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Vollkommenheit
Dr. Malcolm Harris sprang von seinem Stuhl auf und schlug die Hände ineinander. Für einen Augenblick wirkte er beinahe kindlich, während er sich die glänzenden Augen wischte. Kurz hielt er in seiner Bewegung inne, blickte erneut durch das Mikroskop und erfreute sich an den Bewegungen, die vor seinen leuchtenden Augen tanzten. Es war vollbracht.
Würmer, die ihn an hyperaktive Spermata erinnerten, bahnten sich in zehntausendfacher Vergrößerung einen Weg durch eine klare Flüssigkeit, scheinbar jeglicher Orientierung unfähig. Doch sie schwammen. Sie lebten.
Kein Traum.
„Doktor?“
Harris fuhr herum. Nikolei, sein Assistent, stand im Türrahmen und ließ eine seiner Hände in der Tasche seines weißen Kittels verschwinden. Sein Gesicht wirkte starr, ebenso seine gesamte dürre Gestalt. Er erinnerte Harris jedes Mal an die Karikatur eines lang gezogenen Frankenstein-Monsters.
Als Nikolei auch Sekunden später immer noch keine Regung zeigte, runzelte Harris die Stirn und sah ihn intensiver an.
Die Augen hinter den Brillengläsern zuckten, Nikolei schüttelte den Kopf und verließ wortlos den Raum. Die Tür fiel dumpf ins Schloss.
Harris würde sich nicht von diesem Menschen den Tag verderben lassen. Inzwischen hatte er sich an diese offensiv zur Schau gestellte Weltfremdheit gewöhnt. Sein Assistent lebte definitiv in anderen Sphären. Doch für die erforderlichen Handlangerarbeiten war er unentbehrlich.
Vielleicht mit Hilfe seiner Entdeckung? …
Harris hatte das ultimative Mittel zur Gedächtnissteigerung entdeckt, oder sollte er besser sagen: erschaffen? Die Euphorie explodierte in seinem Innern, ließ ihn schreien, vor Freude jauchzen.
Keine molekulare Zersetzung unmittelbar nach dem ersten Auftreten. Seine Babys schwammen, und das schon seit ... er blickte kurz auf die Uhr neben dem Regal mit den Reagenzgläsern ... seit genau vier Minuten und sechsunddreißig Sekunden.
Wie lange hatte es gedauert bis es endlich geklappt hatte? Harris sah verträumt an die Zimmerdecke. Eine verdammt lange Zeit. Sieben Jahre, neun Monate, achtzehn Tage und zweieinhalb Stunden. Natürlich nicht zu vergessen die vier Minuten und sechsunddreißig Sekunden. Eine wahrhaft verdammt lange Zeit.
Irgendwann hatten sie ihm die Gelder gekürzt; hatten ihm damit gedroht, alles einzustellen, wenn er seine Zeit – seine von ihnen bezahlte Zeit – weiterhin für diesen Schwachsinn vergeudete, und sie hatten diese Drohung wahr gemacht.
Aufgegeben hatte er nie, hatte sich zu Hause im Keller ein kleines Labor eingerichtet, Nikolei eingestellt und sein gesamtes Erspartes eingesetzt. Wer aufgibt, fällt, das war sein Motto. Und wer einmal gefallen ist, für den war es schwer, wieder aufzustehen. Also hatte er weitergemacht – er wollte einfach nicht fallen. Nein, nicht er.
Noch einmal sah er ehrfurchtsvoll auf das Ergebnis. Es waren mehr geworden. Und zwar wesentlich mehr. Er hatte Mühe, einzelne Exemplare auszumachen. Ein wuselndes Knäuel tanzte, bildete neue Formen, teilte sich.
Seine Augen begannen zu tränen, nicht der Anstrengung wegen, vielmehr waren es die sich anbahnenden Tränen der Rührung – ja, es waren Tränen der Freude.
Behutsam griffen seine Finger nach dem kleinen Glas mit der Testprobe. Es war der dreitausendundachte Versuch. Und dieser dreitausendundachte Versuch war der Erfolg.
Dr. Malcolm Harris trug das Glas mit seinem kostbaren Inhalt zu einem großen Tisch, entnahm mit einer Pipette etwas von der Flüssigkeit und füllte sie in ein weiteres Gefäß, welches er, nachdem er es fest verschlossen hatte, in einen dunklen Schrank stellte. Er grinste. In wenigen Stunden hätten sie sich so stark vermehrt, dass er das Mittel testen konnte.
Bei diesem Gedanken stieg eine freudige Erregung in seinen Eingeweiden empor, dass es ihn schier zu erdrücken drohte. Ja, er würde es testen.
Am nächsten Tag war es eingetreten. Die Proben hatten sich so stark vermehrt, dass Harris sie in totes Hirngewebe injizieren konnte.
Er hatte Nikolei beauftragt, die Pathologie des örtlichen Krankenhauses aufzusuchen und entsprechendes Material zu besorgen. Sein beschränkter Mitarbeiter hatte es getan, und Harris war sich wie Frankenstein vorgekommen.
Es dauerte etwa zwei Stunden, bis die ersten Anzeichen von Leben zu erkennen waren. Hirnströme ließen sich feststellen, nur minimal, aber messbar.
Harris war außer sich. Es war vollbracht: Seine Entdeckung würde die Welt revolutionieren. In Kinderhirnen injiziert, bräuchte man keine Schulen mehr; allein durch die Fähigkeit, der multiplen Hirnvergrößerung, musste es möglich sein, dass sich Wissen allein durch Empfindungen vervielfältigte. Fantastisch.
