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- 01.07.2006
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Vollkommenheit
Früher habe ich es geliebt, neben Richard im Auto zu sitzen und ihm dabei zuzusehen, wie er die Maschine beherrscht. Seine Hände lagen ruhig und kraftvoll auf dem Lenkrad, nervige, zupackende Werkzeuge, sie schienen mir ein ausdrucksvolles Abbild seiner flinken Intelligenz.
Verstohlen blicke ich ihn jetzt von der Seite an. Noch immer liegen seine Hände beherrschend auf dem Lenkrad, nur die Fingerknöchel treten stärker hervor als früher, so fest hält er es umklammert. Alles im Griff.
Richard genießt das Fahren, er lauscht dem gleichmäßigen Schnurren des Motors, spürt dem Grip der Reifen auf der Straße nach. Es gefällt ihm, diesen schweren Wagen zu bewegen. Das satte, reibungslose Ineinandergreifen aller Teile der Maschine befriedigt ihn.
Er hat sein Maß gefunden, das ist das Problem, und sein Maß ist schlicht die Perfektion. Sie ist der Käfig, in dem ich gefangen bin, und das Schlimme ist, selbst wenn ich es wollte, auch ich kann nicht mehr unvollkommen sein.
Das gemeinsame Einkaufen war das Schlachtfeld, auf dem wir am Beginn unserer Beziehung unsere Machtkämpfe austrugen. Ich hasste es und ich gierte gleichzeitig danach, denn niemals zuvor hatte ich soviel über mich selbst gehört, nirgends stand ich mehr im Mittelpunkt seines Interesses als bei diesen Einkaufstouren durch die teuersten Geschäfte unserer Stadt. All meine körperlichen Vorzüge und Mängel, letztere sah er nicht selten in Verbindung mit psychischen Mängeln, wurden offen und schonungslos diskutiert, und oft tat es weh und ich wehrte mich, aber ich verlor immer. Denn das Idealbild, das Richard von mir entwarf, was ich sein könnte, wenn ich mich wirklich bemühte, war so schillernd, dass ich dem immer mehr entsprechen wollte.
Er braucht mich nicht mehr zum Einkaufen zu begleiten, jetzt beherrsche ich selbst die Kunst, mich geschmackvoll und elegant zu kleiden, regelmäßig bin ich auf der Liste der bestangezogenen Frauen dieses Landes. Nichts ist mehr geblieben von dem wilden Mädchen, das mit Vorliebe alte Männerkleidung getragen hatte und deren krauses Haar niemals mit Rundbürste oder Lockenwicklern in Berührung gekommen war. Ich wende meinen Kopf wieder auf die andere Seite, lasse meine glatt geglissten Haare wie einen schweren, dunklen Vorhang vors Gesicht gleiten. Alles wird mir zu eng, ich streife meine Pumps ab, absichtlich grabe ich dabei den Nagel des großen Zehs in das weiche Leder und hoffe, dass eine Kerbe entsteht. Ich will auch raus aus diesem nachtblauen Kleid, in dem ich immer Haltung bewahren muss, damit es gut aussieht. Ich lasse meine Schultern nach vorne hängen, mit einem Seufzer lockere ich meine Bauchmuskeln und sehe mit Befriedigung, wie sich der matt schimmernde Stoff unterhalb des Magens zu spannen beginnt. Dann beginne ich, mit meinen Fingernägeln gegen die Fensterscheibe zu tippen, weil ich weiß, dass er das hasst.
„Liebling, Kleine“, er legt dabei eine Hand auf mein Knie und lächelt mich von der Seite an, „du kannst mir meine Laune nicht verderben, ich hab heute etwas Besonderes mit dir vor!“
Ich gebe als Antwort einen Grunzlaut von mir und blase mir die Haare aus dem Gesicht.
Jetzt lacht er laut auf und umklammert mein Knie dabei noch fester:
„Ich mag es, wenn du kratzbürstig bist, das fordert mich heraus, und außerdem …“, dabei fasst er meine linke Hand und legt sie sich auf den Schritt, „spür ich das dann hier!“
Ich lege meine Füße auf das Armaturenbrett und beginne möglichst teilnahmslos und weiterhin stumm, seinen Schwanz unter dem Hosenstoff zu kneten. Er soll nicht merken, dass ich es noch immer erregend finde, wenn er so direkt ist. Ich sehe geradeaus auf die Straße und die regelmäßige Abfolge der gelben Mittelstreifen gibt meiner Hand den Rhythmus vor.
