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Viel Lärm um nichts?
Anfangs redete Patzek noch mit Engelszungen auf mich ein, hob in stiller Verzweiflung die Hände und ließ sie wie zwei müde Vögelchen niederflattern. Dann wurde er lauter, und die Hände fuchtelten wie zwei Stubenfliegen auf LSD bedenklich nahe vor meinem Gesicht. Drohend stampfte er mit seinen Füßen auf den Bretterboden und wirbelte eine Menge Staub auf. Weil ich ihm trotz unseres Streites nicht den ganzen Rotz in’s Gesicht schleudern wollte, wendete ich mich ab. Sofort bedauerte ich, nicht blind auf die Welt gekommen zu sein.
Ein Feuerwerk explodierender Farben attackierte meine Sehnerven. Nachdem sich meine Augen mit dem grellbunten Spektakel des Bühnenbildes arrangiert hatten und wieder einigermaßen sinnvolle Informationen an mein Großhirn senden konnten, schaute ich Patzek in die inzwischen blutunterlaufenen Augen.
„Und wenn du dich auf den Kopf stellst, den Fummel ziehe ich nicht an“, sagte ich. „Basketballspieler tragen so etwas“, schrie er mich an.
„Wann hat man je gehört, dass Benedict Beatrice seine Zuneigung in einem T-Shirt gesteht. Auf einem Hinterhof. In all diesem Müll. Von diesen Schmierereien ganz zu schweigen. Ich hoffe, der Bühnenbildner bekritzelt inzwischen Gummiwände“.
Patzek sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.
„Die Deko ist von einem der angesagtesten Erneuerer der Modernen. Graffiti goes Modern Art. Die Handlung wurde in die Neunziger verlegt. Benedict als Basketballstar und Beatrice als Cheerleader. Leonato ist der Besitzer des Teams und Pedro der Coach. So werden wir die jüngere Generation für Shakespeare begeistern“.
„Dann begeistert mal. Aber ohne mich. Nicht in diesen Klamotten“.
„Dann wirst du auf Bochums Bühnen keine Zukunft mehr haben“. Er schrie schon wieder.
„Nach einer solchen Aufführung haben Bochums Bühnen sowieso keine Zukunft mehr“, antwortete ich.
„Mich wundert, dass ihr immer schwatzen müsst, Signor Benedict; kein Mensch achtet auf Euch“, kam es aus dem Souffleusenkasten. Ich schaute Patzek fragend an, doch der hob nur die Arme, brüllte „Ich kann so nicht arbeiten“, drehte sich um und verließ die Bühne. Ich blickte zum Souffleusenkasten. Wie reagiert Benedict auf dieses freche Fräulein? Ich war noch nie sehr textsicher, doch dann fiel es mir ein.
„Wie, mein liebes Fräulein Hochmut! Lebt ihr auch noch?“
„Welch seltsame Frage. Wie sonst könnt ich mit Euch reden?“, antwortete die Souffleuse nicht ganz textgetreu und mit einer Stimme, die alle Gänse auf meiner Haut Tango tanzen ließ.
Ein Timbre, so tief und verraucht, als hätte Helene Weigel sich aus dem Reich der Toten verabschiedet, mit Whiskey gegurgelt und einer Stange Camel ohne nachgespült.
Ich lauschte dem Hall dieser Stimme nach und sah mich plötzlich in einem verräucherten Vaudeville-Theater sitzen. Auf der Bühne versuchte sich eine Blondine im mitternachtsblauen Frack, mit Chapeau und Strass-Stöckelschuhen, als Marlene Dietrich Imitation, kam aber gegen das Reden, Rufen und Lachen im Zuschauerraum nicht an. Ich schaute mich um. Eine schwarzhaarige Schönheit in einer Ahnung von Kleid kam auf mich zu. Sie blieb vor meinem Tisch stehen und hielt mir eine elfenbeinfarbene, zwei Meter lange Zigarettenspitze entgegen. Lässig ratschte ich ein Streichholz über das raue Holz des Tisches und schützte die Flamme mit meiner linken Handfläche. Sie beugte sich nach vorne und gönnte mir einen Blick in das tief ausgeschnittene Dekollete, doch bevor ich erkennen konnte, was das Tattoo um ihren Nabel darstellen sollte, verblasste das Trugbild.
