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- 19.06.2001
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Volmere, 1349 A.D.
VOLMERE, 1349 A.D.
Die engen, schlammigen Straßen waren mit Abfall, Kot und leblosen Körpern bedeckt. Muskulöse Männer, die ihre Gesichter hinter Stoffmasken verbargen, zogen wuchtige Karren hinter sich her, auf die sie die Toten warfen. Der Schimmel fraß sich die Wände der kleinen Holzhäuser hoch und Ratten und anderes Ungeziefer quollen aus allen Löchern und Rissen. Überall in schattigen Ecken standen Flagellanten, die sich mit monoton wiederholenden Peitschenhieben selbst bestraften, den glasigen Blick ihrer blutunterlaufenen Augen zum Boden gerichtet, ein leises Gebet auf den Lippen habend. Die kleine Ortschaft Volmere in der nördlichen Provinz Frankreichs befand sich fest im Griff des Schwarzen Todes.
Monsieur Olivier Bouché besaß eine kleine Wirtschaft, die seit dem Ausbruch der Pest kaum noch Gewinn brachte. Bislang waren er und seine Familie vor der verheerenden Seuche verschont geblieben, was zum großen Teil auch damit zusammenhing, dass nicht jedem Eintritt gewährt wurde. Dafür sorgten aus dem Landesinneren geflohene Sträflinge, die für ihr hohes Risiko etwas Brot und einen Schlafplatz im leeren Schweinestall erhielten. Es waren simpel gestrickte Menschen, die froh waren, in diesen schweren Zeiten wenigstens etwas Buße für ihre Taten leisten zu können. Bouché hatte schon früh in seiner mäßig aufregenden Kindheit einen Unfall erlitten, der ihm einen leicht schiefen Gang eingebracht hatte. Zudem, wie es der Zufall wollte, traf ihn nur zwei Monate später bei einem mittelschweren Feuer in Volmere eine brennende Holzlatte am Kopf, was ihm die Sehkraft des linken Auges kostete. Trotz diesen Umständen brachte es der junge Bouché durch windige Geschäfte zu etwas Vermögen und heiratete die junge Barbet Gastance, die achteinhalb Monate später unter enormen Schmerzen einem gesunden Jungen das Leben schenkte. Die zufriedenen Eltern nannten ihn Grimard und unterwiesen ihn einer guten Erziehung, die sogar das Lesen beinhaltete. Nach Jahren der nicht ganz legalen Geschäftemacherei hatte Monsieur Bouché genug verdient, um von der Kriminalität Abschied zu nehmen. Er kaufte ein altes Haus, ließ das Holz durch Steine ersetzen, schaffte Tische und Stühle heran, schloß Verträge mit den Bauern in der Umgebung ab und eröffnete nach einem halben Jahr Umbaumaßnahmen eine Wirtschaft. Ein Glücksfall für die Bouchés. Das ‚Liberte‘ war Tag wie Nacht gut besucht und Bouché konnte zufrieden das Geld in Leinen eingehüllt unter den Holzdielen im Keller verstecken. Und dann, eines Tages, wie aus dem Nichts, hielt die Pest Einzug in Volmere.
Gedankenverloren trommelte Barbet mit ihren Fingern eine Melodie auf der Holzplatte des Tisches, an dem sie saß. Es war ein Kinderlied, das sie damals oft Grimard zum Einschlafen vorgesungen hatte. Sie begann leise zu summen. Ihre Stimme war von lieblicher Natur, so wie sie selbst. In Erinnerungen schwelgend merkte sie nicht, wie Olivier sich ihr näherte. Seine zusammengekniffenen Augen deuteten an, dass er nicht gut gelaunt war.
Alles geht den Bach runter und sie summt, dachte er mißbilligend. „Barbet!“, sagte er laut und berührte seine Frau an der Schulter. „Barbet!“
Erschrocken zuckte sie zusammen und drehte sich um. „Olivier... Ich habe dich nicht kommen hören.“
„Du solltest nicht zuviel über diese Welt nachdenken. Und das Summen von Liedern bewirtet die Gäste nicht!“ Er deutete hinter sich, wo drei in dunkle Gewänder gekleidete Männer an einem Tisch saßen und wild miteinander stritten und gestikulierten.
