Vom Großvater und dem Enkelkinde
Sanft wurde Alfred durch die ersten Sonnenstrahlen des Tages geweckt, die sich über sein Gesicht ergossen. Sabber durchtränkte sein Kopfkissen und es stank erbärmlich. Das waren wohl die Bohnen vom Vortag, also seine gewohnt gewaltigen Blähungen, die öfters unmenschliche Ausmaße annahmen. Schlaftrunken richtete sich der alte Mann auf, bevor er sich der Katastrophe erinnerte.
„Oh nein! Der 27. Juli. Heute ist es soweit! ER kommt.“, dachte er.
Seine Frau Liselotte war bereits seit Stunden wach, um sich auf den anstehenden Besuch vorzubereiten. Genau das war es, was den Rentner so plagte. Für heute hatten sich seine Tochter und deren Mann angekündigt, um ihren Sohn Steffen bei ihnen auf dem Weg zu einem Tagesausflug abzugeben.
Sie wollten den Jungen bei den Großeltern abschieben, zu stressig wäre der langersehnte Tag ins Grüne, würden sie den kleinen Quälgeist mitnehmen. Das wusste Alfred genau! Er hatte es durchschaut. Es hieß, sie bräuchten mal wieder ein wenig Zeit für sich und der Kleine wolle auch gar nicht mitkommen, sondern viel lieber bei Oma und Opa sein. Von Wegen! Loswerden wollten sie ihn.
„Nur den einen Tag! Das wird toll, du wirst sehen!“, hatte seine Frau Liselotte ihm gesagt. Sie wusste, dass er seinen Enkel wahrlich nicht ins Herz geschlossen hatte.
Das war nicht immer so. Noch vor vier Jahren, nach der Geburt, war der kleine Steffen sein ganzer Stolz gewesen. Sein erstes Enkelkind. Und so wie sich die Dinge entwickelt hatten, wusste er, dass es wohl sein einziges bleiben würde.
Alfred und Liselotte hatten keine anderen Kinder mehr bis auf ihre Tochter Johanna. Ursprünglich hatten er und seine Frau damals mindestens vier Kinder haben wollen, doch kurz nach Johannas Geburt ereignete sich ein für Alfred folgenschwerer Unfall mit dem Reißverschluss seiner Hose. Und schon war der Traum von weiteren Kindern wie eine Seifenblase zerplatzt. Anders gesagt, der Traum war wie eine Gurke im Reißwolf zerfetzt.
Auch ihre Tochter sagte nun, nachdem Steffen vier Jahre alt geworden war, dass Schluss sei mit dem Kinderkriegen. Zu viel Arbeit, zu zeitaufwendig und vor allem zu teuer.
„Kein Wunder, bei dem Hunger, den das Monster hat!“, hatte Alfred gedacht, als seine Tochter ihn von der weiteren Familienplanung in Kenntnis gesetzt hatte. „Das ist doch nicht zu glauben, was sich das Biest alles reinstopft!“
Was ihm als erstes einfiel, wenn er heute an Steffen dachte, war „Opa, Hunger!“, „Opa, will spielen!“ oder „Opa, Durst!“. Nicht einmal richtig reden konnte dieser kleine Teufel mit vier Jahren. Ist das noch normal?
Alfred selbst erinnerte sich oft daran, wie es gewesen war, als er selbst vier Jahre alt war. Gar nichts hatten sie gehabt! Es war ja schließlich Krieg. Er hätte mal sagen sollten, „Opa, Hunger!“, „Opa, Durst!“. Sein Opa hätte ihm etwas erzählt! Das hätte erst einmal eine gehörige Tracht Prügel gegeben! So etwas Freches! Diese verwöhnten Kinder von heute! Nicht einmal unaufgefordert sprechen durfte er damals. Und das einzige Spiel, das sie kannten, war, vor den Fliegerbomben wegzulaufen, um nicht in tausend Stücke zerrissen zu werden.