Benommen schüttelte ich den Kopf. Dann beugte ich mich nach unten und versuchte, in den dunklen Tiefen des Souffleusenkastens etwas zu erkennen.
„Ich hoffe, dieser Film findet eine Fortsetzung“, rief ich in die gähnende Leere hinein.
„Warum sollt ich einem solchen Ansinnen nachgeben, seid ihr doch morgen nicht mehr hier“, antwortete sie.
Und wieder reagierte ich auf das rauchige Vibrato ihrer Stimme.
Wir waren inzwischen in einem Hotelzimmer gelandet. Einem schäbigen Zimmer, soweit ich das in dem flackernden Licht einer einsamen Kerze ausmachen konnte. Ich saß auf einem arthritischen Stuhl, rauchte, und schaute zu, wie sie langsam die Träger des Kleides über ihre Schultern gleiten ließ. Mit einem zitternden Geräusch flatterte das Stückchen Stoff zu Boden. Es war wirklich dunkel in dem Zimmer. Ich erahnte ihren Körper mehr, als das ich ihn sehen konnte. Während sie sich auf die Bettkante setzte, die Beine spreizte und dann lasziv langsam ihre Netzstrümpfe auszog, versuchte ich mich an die sanften Rundungen ihrer Brüste zu erinnern. Ich seufzte, wollte mehr sehen und beugte mich vor. Der Stuhl seufzte ebenfalls und brach unter mir zusammen.
Ich fiel nach vorne und fand mich auf den Brettern des Bochumer Schauspielhauses wieder.
„Hey, du kannst mich doch nicht kurz vor dem Höhepunkt so fallen lassen“, krächzte ich.
Keine Antwort.
Ich krabbelte zum Souffleusenkasten. Ich wollte, ich musste sie sehen. Doch da war nichts.
„Lass mich nicht so hängen, ich will wissen, wie es weitergeht“.
„Mit wem redest du?“
Erschrocken drehte ich mich um. Patzek sah mich verständnislos an.
„Die Souffleuse. Ich muss sie sehen.“
„Welche Souffleuse?“, fragte Patzek.
„Na, eure Souffleuse. Die eben noch hier war“.
„Da ist keine Souffleuse. Inge hat sich krank gemeldet. Und Ersatz haben wir noch keinen. Werden wir auch so schnell nicht finden, nach dem, was letzte Woche hier los war“.
Ich stand auf, klopfte mir den Staub von der Hose und sah Patzek fragend an.
„Nach dem, was letzte Woche hier los war? Was war denn los?“
„Das müsste man sogar in Herne mitbekommen haben“, lautete die sybillinische Antwort.
„Ich interessiere mich nicht für Kantinengeschwätz. Also, was war los?“.
„Ich hab’ jetzt andere Sorgen, ich bin auf Suche nach einem Benedict“, sagte Patzek mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht.
„Sag mir, was los war, oder du bist auf der Suche nach einem Zahnarzt“, sagte ich, und ging zwei Schritte auf Patzek zu. Er hob abwehrend die Hände.
„Ist ja gut, ist ja gut. Ich erzähl’s ja schon. Letzte Woche hat sich unsere zweite Souffleuse in dem Kasten die Pulsadern aufgeschnitten. Nachts. Ich kann dir sagen, das war eine ganz schöne Sauerei, als wir sie am nächsten Morgen fanden. Angeblich aus Liebeskummer. Das doofe Ding. Und jetzt will natürlich keine mehr da runter“.
Ich drehte mich um, schaute in die dunkle Höhle und dachte nach.
„Ich hab’s mir anders überlegt. Vielleicht kann man die Pickelgesichter tatsächlich nur mit einem solchen Bühnenbild für Shakespeare begeistern. Und mit Basketballspielern und Cheerleadern“, sagte ich schließlich.
„Du bist also dabei?“.
„Ich bin dabei“, antwortete ich nach einer kurzen Pause, „aber nur unter einer Bedingung“.
„Die Klamotten...“
„Es hat nichts mit den Klamotten zu tun“, unterbrach ich ihn.
„Und wie lautet die Bedingung?“
Ich drehte mich langsam um mich selbst, bis ich Patzek wieder in die Augen sehen konnte.
„Ich spiele nur mit Sonnenbrille“.