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Vogelperspektive
"Kevin! Komm jetzt sofort her! Kevin!"
Cordula , eine hübsche, blonde Frau, die sehr stolz darauf war, dass sie jeder für Mitte zwanzig hielt, obwohl sie in Wirklichkeit schon über dreißig war, rief gestresst nach ihrem Sohn Kevin, der wieder einmal trödelte. Sie musste noch dringend einige Einkäufe für den Geburtstag ihres Bruders an diesem Nachmittag machen. Cordula schaffte es immer solche Dinge auf den letzten Drücker zu erledigen. In einem enormen Tempohetzte sie von einem geschäft zum anderen. Es hätte der Weltrekord im Walken werden können, zumindest wenn Kevin sie nicht immer so aufhalten würde.
"Jetzt komm endlich. Mama hat jetzt keine Zeit für deine Träumerein."
Sie packte ihn grob an der Hand und zerrte ihm von dem Schaufenster des Spielwarenladens weg.
Drinnen sortierte Jonas, der große schlaksige Praktikant, über dessen rote Haare sich fast jeder lustig machte, den er kannte, Plastikfiguren in ein Regal ein.
Sein Psychologe vermutete, er wolle in einem Spielzeugladen arbeiten, um seine verkorkste Kindheit nachzuholen, aber eigentlich mochte er Spielzeug einfach nur.
Viele Eltern, die mit ihren Kindern hier einkauften hatten Mitleid mit ihm, weil sie ihn für einen Sonderling hielten; viele Kinder beneideten ihn, weil er im Paradies arbeiten durfte.
Jonas liebte seine Arbeit, aber er konnte sich weder bemitleiden noch beneiden.
Während er - wie immer in Gedanken - die Plastikfiguren einsortierte, stieß ihn von hinten im Vorbeigehen ein älterer Mann an. Jonas beachtete ihn gar nicht, er wurde öfters angerempelt.
Hans trug einen langen schwarzen Mantel, in dem er aussah wie einer dieser Anwälte aus den Hollywoodfilmen. Sein Hut war von einem so dunklen Blau, dass die wenigsten merkten, dass er nicht schwarz war. Hans hatte es eilig. Er wusste nicht warum, er hatte es einfach eilig. Er war einer dieser Menschen, die immer hektisch und beschäftigt wirkten, obwohl sie eigentlich weder ein Ziel verfolgten noch Termine oder Verpflichtungen hatten. Er lebte allein seit seine Frau ihn mit ihrem gemeinsamen Sohn verlassen hatte. Er dachte immer, dass die Männer, die von ihren Frauen wegen einem anderen sitzen gelassen wurden, viel zu wenig Aufmerksamkeit bekamen. Er hasste Ungerechtigkeiten. Er verließ das Geschäft so zügig wie er es auch betreten hatte. Eigentlich wusste er nicht einmal, warum er überhaupt hinein gegangen war. Auf der Straße wandte er sich nach links und hetzte weiter. Kurz blieb sein Blick an einem Mann hängen, der in der Menge stand. Er betrachtete ihn für wenige Sekunden diesen Menschen, der das konnte, was er nicht konnte: Einfach ruhig dastehen, sich Zeit lassen. Schon war er vorbei, in seiner Eile.
Paul stand weiter einfach in Mitten dieses geschäftigen Treibens. Er liebte es die vorbeigehenden Menschen zu beobachten. Er liebte es sie sich anzuschauen und sich vorzustellen, wer sie waren. Zum Beispiel der Mann, der eben an ihm vorbeigegangen war, und ihn mit dieser gewissen Sehnsucht in den Augen beobachtet hatte. Dieser ältere Herr in dem schwarzen Mantel, der ihn aussehen ließ, wie einen dieser amerikanischen Anwälte aus den Hollywoodfilmen. Mit seinem dunkel blauen Hut, der so dunkel war, dass ihn wohl viele für schwarz gehalten hätten. Ein gehetzter Mann ohne Ziel. Paul fand solche Menschen absurd. Er fand vieles absurd was den Menschen und sein Verhalten betraf. Sein Blick schweifte ziellos durch die Menge und blieb an einem kleinen, braunen Vogel hängen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß und die Krümel von einem Brötchen aufpickte, das irgendwer achtlos fallen gelassen hatte. Der Vogel schien ihn einen Moment lang anzugucken, dann erhob er sich und flog.
Er flog die Einkaufstraße runter, so voller Menschen. Aus dieser Perspektive hatte es etwas Animalisches. Der Vergleich "wie Ameisen" drängte sich auf, aber eigentlich passt er nicht. Er musste es wissen er kannte sich mit Ameisen aus, genau wie mit Menschen. Ameisen verfolgten immer ein Ziel, sie arbeiten im Kollektiv und sind gegen die allgemeine Annahme sehr organisiert. Das dort unten war einfach ein Haufen von Individuen. Jeder verfolgte ein anderes Ziel, einen anderen Plan. Jeder hatte seine eigene Geschichte.