Barbet senkte schuldbewußt ihren Blick. „Verzeih, ich werde mich sofort um sie kümmern.“
„Ja, gut“, brummte immer noch verärgert Olivier. „Sie scheinen Geld zu haben. Tisch Ihnen guten Wein und gutes Brot auf. Vielleicht bleiben sie sogar über Nacht.“ Barbet zog sich ihr Kleid glatt und ging zu den Gästen. „Na dann...“, seufzte er. Olivier fuhr sich durch sein lichtes, graues Haar. Wo war eigentlich Grimard? „Treibt er sich wieder herum? Mit diesem Bastard Frouchard?“
Grimard Bouché hatte im Sommer, als gut die Hälfte der Einwohner Volmeres sich mit dunklen, eitrigen Beulen am Körper ihrem Tod entgegen schleppten, sein vierzehntes Lebensjahr erreicht. Im Gegensatz zu vielen anderen Gleichaltrigen war er der Schrift mächtig. Oft saß er mit seinem besten Freund Bartolome Frouchard im hintersten Winkel einer verlassenen Scheune, um diesem geduldig das Lesen beizubringen. So auch an diesem Tag, als dichter Regen fiel und in weiter Ferne sich mit dumpfen Grollen ein Gewitter ankündigte.
„Das... Hu... Huhn ist im Be... Besitz des Herrn.“ Mühsam fuhr Bartolome mit seinen schmutzigen Fingern über die vergilbten Seiten Papier, die er von Grimard bekommen hatte. „So... So wie al... alles dem Herrn ge... gehö... gehört.“ Er schaute auf, runzelte die Stirn und sah zu Grimard. „Du schreibst solche Sachen?“
Grimard nickte lächelnd und antwortete: „Ja, mein Freund. Solche Sachen schreibe ich auf.“
„Es klingt gefährlich. Es klingt vorwurfsvoll.“
„Mag sein.“ Grimard zuckte mit den Schultern. „Denk nicht zu sehr darüber nach, Bartolome. Lies einfach und lerne.“
„Ja.“ Dankbar lächelte Frouchard seinen Freund an. Bartolome Frouchard war das drittälteste Kind einer Tagelöhnerfamilie, die vor den Toren Volmeres in einer Behausung aus Lehm und Stroh auf engstem Raum zusammenlebte. So oft, wie es sich einrichten ließ, stahl er sich von der schweißtreibenden Arbeit auf den Feldern davon, um mit Grimard durch die Stadt zu laufen, oder sich im Lesen und Schreiben unterrichten zu lassen. Er wollte ihn gerade fragen, wie man auf solch nachdenkliche Zeilen kommen konnte, als plötzlich draußen direkt vor der Scheune ein Blitz einschlug. Schnell wuchsen Rauch und Flammen zu einer ernstzunehmenden Gefahr. Er warf das Papier zur Seite. „Schnell! Raus hier!“
Grimard hielt sich schützend die Hand vor dem Mund. „Bartolome!“ Er stolperte und fiel mit einem ängstlichen Schrei zu Boden.
„Grimard!“ Frouchard packte seinen Freund und zog ihn aus der Scheune, gerade noch rechtzeitig, bevor diese lichterloh in Flammen stand. „Wie geht das? All das Holz ist durch den Regen aufgeweicht, und dennoch brennt die Scheune!“ Ächzend ließ er sich mit Grimard auf den Boden fallen. „Was geschieht hier?“
Sein Freund rappelte sich auf. „Der Regen dauerte noch nicht lange an. Möglich, dass das Holz trocken genug war.“ Grimard sah zu Bartolome. „Danke.“
„Du hättest auch so gehandelt.“
„Ja.“
„Also ist es keine Teufelei?“
Lächelnd sagte Grimard: „Es ist keine Teufelei, mein Freund. Alles läßt sich erklären.“ Er zeigte zu der Scheune. „Auch ein Feuer inmitten vieler Regentropfen.“ Es gibt immer eine Erklärung für alles, dachte Grimard. „Nun komm, gehen wir zurück.“ Sie standen auf, drehten sich um und ließen die Scheune, die neben einem kleinen Wald lag, den man Lumare nannte, hinter sich. Trotz des dichten Regens brannte die Scheune auf eine gespenstische Weise, und es dauerte nicht lange, bis sie zusammenbrach.