Heute Morgen hab ich Richard im Bad beobachtet. Er macht keine überflüssigen Bewegungen, er greift zielgerichtet und kontrolliert nach den Dingen, sie sind in strenger Ordnung aufgestellt, und auch ich habe meinen Platz. Sein Rücken ist schön, ich habe dem Muskelspiel unter der Haut zugesehen, als er sich rasierte, die Linie von der Schulter bis zur Taille hat noch immer einen atemberaubenden Schwung. Aber die ungezügelte Energie seiner frühen Jahre, die seinen Schritten etwas Tänzelndes gab, hat er verloren. Er war wie eine Großkatze, die auf der Jagd noch genug Kraft auch für das Spiel hat. Ich will, dass er mich sofort vor sich her jagt.
„Nicht jetzt“, sagt er, „das heben wir uns für nachher auf, wenn ich dir dein Geburtstagsgeschenk gezeigt habe.“ Dabei fasst er meine Hand und legt sie mir zurück auf den Oberschenkel, den er nicht berührt. Es geht nach seinem Plan, nicht nach meinem. Es ist egal, dass die Festigkeit des Autositzes das Pochen meines Blutes als Echo zurückwirft, welches durch meinen ganzen Körper schwingt.
„Sind wir bald da?“ Wenn ich heiß bin, ist meine Stimme immer tiefer als normal, und ich hasse mich nun dafür.
„Ja, bald! Du wirst etwas sehr Schönes geschenkt bekommen, aber du wirst dafür auch etwas tun müssen. Ich habe es selbst noch nicht gesehen, aber ich verspreche mir sehr viel davon!“ Dann zwinkert er mir zu.
Wir fahren bereits so lange, es ist dunkel geworden. Zwischen den locker stehenden Bäumen leuchten ab und zu die Fenster eines einsamen Hauses. Ich gähne demonstrativ, meine Neugierde soll er nicht merken, wenn ich schon vorher meine Erregung nicht verbergen konnte.
„Müde?“ Wieder lächelt er, ich hasse es, dass er mich so gut kennt. Als ich wieder beginne, mit meinen Fingernägeln gegen die Scheibe zu tippen, gibt er endlich seine Gelassenheit auf. Er steigt hart auf die Bremse.
„Wenn es für Madame zu langweilig wird, dann kann ich auch einfach umdrehen!“ Seine Stimme rasselt wie ein Hund an der Kette.
Ich sehe von der Seite, wie er seinen Kopf vorschiebt, über seiner rechten Augenbraue ist eine tiefe Querfalte entstanden. Ich setze noch eins drauf.
„Ach nein, es bedeutet dir ja offensichtlich so viel!“ Jetzt hab ich gewonnen. Richard knurrt.
„Wieso lümmelst du eigentlich auf deinem Sitz wie ein verdammter Teenager?“ Er gibt wieder Gas.
Darauf sage ich nichts mehr, wedle mit meinen Füßen auf dem Armaturenbrett hin und her, schiebe meinen Arsch noch weiter vor, damit mein Kreuz richtig durchhängt, betrachte fasziniert meine gelackten Nägel und beginne zu singen: „Baby you can drive my car, tonight I´m gonna be a star, Baby you can drive my car, and maybe I love you, beep beep´m beep beep yeah …“
„Uuh, wie rebellisch, uuuh, wie süß, uuuuh, wie kleinmädchenhaft … Das werde ich wohl auf der Liste hinzufügen müssen!“ Er gewinnt wieder Oberwasser, denn ich kann mir die Frage jetzt nicht verkneifen:
„Welche Liste denn?“
„Ich habe eine Liste gemacht über dich, was dich so ausmacht, na ja, es ist wohl mehr als eine Liste, es ist ein ganzer Ordner geworden. Greif mal nach hinten, da liegt er.“
„Eine Liste? Wozu?“, frage ich mit Nachdruck und hol mir den ziemlich dicken Aktenordner nach vorne.
