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Virtual Reality
Wie lange sitze ich hier eigentlich schon? Mein Magen knurrt und ab und zu verspüre ich einen leichten Schmerz. Ich kann es noch ignorieren. Noch brauche ich nicht essen. Wasser füllt den Magen ebenso gut und ich habe vielleicht eine Stunde mehr Zeit.
Ich wende mich wieder meinem Computermonitor zu, auf dem unentwegt, Tag für Tag und Nacht für Nacht das selbe Programm läuft. Es wird so gut wie nie heruntergefahren, es sei denn es gibt einen Crash und ich werde unfreiwillig hinausbefördert. Schreckliche Sekunden für mich, in denen ich so viel verpassen könnte. Meine Hände beginnen dann immer zu zittern und kalter Schweiß rinnt mir über die Stirn. Doch am allerschlimmsten ist der Zeitpunkt, alle sieben Tage, wenn das Programm gewartet wird. Manchmal dauert es nicht lange und ich kann endlich weiter machen. Manchmal dauert es über eine Stunde. Die Stunde zieht sich wie Kaugummi und für mich dauert sie eine Ewigkeit.
Ich kenne keine Tageszeiten mehr! Ich lebe in einer anderen Zeit, die durch einen riesigen Computer gesteuert wird. Ich lebe in einer virtuellen Zeit, In einer virtuellen Welt!
Es wird Zeit, dass mein Avatar etwas zu Essen bekommt. Gleich um die Ecke meines Clubs, liegt ein kleines Restaurant eines Italieners. Mein Lieblingsrestaurant in dieser Welt. Es ist klein und bietet eine Vielfalt an italienischen Gerichten. Ich sorge besser für mein virtuelles Ich, als für mich selbst, aber das muss ich auch tun! Hier bin ich ein geachteter Club- und Bordellbesitzer. Über 50 Menschen arbeiten für mich und sorgen mit mir dafür das mein Etablisment mehr als nur gut läuft. Das Geld was ich hier verdiene reicht gerade so aus um ein paar der Kosten zu decken, die mir durch den Club entstehen.
Mein gut gebauter, schwarzhaariger Avatar schlendert also die Straße hinunter und steuert „Giovannis“ an. Es ist fast leer, ein kleiner, muskulöser Italiener steht im Laden und wartet auf neue Kundschaft.
„Guten Tag, Ben! Hast du wieder eine anstrengende Nacht hinter dir?“
Die Nachricht erscheint auf meinem Bildschirm. Ich weiß gar nicht ob ich noch sprechen kann! Lange ist es her, dass ich wirklich mit einem Menschen gesprochen habe. Meine Gespräche beschränken sich auf Nachrichten, die ich per Tastatur in den PC einhämmere und dass in einer Geschwindigkeit, dass einer Sekretärin die Augen übergehen würden.
Ich antworte also: „Oh ja, der Laden läuft so gut wie nie! Ich überlege ob ich ihn ausbauen soll!“
Der kleine Italiener aktiviert eine Geste und nickt, während aus den Lautsprechern ein „Yes“ dröhnt. Ich setze mich an einen Tisch am Fenster. Mir gegenüber, an einem anderen Tisch, sitzt eine Blondine mit Wespentaille und riesigen Titten. Sie macht mich an und so spreche ich sie, nachdem ich eine große Pizza bestellt hab, an.
„Hallo meine Schöne!“
Sie regt sich nicht, aber das hat nichts zu sagen. Sie hat mich gehört (gelesen), aber der Avatar bewegt sich nur selten und reagiert auf keine anderen Avatare.
„Hallo!“, lautet ihre knappe Antwort. Auch ein Merkmal für meine virtuelle Welt. Die Menschen reduzieren ihre Sprache auf ein Minimum. Ich tue es genauso!
„Möchtest du dich nicht zu mir setzen?“, frage ich und bekomme auch schon meine Pizza serviert. Mit der Maus klicke ich sie an und am oberen Bildschirmrand erscheint eine blaue Nachricht.