„Hier sind Wein und Brot gegen den Durst und Hunger!“, unterbrach Barbet die streitenden Männer und stellte das Tablett auf den Tisch. „Ich wünsche angenehmes Speisen.“
„Danke“, antwortete einer der Männer, während die beiden anderen sofort gierig das Brot aufbrachen. „Und der hier ist für Euch.“ Fast beiläufig ließ er ein funkelndes Geldstück über den Tisch rollen. „Für die schnelle Bedienung.“
Sie machte eine höfliche Verbeugung. „Vielen Dank, mein Herr.“ Lächelnd ging sie zurück zu ihrem Mann, der ein neues Weinfass anstach. Das letzte, was sie noch hatten.
Ächzend vor Anstrengung trieb Olivier einen Keil in das Fass. „Bald haben wir gar nichts mehr, Barbet. Dann müssen wir schließen und vom Ersparten über die Runden kommen. Gut, dass ich vorausschauend ein kleines Vermögen zur Seite gelegt habe. In diesen schweren Zeiten wird es hilfreich sein.“
Barbet nickte Interesse heuchelnd und sagte: „Du hast wie immer weise gehandelt, Olivier.“
„Spar dir deine verlogenen Worte und hilf mir!“, fuhr er sie böse an. In diesem Moment ging die Tür auf und Grimard betrat den mit vielen Fackeln beleuchteten Raum. „Ah... Mein junger Sohn läßt sich auch wieder einmal blicken.“
„Vater, Mutter!“ Grimard beachtete die drei Wein trinkenden Männer nicht. „Die Scheune bei Lumare ist abgebrannt!“
Mit einem letzten kraftvollen Schlag hatte der alte Bouché das Fass endlich angestochen. Er wischte sich den Schweiss aus dem Gesicht und sah zu seinem Sohn. „Unsinn! Es regnet in Strömen. Und wenn, dann hoffe ich, dass dein nichtsnutziger Freund Frouchard in den Flammen einen qualvollen Tod erlitten hat.“
„Warum sagst du so etwas, Vater?“, fragte Grimard wütend. „Er ist mein Freund, und er hat mich aus der brennenden Scheune gerettet. Er ist kein Nichtsnutz!“ Zornig verschränkte er die Arme vor der Brust.
Olivier wollte etwas sagen, doch Barbet unterbrach ihn: „Nun schweigt! Beide! Die Gäste schauen schon.“ Sie deutete mit dem Kopf leicht zu den drei Männern. „Was hinterlässt dieses Gerede denn für einen Eindruck!“
„Verzeih, Mutter“, sagte Grimard spitz. „Doch nicht ich habe den Streit angefangen.“
Olivier hob drohend den Hammer, den er noch immer in der Hand hielt, hoch und sagte: „Altkluger Bengel! Haben wir dir das gelehrt? Ich wünsche...“ Er hielt kurz inne, holte tief Luft und ließ die Hand sinken. „Ab sofort verbiete ich dir den Umgang mit diesem Bartolome. Vermutlich steckt die Seuche schon in seiner stinkenden Kleidung. Und bevor du mir widersprichst, geh hoch in dein Zimmer, Grimard!“ Der Klang in der Stimme des alten Bouchés duldete keinen Widerspruch, und Grimard war klug genug zu wissen, wann man einer Anordnung seines Vaters besser Folge zu leisten hatte.
