft der Kasten. Mit zielgerichteter Präzision fährt der Chef die erkrankte Synapsenbahn mit einem Hochpräzisions-Mikropartikellaser in Flussrichtung ab. Es funkt und raucht im präfrontalen Kortex (Gehirnteil). Klein- wie Großhirn kennen sich nicht mehr aus. Der Wahnsinn schreit vor Schmerzen. Herr M zuckt zusammen und zieht seine Hand reflexartig vor dem verängstigten Opfer zurück. Rettung in letzter Sekunde. Frau U atmet erleichtert auf. Herr M fasst sich verwirrt mit der messerhaltenden Hand an den Kopf. Der Stich sitzt tief. Herr M ist tot. Frau U ist gerettet. Das war ein harter Einsatz für die Männer vom Gehirnrevier. Der Chef lobt seinen Angestellten:
„Gute Arbeit, Harry. Und hol schon mal den Wagen. Ich glaub, wir müssen raus hier.“
Frau U ist komplett am Ende.
„Jetzt brauch ich erst mal ein Bier.“
Mit diesen Worten verschwindet sie im Keller. Die Treppe war sehr rutschig.
Happy End?