`Soll ihr Avatar animiert werden?`
Ich bestätige mit „Ja“ und Ben beginnt die Pizza zu essen. Währenddessen hat sich die Blondine mir gegenüber an den Tisch gesetzt. Sie trägt eines dieser ekelhaften, kostenlosen Make ups. Schrecklich so ein Mädchen bräuchte ich in meinem Bordell erst gar nicht anstellen. Trotzdem ihr Brüste sind gigantisch.
„Hast du Hunger?“, frage ich und muss mir keine Sorgen darüber machen, ob mein Mund voll ist oder nicht.
„Nein!“
Die ist aber wirklich sehr wortkarg! Egal, sie hat andere Vorzüge und die kann ich in ein paar Minuten voll auskosten. Selbst für diese kleinen Brocken braucht sie sehr lange, sie schreibt nebenbei noch mit anderen Avataren. Aus der Nähe sehe ich nun auch, dass ihre Haare ebenfalls kostenlose Ware sind. Sie ist eindeutig ein Neuling. Wahrscheinlich hat sie kein Geld!
„Hast du Lust auf ein bisschen Spaß?“
„Was meinst du?“
Sie hat wirklich keine Erfahrungen hier!
Meine Pizza ist fast alle und ich danke dem Italiener und nehme die Blondine mit in meinen Club. Im Obergeschoss zeige ich ihr eines meiner Zimmer und langsam scheint sie zu begreifen, was ich von ihr möchte. Sie verschwindet in einem Nebel aus kleinen weißen Bällchen. Blöde Schlampe!
Mein Magen knurrt immer mehr und langsam werden die Krämpfe unerträglich. Ich greife nach meinem Handy und rufe den Pizzadienst an. Ich kann also noch sprechen!
Während ich der Bestellannahme erkläre was ich möchte, durchstreife ich weiter meinen Club. Vor ein paar Stunden war das Haus voll, ein Teleport hierher war unmöglich. Die Hälfte meiner Escorts war mit ihren Kunden auf den Zimmern. Die Tanzfläche war gefüllt mit Männern und Escorts die sich einen Fang suchten. Jetzt ist er leer und ich bin so allein wie ich es in der realen Welt bin.
Ich war nie der schönste! Ich bin nicht so muskulös wie Ben, der wirklich ein Bild von einem Mann ist. In der Schule war ich immer der Außenseiter und habe mich zurück gezogen. Mein sehnlichster Wunsch war die Teilnahme am Leben der Anderen! Ich wollte nie etwas anderes als dazu gehören. Jetzt gehöre ich endlich dazu! Viele schauen zu mir hoch und bewundern mich für meine hingebungsvolle Arbeit, die ich hier leiste. Für meine Escorts und Tänzerinnen bin ich wie ein Vater, der sich auch ihrer Probleme annimmt, aber wer hat in der virtuellen Welt schon wirkliche Probleme?
Es klingelt an der Tür. Der Pizzabote! Er scheint schockiert von meinem Anblick zu sein. Ich kann es verstehen, ich weiß nicht wann ich das letzte Mal unter der Dusche war. Meine Haare müssen fürchterlich aussehen. Mittlerweile sind sie mir bis zu den Schultern gewachsen.
Ungeduldig warte ich darauf, dass er in einem Schneckentempo die Pizza auspackt.
Genervt schnauze ich, ob er sich nicht beeilen könne. Jemand könnte in meinen Club kommen! Eine wichtige Nachricht könnte gerade eingetroffen sein! Ich muss zurück an den Computer! Der Mann schaut mich noch entsetzter an und reißt die Pizza aus der Tasche.
Mit jeder Sekunde die vergeht werde ich nervöser und bekomme Horrorvorstellungen von den Dingen die gerade passieren könnten.