Als ihr Sohn schweigend die Treppe hochgegangen war und man kurze Zeit später den lauten Knall einer wütend zugeschlagenen Tür hören konnte, sagte Barbet: „Sei doch ein wenig einsichtiger mit ihm, Olivier. Er bringt dem Tagelöhner das Lesen und Schreiben bei. Das ist nicht frevelhaft. Im Gegenteil, wir sollten das begrüßen. Gerade in diesen Zeiten, wo der Schwarze Tod willkürlich um sich greift.“
„Ich weiß, Barbet,“ murmelte Olivier und stützte sich seufzend auf seinen Händen ab. „Ich weiß...“ Er sah zu den drei Männern, die die leeren Krüge über ihren Köpfen schwenkten. „Bring den Herren noch etwas Wein!“
Nicht nur in die Scheune bei Lumare war der Blitz eingeschlagen und hatte Feuer verursacht. Rings um die Ortschaft Volmare brannten vereinzelt kleine Mühlen, alte Höfe, verkommene Scheunen und verlassene Burgen. Aus großer Höhe betrachtet bildeten die vielen brennenden Punkte einen Kreis, der Volmere umschlossen hatte. Nach und nach vereinten sich diese Punkte, bis ein unüberwindlicher Wall aus brüllenden Flammen entstand, der sich enger und enger um die kleine Stadt zusammenzog. Der dunkle Himmel wurde von Gewittern beherrscht, die sich mit bedrohlichem Blitzen und Donnern lautstark Gehör verschafften. Und als der brennende Kreis sich um Volmere geschlossen hatte, schossen vier Reiter auf schwarzen Pferden aus den Flammen, ritten schnell und unbeirrbar auf die Stadt zu und hinterließen auf ihrem Weg tote Erde. Der Regen wurde noch stärker.
Ein lauter Knall ließ den Boden erzittern. Die drei Männer am Tisch zuckten zusammen und stießen ihre Weinkrüge um. Grimard in seinem Zimmer fiel aus dem Bett und stieß sich schmerzhaft den Kopf am kalten, schmutzigen Stein. Barbet konnte sich gerade so auf den Beinen halten.
„Grundgütiger!“, schrie Olivier. „Was beim Herrn war das?“ Er lag auf dem Boden und sah zu Barbet. „Hörst du das?“
„Was?“
„Hörst du es nicht?“
Barbet legte den Kopf etwas quer. „Ich weiß nicht, was du...“ Und dann hörte sie es auch. Ein stetig lauter werdendes Trommeln. „Was ist das, Olivier?“
„Es ist der Regen, der stärker geworden ist“, sagte eine tief klingende Stimme. „Regentropfen prasseln tausendfach auf das Dach.“
Olivier, der sich wieder aufgerappelt hatte, und Barbet drehten sich erstaunt um und starrten zur Tür. Die drei Männer am Tisch rückten, ohne dass sie es merkten, näher zusammen. Eine große Gestalt stand im Türrahmen. Draußen donnerte es und Blitze erhellten die dunkle Nacht.
„Es ist der Regen, Monsieur Bouché“, wiederholte die Gestalt, betrat die Wirtschaft und schloss die Tür hinter sich. Im Schein der Fackeln konnten die Anwesenden erkennen, dass es ein Ritter war. Er trug eine alte, matt glänzende Rüstung, seine Haare waren zersaust und quer über sein Gesicht zeugte eine grotesk aussehende Narbe von glorreichen Schlachten. Kurz sah sich der Ritter um. Als er die drei Männer am Tisch erblickte, runzelte er die Stirn und ging auf sie zu. Im Gehen zog er ein edel aussehendes Schwert aus der verrosteten Scheide.
„Herr im Himmel, was geschehen hier für merkwürdige Dinge?“, fragte sich Olivier. Fassungslos mußte er zusehen, wie der Ritter sich mit erhobenen Schwert brüllend auf die drei Männer stürzte und diese mit drei schnellen Hieben um deren Köpfe brachte. Die Körper schwankten noch etwas hin und her, fielen dann aber mit einem unangenehmen Geräusch auf den Boden. „Grundgütiger!“, schrie Olivier und versteckte sich hinter Barbet, die wie zur Salzsäule erstarrt sich nicht bewegen konnte. Nur ihre panischen Blicke verrieten, dass sie durchaus das soeben Geschehene wahrgenommen hatte.