„Das hab ich alles dem Mann gesandt, zu dem wir heute fahren … er braucht das, um das optimale Ergebnis zu erzielen.“
Erstaunt blättere ich die Mappe durch. Es gibt verschiedene Unterordner darin und jeder hat eine Überschrift, die aus einem einzigen Eigenschaftswort besteht: apart, klassisch, elegant, klar, kristallin, filigran, aristokratisch, anarchisch, geheimnisvoll, klimaxisch, …
„Klimaxisch?“
Jetzt hat er wieder alle Fäden des Spiels in der Hand und er amüsiert sich prächtig.
„Zu immer neuen Höhepunkten anregend …“ Er grinst breit.
Jeder Eigenschaftsrubrik sind Fotos von mir beigefügt, einige kenne ich, viele aber nicht. Dazu gibt es kleine Berichte, die mich in wohlgesetzten Worten beschreiben, von meinem Mann verfasst. Dann ist da auch noch eine ganze Serie von Fotos, offensichtlich an aufeinanderfolgenden Tagen aufgenommen, denn in jeder Ecke rechts oben steht groß das genaue Datum. Einen Monat lang hat er jeden Tag ein Foto von mir gemacht, während ich geschlafen habe!
„Du“, sagt er und jetzt legt er seine Hand wieder auf mein Knie, „heute werden wir einen neuen Höhepunkt erreichen. Der Mann, zu dem wir fahren, setzt völlig neue Maßstäbe in der Haute Couture. Es ist ein Spiel, bei dem keiner weiß, wie es ausgeht, oder was dabei herauskommt, mach einfach mit, das wird sicher sehr spannend! O ja, du wirst ein neues Kleid bekommen, aber es wird eines sein, wie du es noch nie besessen hast, und es wird dich vollkommen machen.“
Die Mappe irritiert mich, und ich weiß nicht, ob das meinen Argwohn wecken oder ob ich mich geschmeichelt fühlen soll. Ich bin sprachlos und für meinen Gesichtsausdruck müsste man jetzt wohl den Ordner „blöde“ anlegen.
„Ah, da sind wir ja endlich!“ So aufgeregt hab ich ihn schon lange nicht mehr gesehen. Ich beschließe, das Ganze amüsant zu finden.
Wir bleiben vor der Einfahrt zu einer Villa stehen, der man sofort ansieht, dass sie einem Künstler gehört: Der Garten ist gediegen verwildert, es stehen einzelne Bänke herum, die überhaupt nicht zueinander passen, aber trotzdem gut harmonieren. Das Haus selbst ist ein moderner Bau in schlichtem Weiß, die riesige Holztür scheint jedoch sehr alt zu sein. Während wir den Weg bis zur Tür gehen, sehe ich im Hintergrund des Gartens ein schwarz-weiß geflecktes Pony stehen. Zwischen den Mähnenhaaren lugt es zu uns herüber. Das Haus hat einen gläsernen Anbau, der wie ein Wintergarten aussieht, in dem aber ein unbestimmbares Licht glüht, das die weißen Flecken des Ponys bläulich leuchten lässt.
Die Tür öffnet sich langsam und knarrend, ich erwarte, dass gleich ein Hohepriester der Mode heraustritt, schwarz gekleidet, arrogant, schlank, mit streng nach hinten gekämmtem Haar. Aber da erscheint ein riesiger Mann in der Tür, hellgelbe Wildseide umschmeichelt seine beachtliche Körperfülle. Leichtfüßig, wie auf Zehenspitzen, huscht er die paar Stufen zum Kiesweg hinunter, läuft fast auf mich zu und umarmt mich heftig. Es ist mir nicht unangenehm, er riecht nach süßem Harz, Zigaretten und Thymian.
„Schauen Sie nicht so erschrocken, ich hab schon zu Abend gegessen, ich tu Ihnen nichts!“ Dann lacht er dröhnend, die gelbe Seide bebt, das Pony wiehert.
„Sie sind in Wirklichkeit viel schöner als auf den Fotos, Madame, ich hoffe, meine geringen Mittel können dem gerecht werden!“ Seine braunen Augen haben einen gelben Ring um die Pupille.