Endlich hat er es geschafft, ich drücke ihm meine letzten 15 Euro in die Hand und knalle die Tür zu, ohne das Wechselgeld zu nehmen. Es ist mir egal! Ich muss sowieso zu einer Bank gehen und mich mit neuem Geld eindecken, wenn denn noch etwas auf meinem Konto ist. Seit Tagen schon graut mir vor dem Moment, an dem ich meine vier Wände verlassen muss. Ein schrecklich langer Weg wird beginnen, der mich alle meine Kraft kostet, im physischen wie auch im psychischen Sinn. Die Menschen da draußen werden mich anstarren, einige werden mit dem Finger auf diese verwahrloste Person zeigen. Sie kennen diese schönere und bessere Welt ohne Krankheiten, Schmerzen, Tod und Hässlichkeit nicht. Sie haben alle keine Ahnung, dass es allen Menschen dort besser gehen würde. Sie sehen mich und glauben, ich wäre ein Penner. Sie sehen meine Klamotten die uralt, ungewaschen und zerlumpt sind. Sie können nicht wissen, wie schön meine Kleider in der anderen Welt sind. Das ich jeden Tag andere Klamotten trage und jeden Abend mit anderen Haaren glänze. Sie sehen nur mein reales Ich und können mich nicht verstehen.
Genau so ist es mit meiner Familie und meinen Freunden gelaufen! Sie haben mich für verrückt erklärt, haben gemeint ich müsste eine Therapie machen. Sie sind alle Idioten und ich weiß, dass sie es alle irgendwann begreifen werden. Irgendwann werden sie sehen was ich geschaffen habe, was ein Verrückter geschaffen hat. Dann wird es ihnen leid tun, dass sie mich alle haben fallen lassen!
Die nächsten Tage verlaufen alle nach dem selben Schema! Ich schlafe kaum und wenn dann am laufenden Computer, mit dem Kopf neben der Tastatur. Jeden Tag schiebe ich meinen Weg zur Bank aufs neue hinaus. Obwohl mich meine Magenkrämpfe fast umbringen und ich meine letzten Tüten Chips schon lange vertilgt habe, kann ich einfach nicht gehen! Ich habe solche Angst davor zu gehen. Ab und zu hat meine Mutter versucht mich zu erreichen. Jedes Mal habe ich sie weggedrückt! Ich will nicht mit ihr reden, jedes Mal heult sie und sagt, dass Spiel würde mich umbringen! Wie kann sie meine Welt für ein Spiel halten? Daran sieht man schon wieder, wie wenig sie eigentlich davon versteht. Das ist kein Spiel! Es ist meine Realität! Das ist mein Leben!
So lebe ich weiter und stelle alle meine realen Bedürfnisse nach hinten. Ich merke nicht wie ich immer dünner und schwächer werde.
Eines Morgens erwache ich neben meiner Tastatur und kann mich nicht bewegen. Meine Gedanken schnellen zu meinem Club und was ich in der Zeit, die ich jetzt hier liege, hätte machen können. Ich bin zu schwach um mich zu bewegen. Seit zwei Wochen habe ich mich nur von Wasser ernährt. Langsam keimt in mir ein Gedanke. Es ist der schrecklichste Gedanke, den ich je in meinem Leben hatte.
`Hatte meine Mutter doch recht? Bringt mich dieses „Spiel“ um? Ja! Ja, es bringt mich um! Ich mache grade meine letzten Atemzüge! Ich... ich bin süchtig...`
Drei Wochen später
Berlin – Gestern Abend um 20:22 Uhr brach die Polizei die Tür zu der Wohnung des 24-jährigen Marko M. auf. Die Mutter hatte die Polizei verständigt, nachdem sie über drei Wochen keinen Kontakt mehr zu ihrem Sohn hatte.
Den Beamten bot sich ein schrecklicher Anblick! Der Arbeitslose lag tot neben seinem Computer, auf dem immer noch das Spiel lief, welches er als letztes gespielt hat, Second Life.
Schon lange warnen Experten von den Gefahren der Spielsucht im Internet. Die Todesursache ist noch ungeklärt, aber man vermutet, dass der junge Mann verhungert ist!