Zufrieden wischte der Ritter mit der bloßen Hand das Blut von seinem Schwert und steckte dieses wieder in die Scheide. Dann drehte er sich zu Olivier und Barbet um. „Ihr braucht Euch nicht zu ängstigen. Jene drei da...“, verächtlich trat er gegen einen der kopflosen Körper, „Sie waren die berüchtigten Brüder Palavéz. Diebe und Mörder. Sie hätten Euch diese Nacht noch umgebracht. Verschwendet kein Mitleid an diese gottlosen Halunken!“
Endlich überwand Barbet ihre Starre und fiel in die Arme ihres Mannes. Mit weit aufgerissenen Augen fragte sie den Ritter: „Wer seid Ihr?“
Der Ritter nickte und lächelte freundlich. „Mein Name ist Daniel de Aphradéure. Und ich bin hier, um Euch vor großem Unheil zu bewahren!“
Vorsichtig hatte sich Grimard aus seinem Zimmer geschlichen, um mit etwas Wasser das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Der Sturz aus dem Bett war nicht nur schmerzhaft gewesen, sondern hatte auch zu einer kleinen Platzwunde an der Schläfe geführt. Vielleicht war es Zufall, dass Grimard just in dem Moment aus seinem Zimmer kam, als der Ritter de Aphradéure den drei Mördern Palavés die Köpfe abschlug. Nun kauerte Grimard zitternd auf den morschen Stufen der Treppe und starrte angsterfüllt durch das Geländer nach unten, zu seinen Eltern und zu diesem furchterregenden Ritter.
Die vier Reiter auf ihren schwarzen Pferden hatten das Stadttor erreicht. Hinter ihnen lag eine Schneise der Zerstörung. Einst blühende Felder waren nur noch aschgraue Landstriche, bestehend aus dunkler Wüste und glimmenden, verkohlten Ähren. Das Feuer, das Volmare umgab, rückte immer näher, und mit jedem weiteren Meter wurde dessen schauriges Brüllen mehr und mehr verstärkt. Die vier Reiter nickten sich stumm zu. Das große Stadttor, dessen Holz mit Wasser vollgesaugt war, ging in Flammen auf und stürzte nach wenigen Augenblicken in sich zusammen. Die Reiter zogen kurz an den Zügeln, die Pferde setzten sich in Bewegung, und kaum, dass sie das zerstörte Tor passierten, brach über Volmere die Hölle herein.
„Unheil?“, fragte Monsieur Bouché und schaute unglücklich auf die drei Leichname. „Wie meint Ihr das?“
Der Ritter hob die Hand. „Seid still! Nicht einmal Euer Herz will ich schlagen hören!“, befahl er leise. Er schlich, so gut es ging, auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete diese einen kleinen Spalt. „Es hat bereits angefangen...“ Daniel de Aphradéure schlug die Tür wieder zu und drehte sich um. „Schnell, wo ist Grimard, Euer Sohn? Ich muss mit ihm reden!“ Er sah zu den Fenstern. „Schließt die Fenster, alles! Nichts darf von außen hier eindringen! Und los, holt mir Grimard!“
Barbet begann zu weinen, raffte sich dennoch auf, ihren Sohn aus seinem Zimmer zu holen. So sehr war sie mit zu vielen Gedanken bestraft, dass sie beinahe den auf der Treppe sitzenden Grimard überrannt hätte. „Grimard!“
Völlig aufgelöst hatte sich Grimard an das Geländer geklammert. „Mut... Mutter... Was... Was geschieht hier?“, wollte er mit stockender Stimme wissen.
Sie setzte sich zu ihm auf die Treppe, löste seinen starken Griff vom Geländer und drückte ihn an ihre mütterliche Brust. Sanft fuhr sie ihm durchs Haar, und für einen kurzen Augenblick hatte sie die verwirrende Situation, in der sie sich befand, vergessen. Leise sagte Barbet: „Ach, Grimard. Mein lieber Sohn. Wie soll, wie kann ich dir das erklären? Ich weiß es doch selbst nicht. Ich wünschte...“
Der Ritter Daniel de Aphradéure riss ihr Grimard aus den Händen. „Bist du Grimard, Kind?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, zerrte er den verängstigten Knaben die Treppe hinab.
„Ihr tut mir weh!“, wehrte sich Grimard vergebens.