Langsam und schwerfällig begann Alfred aufzustehen. Am liebsten würde er das ganze Wochenende im Bett verbringen und so tun, als sei er krank. Nur dem Jungen irgendwie aus dem Weg gehen.
„Moment mal…“, er überlegte kurz und fand, dass das eigentlich gar keine so schlechte Idee war. „Einfach krank stellen! Das ist die Lösung!“ Er legte sich behände wieder hin und versuchte, krank auszusehen.
„Liselotte, ich bin krank! Hab eben schon drei Mal gekotzt! Grippe, glaube ich!“, brüllte er krächzend, um den Anschein zu erwecken, er sei tatsächlich krank.
„Ich komme gleich!“, antwortete sie ein wenig schockiert von unten. Einige Minuten später kam sie mit einer Tasse Tee hinauf, das Schlafzimmer lag im ersten Stock ihres kleinen Einfamilienhauses.
„Bäh! Was ist das denn für `ne Scheiße? Das schmeckt ja zum Kotzen! Und stinkt vielleicht! Nimm das bloß wieder mit und bring mir ´nen Kamillentee! Und die Zeitung! Und ´ne Zigarre! Das räumt den Magen auf.“, ermahnte er sie wuchtig.
Schnaufend vor Wut nahm sie den Eier-Pistazientee wieder mit nach unten und setzte neuen auf. Sie war auch ein bisschen traurig, dass er gerade heute krank wurde, wo sich doch der liebe Enkel angekündigt hatte.
„Mein Gott, ist die doof, die glaubt auch alles!“, dachte er.
Sie hatten damals nicht aus Liebe geheiratet, wie das geübte Auge unschwer zu erkennen vermag. Als er achtzehn war und sie siebzehn, hatte er für eine Nacht bei ihr geschlafen, nachdem die Jugendlichen des Dorfes sich in der Bauernkneipe mit Bier und Schnaps den Schädel zugedröhnt hatten. Alles andere hatte er vergessen. Jedenfalls hatten die Eltern der beiden Jugendlichen sie ermahnt, noch vor der Geburt zu heiraten, oder sie würden beide enterbt. Also heirateten sie folglich und mussten mindestens noch drei Kinder dazu bekommen, weil das früher alle hatten.
Selbst Alfreds Mutter hatte gesagt: „So, jetzt noch drei dazu, oder ich sage deinem Vater, dass du rauchst! Dann setzt es was!“ Damals wurde außerdem jeder, der weniger als vier Kinder hatte, dumm angeguckt in der Kirche.
Klingeling! Der Moment, den er so verfluchte, war eingetreten. Die Türklingel hatte geschellt. Alfred wusste genau, was das bedeutete. ER war da. Der König der Nervensägen. Das Böse in Person. Sein kleiner Enkel Steffen. Gespannt lauschte der alte Mann durch die offene Tür hinaus nach dem Szenario, das sich zur gleichen Zeit unten ereignete.
Seine Frau Liselotte schrie förmlich: „Da bist du ja, du kleiner Spatz! Komm nur schnell rein! Opa ist oben, der ist ein bisschen krank. Geh mal hin, der freut sich!“
Was sollte das denn jetzt? Er brauchte seine Ruhe, wäre er wirklich krank gewesen! Warum schickte sie ihn nur zu ihm? Doch da war es auch schon so weit. Alfred vernahm unbeholfenes Treppensteigen, wie es nur von einem kleinen Blag ausgeführt werden konnte.
„OOOPAAAA! OOPAAAAAAA! Wo bist?“
„Wo bist! Mit vier Jahren spricht er immer noch wie ein Zweijähriger! Das kann ja nur eine Idiot werden!“, dachte der Griesgram.
„Hier bin! Opa musst schlafen! Opa ist kranken!“, sagte er gehässig, um sich dem Niveau des Dummkopfes anzupassen. Schon stand Steffen in der Tür. Er schaute zu seinem Opa und setzte das breiteste Grinsen auf, das man je gesehen hat.