Meinen Mann begrüßt er förmlich, indem er sich knapp verbeugt.
„Ich nehme an, Sie wollen gleich beginnen.“ Er dreht sich erstaunlich rasch um, wir folgen der gelben Wolke.
„Ja“, sagt mein Mann im Gehen, „ich bin schon sehr gespannt auf Ihre berühmte Maschine!“
„Es ist keine Maschine im eigentlichen Sinn, sondern ein Sympathetizer, der mit Schwingungen arbeitet. Ich liebe Stoffe, bilden sie nicht in ihrer dichten Verwobenheit das Leben selbst ab? Ich habe mich auch sehr mit der Herstellung von Textilien beschäftigt und schließlich ein Gewebe entwickelt, welches fähig ist, das grundlegende Formprinzip eines Menschen in sich aufzunehmen. Ich brauch dazu auch einen Computer, der die erforderlichen Daten speichert, berechnet und schließlich auf diesen Stoff überträgt. Daher, Madame“, er bleibt stehen und dreht sich wieder zu mir um, „werden Sie einige kleinere Aufgaben bewältigen müssen. Jeder hat ein anderes Formprinzip, es wird oft durch äußere Faktoren überdeckt und muss erst aufgespürt werden. Aber jeder hat eines, das, einmal sichtbar gemacht, vollendet schön ist. Man könnte auch sagen, dass gleichsam das in Ihnen schlummernde, vollkommene Formideal gefunden werden muss, welches dann auf ein Kleid übertragen wird. Das Kleid strahlt dann wieder auf Sie selbst zurück, unterstreicht die Ihnen innewohnende Schönheit. Aber das ist dann nur mehr eine Kleinigkeit.“
Er zwinkert mir zu, ich beginne ihn für einen Scharlatan zu halten. Im Gesicht Richards sehe ich aber keinerlei Zweifel, seine Augen leuchten.
Wir gehen durch einen schmalen Gang, der vor Farben zu glühen scheint. An beiden Seiten hängen Stoffe in langen Bahnen herunter, unwillkürlich streiche ich mit der Hand im Vorbeigehen darüber. Rau, weich, glatt, kratzig, dünn, wollig, kühl, strukturiert, pelzig, metallisch, linnen, warm, leicht, aus Spitze, anschmiegsam, baumwollen, schwer, seidig, hart, samtig, geschmeidig, spinnwebartig, grob, haarig, dick, fedrig, steif, bestickt, fasrig … meine Hand spürt schneller, als mein Kopf die richtigen Wörter bilden kann.
„Und schon haben Sie die erste Aufgabe erledigt!“ Der Meister dreht sich wieder herum und zeigt mit dem rechten kleinen Finger nach oben zur Decke, an der die Stoffe befestigt sind. „Da gehen Leitungen zum Computer weg, die Reaktionen Ihrer Haut auf die verschiedenen Stoffe sind bereits gespeichert!“
Der Raum, in den wir jetzt gelangen, lässt sich unschwer als der gläserne Anbau erkennen, der mir vorher schon auffiel. Eine Breitseite ist völlig mit einem riesigen Bildschirm bedeckt, in einer Ecke steht ein normal aussehender Computer, ansonsten ist der Raum leer.