Kaum, dass sie die Treppenstufen eilig hinabgegangen waren, kniete sich der Ritter vor dem Jungen auf den Boden. „Du mußt mir jetzt zuhören! Das ist wichtig! Hörst du? Das ist sehr wichtig!“
Trotzig schlug Grimard auf den Ritter ein, vielmehr trommelte er mit seinen Fäusten auf die alte Rüstung. „Was? Was wollt Ihr von mir?“ Flehend sah er zu seinem Vater, der hilflos die Hände zum Gebet haltend neben dem letzten Weinfass der Bouchés stand. „Vater!“ Ein kurzer Schwenk mit seinem Kopf, und seine Mutter kam Grimard ins Blickfeld. Ein Häufchen Elend. „Mutter!“
Der Ritter packte Grimards Kopf und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. „Du mußt dich erinnern, Grimard!“, zischte er leise. Er presste die Worte so angestrengt aus seinem Inneren, dass Spucke und grüner Schleim mit den Worten aus dem Mund drangen.
Voller Abscheu wand sich Grimard im festen Griff des Ritters de Aphradéure. „Was? Was wollt Ihr? An was soll ich mich erinnern?“
„Erinnere dich!“ Daniel de Aphradéure schüttelte Grimard hin und her. „Erinnere dich!“ Und während außerhalb der Wirtschaft von Olivier Bouché alle Höllenpforten geöffnet wurden, erinnerte sich sehr zum Wohlwollen des Ritters der schmächtige Knabe. „Das ist gut, Grimard! Erinnerung bedeutet Erlösung!“
Die vier Reiter hatten das Zentrum von Volmere erreicht. Der Marktplatz war wie ausgestorben, während in den Häusern der Stadt trotz des Regens die Flammen wild um sich schlugen und die Menschen raus auf die völlig verweichten Straßen zwangen. Dort bot sich ein Bild des Schreckens. Männer und Frauen versuchten sich umzubringen. Schreiende Kinder bohrten brennende Holzspieße in die Körper von anderen. Und es waren nicht nur die Menschen, die wie von Sinnen alles um sich herum metzelten. Hunde und Katzen bissen und kratzten. Ratten fielen zu Tausenden über die Menschen her und schlugen ihre kleinen, spitzen Zähne ins Fleisch. Es war, als ob neben der Pest nun auch der Wahnsinn die Stadt Volmere erobert hatte.
Im ‚Liberte‘ wurde es zunehmend wärmer. Durch kleine Spalten in den Brettern, die sie vor die Fenster befestigt hatten, konnten die Bouchés eine flackernde Helligkeit erkennen. „Feuer“, flüsterte Olivier leise zu Barbet. „Draußen wütet ein Feuer!“
„Ja. Und hörst du die Schreie? Das Bellen? Das Fauchen?“ Sie legte ihre Hand auf einen Arm ihres Mannes. „Wie kann es brennen, wenn es so stark regnet?“
Olivier verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. „Teufelei?“ Dann sah er zu Grimard. „Was geschieht hier nur?“
„Seid still, Ihr Narren!“, herrschte Daniel de Auphaedéure die beiden an. „Seid still und betet zu Gott, dass Grimard Eure dummen Seelen retten kann.“ Er widmete sich wieder Grimard, der den Ritter traurig ansah. „Grimard?“
„Ihr wart es, nicht wahr? Damals?“
Der Ritter lächelte und nickte. „Ja. Und weißt du noch, was du mir damals versprechen mußtest?“
„Meinen Glauben sollte ich mir bewahren. Bis...“ Grimard verstummte.
„Ja, Grimard“, sagte de Aphradéure und fuhr dem Jungen durchs Haar. „Deinen Glauben an Gott, unserem Herrn, solltest du dir bewahren. Bis zum Tag, an dem dein Glauben geprüft wird. Grimard? Sieh mich an!“ Langsam hob Grimard den Kopf. Der Ritter kniff die Augen zusammen und fragte: „Hast du dir deinen Glauben an Gott bewahrt?“
Grimard zögerte etwas, sagte aber dann: „Ja. Ja, ich habe mir meinen Glauben bewahrt.“
Daniel de Aphradéure berührte die Narbe in seinem Gesicht. „Wenn das stimmt, werden du, ich, und deine Eltern diese Nacht überstehen“, seufzte er. „Für die anderen gibt es keine Hoffnung. Für Volmere gibt es keine Hoffnung.“
„Warum?“, wollte Grimard wissen. „Warum gibt es die nicht?“
„Die Zeit ist noch nicht reif für solche wohl überlegten Fragen, Grimard. Noch nicht“, antwortete de Aphradéure traurig. „Und jetzt beweis uns deinen Glauben an Gott, unserem Herrn!“ Er drückte den Knaben an sich.