Und welche Auswirkungen hätte es im Hirn eines Toten?
Einige Tage und mehrere Versuche später war der Test vorbereitet.
Harris würde den Selbstversuch wagen. Zunächst hatte er erwogen, es an Nikolei zu erproben, doch schien es ihn sinnvoller, ihn in seinem Zustand zu belassen.
Harris blickte auf die dicke Nadel, die über der geschwollenen Vene seines Armes schwebte. Auch die lange psychische Vorbereitung verhinderte nicht, dass sein Herz raste. Ein Schweißtropfen rann von seiner Stirn über den Nasenrücken und tropfte auf seinen entblößten Arm. Er drückte die Nadel langsam gegen das Fleisch, sah für einen Augenblick den verzweifelten Versuch der Flucht. Dann verband sich Metall mit Gewebe.
Die Injektion war schmerzhaft, aber es war durchaus auszuhalten – nicht der Rede wert.
Er stand auf, ignorierte das leichte Schwindelgefühl. Ein Druck entstand in seiner Blase, im selben Moment entleerte er sich. Er sah den dunklen Fleck auf seiner Hose und grinste. Bitte beachten Sie die Nebenwirkungen.
Zwei endlose Stunden passierte gar nichts und irgendwann, als Harris ein Reagenzglas nach dem anderen aus einer penetranten Mischung aus Wut und Frustration an der Wand hatte zerschellen lassen, verspürte er diese Erleichterung – urplötzlich, einer befreienden Ekstase seiner Gedanken gleich, war sie da. Es war eine Klarheit, deren Weite er nicht fassen konnte. Geistige Vollkommenheit, welche die Grenzen der Wahrnehmung durchbrach. Panik – ein Augenblick nur – unbedeutend. Lediglich hervorgerufen durch das Unbekannte, sofort verdrängt durch die gedankliche Weite, die ihn umgab. Etwas Schönes, das er nicht näher beschreiben konnte, passierte. Harris lehnte sich zurück und genoss den Augenblick.
Am nächsten Tag war es soweit. Sein Gehirn war perfekt; zumindest fand Dr. Harris das. Seine geistige Reinheit war so vollkommen, dass er ohne die geringsten Mühen jede noch so winzige Kleinigkeit im Millisekundenbereich verarbeiten konnte. Das Anwenden hypergeometrischer Funktionen oder die mathematische Modellierung physikalischer Vorgänge mit Hilfe der partiellen Differentialgleichung passierten ebenso in dieser Zeitspanne. Dr. Harris brauchte keinen Schlaf mehr, Chaucers Canterbury Erzählungen oder Grimmelhausens abenteuerlicher Simplicissimus beanspruchten die Zeit eines durchlaufenden Kaffees. Über Francois Ralais annagrammatischer Spielerei bei seinen Anfangswerken konnte er nur müde schmunzeln.
Und alles wurde besser - schneller; seine Aufnahmefähigkeit stieg mit jeder Stunde proportional an. Dr. Malcolm Harris war der perfekte Mensch.
Er würde sein Wissen weitergeben, würde weiterforschen, ja, er würde die Wissenschaft – die Welt – revolutionieren.
Immer klarer. Immer weiter.
Genau zwei Stunden später erkannte er die Unvollkommenheit der menschlichen Rasse. Seine Gedanken waren schnell – schnell und nicht mehr nachvollziehbar für diese armseligen Geschöpfe, welche die Unverfrorenheit besaßen, sich Mensch zu nennen. Diese Wesen waren nicht würdig. Nicht würdig, seine Schöpfung zu erfahren. Dürftige Molekularverbindungen, die selbst den Gedanken einer Bedauerung nicht wert waren. Er würde eine Lösung finden.
Er probierte es an Nikolei aus, indem er ihn durch reine Gedankenkraft herzitierte und durch selbige den minderwertigen Schädel seines Assistenten mühelos zum Bersten brachte. Die Lösung.
Dreißig Minuten später nannte Dr. Harris sich Gott. Nein, er war Gott, denn er war vollkommen.
Sein Schädel war an mehreren Stellen aufgeplatzt und wurmartige Hirnfortsätze wanden sich zwischen seinen Haaren hindurch gen Licht. Sein Hirn wuchs mit jeder Minute. Schmerzen verspürte er keine mehr. Anfangs hatte er noch geschrien, als die ersten Wucherungen gegen seine Schädeldecke drückten, als er das Kreischen der Knochen tief in seinem Innern hörte. Ein Kreischen, millionenfachen Schmerzensschreien gleich. Wie die Schreie der menschlichen Rasse, wenn er sie mit seiner gefundenen Lösung konfrontieren würde. Ein göttlicher Choral der Pein.
Irgendwann hatte er dann dieses unterbemittelte Gefühl ausgeschaltet, hatte erkannt, dass es unbrauchbar war. Seiner nicht würdig. Gott kannte keine Schmerzen.
Immer größer. Immer weiter. Klarer.
Sechzig Sekunden danach waren die windenden Würmer noch länger geworden. Armdicke Stümpfe pulsierenden Gewebes ragten aus seinem Kopf bis hinunter zum Boden. Einige von ihnen hatten sich zurück in den Körper gebohrt, drangen an anderen Stellen wieder der Helligkeit entgegen. Hervorquellendes Rot wurde augenblicklich absorbiert. Unbrauchbar.
Dr. Malcolm Harris’ Kopf war verschwunden. Ein riesiger Klumpen Hirnmasse waberte der gedanklichen Unendlichkeit entgegen.
Harris erkannte die Unvollkommenheit von Gott.
Er würde eine Lösung finden ...