„Um zum Formprinzip eines Menschen zu gelangen, kann man verschiedene Paradigmen nehmen, aber es genügen ein paar, müssen nicht viele sein. Die folgenden Aufgaben sind leicht zu erledigen. Zuerst möchte ich Sie bitten, bewegen Sie sich einfach durch den Raum.“
Das schwache, bläuliche Licht wird heller und leise Musik beginnt zu spielen. Nun kann ich mich selbst auf dem Bildschirm sehen, wie ich mitten im Raum stehe, noch unsicher und zögerlich, dann beginne ich zu gehen. Als Erstes wird mein Körper genau in der Mitte durch eine Linie geteilt, dann kommen einige Querlinien dazu, die meine Schultern, meine Hüften, meine Knie betonen. Die Linien bleiben vorerst starr, doch dann beginnen sie wie schwarze Schlangen über meinen Körper zu huschen, werden immer mehr, verharren hier und da, um dann, manchmal tastend, manchmal rasend schnell, ihre Position wieder zu verändern. Meine Formen werden in geometrische Formen umgewandelt, Kuben, Würfel, Röhren. Die Musik wechselt, nun sind es afrikanische Trommeln, deren komplizierte, in sich verschlungene Rhythmen mich zu ein paar Tanzschritten animieren. Auch das muss in den Unterlagen gewesen sein, die Richard dem Meister zukommen hat lassen. Meine Tanzleidenschaft. Meine weichen Hügel und Täler werden nun zu einem plastischen, sich bewegenden Rasterfeld, Dann sehe ich mich wieder klar auf dem Bildschirm, unzerteilt und vollständig, schwer atmend. Um mich nicht weiter selbst beobachten zu müssen, sehe ich in den Garten hinaus. Da steht das Pony, schmiegt sich so fest von außen an die Glaswand, dass sein runder Bauch platt erscheint, und rührt nicht einmal ein Ohr. Fragend schaue ich zum Meister.
„Ich hätte irgendein Tier nehmen können, aber ich mag den kleinen Frechdachs nun einmal so gern.“ Wieder bebt die gelbe Seide. Als er sich wieder beruhigt hat, ich glaube, ich hörte die Fenster leise scheppern, setzt er fort: „Wenn man nun bei unserem kleinen Experiment Ihre Daten mit einem animalischen Prinzip mischt, dann tritt die in Ihnen angelegte vollkommene Form leichter zu Tage, denn sie wird vor allem durch kulturelle und zivilisatorische Prozesse verdeckt. Die Daten des Ponys werden über die Glaswand übertragen.
Und nun bitte ich Sie, geben Sie uns eine Probe Ihrer Stimme, damit wir unsere Arbeit fortsetzen können. Ihr Mann hätte gerne, dass Sie diesen Text lesen.“ Richard habe ich inzwischen ganz vergessen, ich sehe zu ihm hinüber, seine Wangen haben eine fiebrige Röte. Ich bin viel zu neugierig auf dieses Spiel hier, für Argwohn hab ich jetzt keine Zeit.
Auf dem Bildschirm erscheint ein Text, den ich laut zu lesen beginne: „ … Siehe, schön bist du, meine Freundin. Siehe, du bist schön! Deine Augen leuchten wie Tauben hinter deinem Schleier hervor. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die vom Gebirge Gilead hüpfen. Deine Zähne sind wie eine Herde frisch geschorener Schafe, die aus der Schwemme heraufkommen, jeder Zahn hat seinen Zwilling, keinem von ihnen fehlt er. Wie eine karmesinrote Schnur sind deine Lippen, und dein Mund ist lieblich. Wie eine Granatapfelscheibe schimmert deine Schläfe hinter deinem Schleier hervor. Dein Hals ist wie der Turm Davids, der rund gebaut ist. Tausend Schilde hängen daran, alles Schilde von Helden. Deine beiden Brüste sind wie zwei Kitze, Zwillinge der Gazelle, die in den Lilien weiden. Wenn der Tag verhaucht und die Schatten fliehen, will ich zum Myrrhenberg hingehen und zum Weihrauchhügel. Alles an dir ist schön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir …“
Während ich lese, werden meine Laute an der Wand zu Bildern, jedes Zittern und Zögern in der Stimme, alle Höhen und Tiefen, rufen andere Farben und Formen hervor, und als ich während des Lesens beginne, Trauer zu empfinden, Trauer darüber, dass ich niemals diese naive Bedingungslosigkeit der Liebe erfahren werde, von dem dieser sehr alte Text erzählt, und ich mich gleichzeitig aus ganzem Herzen danach sehne, entstehen immer deutlichere Muster. Und dann kommt noch der Ärger hinzu, dass mich Richard diesen Text lesen lässt, was für eine Attitüde, weiß er nicht, dass es zwischen uns niemals so war und auch niemals so sein wird? Wenn ich für ihn so etwas wäre wie die Freundin im Lied, würde ich nicht hier stehen und nach meinem verdammten Formideal suchen. Ich breche ab.