Barbet zuckte zusammen. „Wie kann er das verlangen? Grimard ist alles andere als...“ Weiter kam sie nicht.
Die vier Reiter beobachteten stumm und gleichzeitig zufrieden, wie nach und nach sämtliche Häuser einstürzten und alles unter sich begruben. Menschen und Tiere fanden einen qualvollen Tod unter brennenden Trümmern. Bald war nichts mehr von Volmere übrig, bis auf ein Haus aus Stein, in dem ein Kind, zwei Eltern und ein geheimnisvoller Ritter die Nacht zu überstehen versuchten. Die Reiter ritten langsam auf das ‚Liberte‘ zu.
„Halt deinen vorlauten Mund!“ Vorwurfsvoll sah Olivier seine Frau an. „Grundgütiger!“ Er riss sich von ihr los und ging zu Grimard und de Aphradéure. „Herr, wenn ich mit meinem Glauben zur Sache beitragen...“
„Schweigt, Mann!“, schrie de Aphradéure. „Wie kann... Wie kann einer wie Ihr verhindern, was um uns herum geschieht? Ihr seid nie den rechten Weg gegangen! All Euer Geld habt Ihr mit List und Tücke zusammengerafft! Schweigt, Moniseur Bouché! Oder mein Schwert wird Euch zum Schweigen bringen, damit der Knabe da an das glaubt, was auch Euch retten wird.“
Barbet nahm all ihren Mut zusammen, vielleicht das dritte oder vierte Mal in ihrem Leben, und stand mit Entschlossenheit an der Seite ihres Mannes. „Herr! Aber Grimard hat noch nie an Gott geglaubt!“
„Was sagt Ihr da?“ Der Ritter stieß Grimard von sich. „Was sagt Ihr da?“
„Er ist doch noch ein kleiner Junge, Herr“, schluchzte Barbet und fiel auf die Knie. „Wie soll er diese Last, die Ihr von ihm verlangt, denn tragen?“
Entsetzt sah de Aphradéure zu Grimard. „Ist das wahr, Junge? Ist das wahr?“ Etwas hämmerte an die schwere Tür. „So sind wir alle verloren, wenn dies stimmt. Sie sind hier.“
„Wer?“, fragte Olivier und sah voller Furcht zur Tür. „Wer?“
„Sie zu beschreiben, ist niemand fähig.“ Der Ritter schüttelte den Kopf. „Sie können beliebig jede Gestalt annehmen, die sie wollen. Ob Menschen, Wölfe... Sogar als Wind können sie Unheil und Verderben bringen. Sie sind in Volmare eingefallen.“ Er stand auf und packte den Griff seines Schwertes. „Mein ganzes Leben habe ich sie studiert, sie beobachtet, bin ihnen nachgereist. Und nun, wo ich zum ersten Mal auf meiner heiligen Mission die Gelegenheit hatte, vor ihnen da zu sein, um wenigstens einige arme Seelen zu retten, erweist sich diese Möglichkeit als fataler Fehlschlag. All meine Hoffnungen ruhten auf Grimard.“
„Aber warum Grimard? Warum nicht ein anderer?“, wollte Barbet wissen.
Daniel de Aphradéure zog das Schwert aus der Scheide. „Fragt ihn das, wenn die Nacht überstanden ist. Geht! Versteckt Euch im Keller! Ich werde versuchen, sie mit meiner Kraft und meinem Glauben an den Herrn aufzuhalten.“ Er trieb sie zum Keller. „Wenn sie an mir vorbeikommen, schließt die Augen. Ich bete zu Gott, dass Ihr dann einen schnellen Tod haben werdet.“ Er drehte sich um und ging langsam zur Tür, die von den Schlägen schon fast zerbrochen war.
Olivier öffnete schnell die Luke hinter dem Tresen. „Los! Schnell!“, zischte er angestrengt. Kaum waren Barbet und Grimard im Keller verschwunden, wagte er einen letzten Blick zur Tür. „Grundgütiger!“ stammelte er, als er die Wesen sah, die auf Daniel de Aphradéure zustürmten.
Über ihnen waren klirrende Geräusche zu hören. Klinge an Klinge wurde geschlagen, wilde Schreie ausgestoßen und ein fremdartiges Brüllen ging durch Mark und Bein. Eng beisammen saßen Olivier, Barbet und Grimard im hintersten Winkel des feuchten, dunklen Kellers und harrten der Dinge, die kommen würden. Stunden waren vergangen, doch ein Ende des über ihnen ausgetragenen Kampfes war nicht abzusehen. Grimard dachte an Bartolome, Barbet an ihren nahen Tod und Olivier an das volle Weinfass. Er wollte etwas zu seinem Sohn sagen, dass es ihm leid tat, diesem die Freundschaft zu Bartolome zu unterbinden, als es plötzlich ruhig wurde. Es ist aus, dachte Olivier. Nur Augenblicke später barst die Decke.
„Oh nein!“, kreischte Barbet panisch und drückte Grimard fest an sich. „Olivier!“
„Er hat es nicht geschafft“, sagte Olivier leise und stellte sich vor seine Familie. "Sie haben Volmere ausgelöscht... Schließt die Augen!“
***
Es ist ein warmer Herbsttag. Laub fällt von den Bäumen und wird spielend vom Wind gen Boden geführt. Er spielt mit einem Stück Holz nahe des Waldes, den man Lumare nennt. Fröhlich springt er pfeifend herum und wirft das Holz immer und immer wieder hoch in die Luft, um es jedes Mal gekonnt aufzufangen. Wieder wirft er das Holz, doch dieses Mal kommt es nicht zurück. Irritiert nimmt der kleine Junge einen Schatten wahr, der sich vor die Sonne schiebt. Ein großer Ritter in einer glänzenden Rüstung steht vor ihm, in seiner Hand hält er das Stück Holz. Schnell geht der Junge in die Knie und senkt seinen Kopf voller Demut.
Doch der Ritter zieht ihn sanft wieder hoch und sagt mit tiefer, fester Stimme: „Wie ist dein Name, Knabe?“
„Grimard Bouché, Herr!“
„Nun, Grimard. Glaubst du an Gott, unseren Herrn?“
Er will sich keinen Ärger einhandeln, und so antwortet Grimard: „Ja, Herr! Das tue ich!“
„Dann versprich mir etwas, Grimard!“, verlangt der Ritter.
Der Junge beeilt sich, zu antworten. „Alles, was Ihr wollt, Herr.“
Langsam legt der Ritter eine Hand auf die Schulter Grimards. „Verprich mir, Grimard, deinen Glauben an Gott zu bewahren. Bewahre deinen Glauben bis zu jenem Tag, an dem dein Glauben an Gott einer Prüfung unterzogen wird.“ Der Ritter schaut sich um. „Es ist schön hier. Noch. In ein paar Jahren jedoch...“ Als er bemerkt, dass der Junge Angst bekommt, hält er inne. „Bewahre dir deinen Glauben und du und deine Familie haben nichts zu befürchten. Volmere wird nicht immer so sein wie jetzt. Das Land wird nicht immer so sein wie jetzt. Aber über solch schwierige Gedanken brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Wichtig ist nur, dass du dein Versprechen mir gegenüber nicht brichst!“
„Ja, Herr“, antwortet Grimard leise. „Herr?“
„Ja?“
„Wer seid Ihr?“
„Mein Name ist Daniel de Aphradéure, kleiner Grimard. Und wir werden uns wiedersehen.“ Er gibt dem Jungen das Stück Holz zurück.
„Herr...“ Doch so plötzlich, wie der Ritter erschienen war, ist er wieder weg. Grimard betrachtet das Stück Holz in seinen Händen und wirft es nach einigen Sekunden weit von sich. Statt fröhlich und ausgelassen nach Hause zu seinen Eltern zurückzugehen, trottet er langsam Richtung Volmere. Es ist das Jahr des Herrn, 1341. Bald wird nicht nur in Volmere die Sonne untergehen, um mit Düsternis und Schrecken das Land am nächsten Morgen zu erhellen.
ENDE
copyright by Poncher (SV)
24.02.2003