Der Meister tritt lächelnd zu mir, seine gelben Augenringe leuchten und ich beginne mich ein wenig vor ihm zu fürchten. Er kann die Muster an der Wand sicher deutlich lesen. Ich werde rot und höre nur entfernt, was er jetzt zu mir sagt:
„Das Folgende ist ein wenig intim, und Sie müssen es nicht tun, aber es verkürzt das ganze Verfahren erheblich!“ Bei diesen Worten reicht er mir zwei weiße Leinenfleckchen. Ich will jetzt möglichst schnell hier raus und nehme ihm die Stoffteile aus der Hand.
„Reiben Sie sich mit einem fest den Nacken und mit dem anderen, na ja, … den zentralsten Punkt Ihres Körpers, dort, wo Sie am meisten nach sich selbst riechen. Ich gehe solange hinaus.“
Einen Moment lang sehe ich ihn ratlos an, dann nicke ich. Als er draußen ist, stürzt Richard auf mich zu.
„Darf ich das machen?“
Warum ist er jetzt so scharf darauf, mich da mit diesem Stofffetzen zu berühren, sonst greift er mich doch auch nur noch selten an.
„Der Geruch deiner Finger könnte das Ergebnis verfälschen“, antworte ich geistesgegenwärtig und erledige die Aufgabe möglichst rasch. Dann gehe ich zur Tür und sage, dass ich fertig bin. Der Meister tritt wieder ein, nimmt die Leinenstückchen an sich und legt sie auf eine Art Scanner. Das Pony klebt noch immer an der Scheibe.
Auf dem Bildschirm an der Wand erscheint noch einmal mein Bild. Ich trage ein dunkelrotes, weich fallendes Kleid, ich bin wunderschön. Viel schöner als in Wirklichkeit. Richard steht fasziniert davor und starrt und beachtet mich nicht weiter.
„Das ist das Ergebnis?“, fragt Richard heiser.
„Ja, aber etwas fehlt noch!“
„Was denn?“ Und Richard beginnt, die Linien dieser Frau an der Wand mit dem Finger nachzuziehen, dann berührt er voll Zärtlichkeit ihr Gesicht, ihre Brüste, lässt die Hand dann auf einer ihrer Hüften liegen.
Der gelbe Berg wendet sich mir zu und sieht mich ernst an.
„Sagen Sie mir etwas, was aus Ihrer tiefsten Seele kommt, ein Geheimnis! Ich brauche noch ein Stückchen Ihrer Essenz.“
„Ja!“, Richard wendet sich triumphierend mir zu, schiebt sich zwischen den Meister und mich, packt meine Hände und schüttelt sie, „gib etwas von deiner Essenz, damit dieses Kleid Wirklichkeit wird, damit du vollkommen wirst, sag schon, sag es endlich, sag mir, was in deiner tiefsten Seele ruht, sag mir endlich, was ich noch nicht von dir weiß!“ Die letzten Worte schreit er. Nichts ist mehr da vom selbstsicheren, geschmeidigen Tier, er ist ein Fanatiker geworden, der schlecht aus dem Mund riecht.
Ich stehe ruhig und schaue ihm fest in die Augen.
„In meiner tiefsten Seele verabscheue ich dich!“, stoße ich hervor. Dann laufe ich hinaus in den Garten. Ich bleibe auf dem Kiesweg stehen, hole tief Luft, weiß nicht, was ich jetzt machen soll, wie ich von hier wegkomme, beginne zu weinen. Da schiebt sich etwas Warmes, Feuchtes an meine Seite, das Pony stupst mich mit seinem Kopf.
„Warten Sie, Madame, es tut mir leid, ich hab noch etwas für Sie!“ Die Stimme des Meisters ist atemlos.
„Ich will es nicht!“
„Madame, Sie verstehen nicht, zu einer vollkommenen Frau gehört auch ihre innere Freiheit!“ Bei diesen Worten verbeugt er sich und überreicht mir ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Paket. Ich reiße es auf, darin ist ein altes, weißes Herrenhemd, das einmal meinem Mann gehört hat.
In der feuchten Nachtluft beginnen sich meine Haare zu kräuseln.