„Hat der ein Pferdemaul! Der kann ´nen ganzen Kürbis auf einmal in den Mund nehmen. Und fett ist der geworden!“, dachte Opa Alfred.
Im gleichen Moment lief der Kleine los. Er nahm langsam Fahrt auf, es dauerte ein wenig, bis die Masse in Wallung kam.
„Opa!“, schrie die Nervensäge und sprang dabei auf das Bett. Alfred guckte ihn an, als holte ihn gerade der Tod.
„Nein, nein! Nicht aufs Bett springen!“ Doch es war schon zu spät. Das Bett zerbrach unter dem Gewicht der kleinen Fressmaschine. Steffen fand es sogar lustig. „Hee… hee… Opa! Bett putt!“, lachte er.
„Ja! Stimmt! Bett putt!“, stöhnte der alte Mann kopfschüttelnd nun etwa dreißig Zentimeter tiefer gelegen. Sein Kopf war rot wie eine Tomate und hatte den Anschein, als wolle er in wenigen Augenblicken platzen. Seine Hand bildete eine Faust, doch irgendetwas hinderte ihn daran, auf seinen Enkel einzuprügeln. Vielleicht war es der frühere Stolz.
Der Junge hopste vergnügt auf Alfreds Matratze, die auf dem Boden lag, doch konnte er seinen Körper nicht immer unter Kontrolle halten, so dass er auch einige Male auf seinem Opa herumhopste.
Alfred bekam nach einigen Sprüngen eine dunkle Vorahnung, als er seinen kleinen Enkel von unten beobachtete. Auch dessen Gesichtsfarbe veränderte sich, und zwar wurde er vom Hüpfen sehr bleich.
„Hör lieber auf! Gleich wird dir schlecht!“, sagte er und dachte noch: „Wenn du jetzt kotzt, dann hau ich auch noch den letzten Verstand aus dir heraus.“
Doch es war schon zu spät. Steffen hörte auf zu springen, hielt sich noch kurz die Hände vor dem Mund, bis sein Frühstück wieder zum Vorschein kam und er das halbe Zimmer damit befleckte.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, schrie er.
Der Kleine fing an zu flennen. Durch das Weinen alarmiert, kam Liselotte nach oben, um nach dem Rechten zu schauen. Ihre Tochter Johanna und ihr Schwiegersohn waren bereits geflüchtet. „Alfred! Das kannst du doch nicht machen! Auch wenn du krank bist! Renn doch einfach zur Toilette! Und was hast du mit dem Bett gemacht? Guck dir doch an, wie der Süße weint! Komm her, Steffen. Opa macht das weg und macht das Bett wieder heile. Ich weiß auch nicht, was mit dem los ist heute. Unerhört!“
„Ich…aber…warte doch mal…“ Alfred hatte noch versucht, das Geschehen aufzuklären, doch seine Frau hatte bereits kopfschüttelnd mit dem Enkel auf dem Arm den Raum verlassen.
„Da haben wir`s! Das fängt ja gut an!“, dachte er.
Nachdem er das Zimmer wieder in Ordnung gebracht hatte, kam Alfred nach unten in die Küche, wo Liselotte mit Steffen frühstückte.
„Ja genau! Stopf ihn voll! Damit er gleich noch einmal alles vollkotzt!“ Alfred wusste nicht, ob er das laut gesagt hatte oder nur gedacht hatte. Aber da keine Reaktion von den beiden ausging, glaubte er an Zweiteres.
Er musste raus hier: „Ich geh mal eben in die Apotheke. Hol mir was gegen Übelkeit.“ Seine Frau schenkte ihm immer noch keine Beachtung. Sie winkte ihn lediglich ab, während sie weitere Brote für den Enkel schmierte.
Tatsächlich jedoch ging Alfred zu seinem Freund Andreas. Dieser war pensionierter Chemiker und damals eine Koryphäe auf dem Gebiet der Altersforschung gewesen. Ein wahrlich verkanntes Genie, dieser Andreas.
„Andreas, du musst mir helfen, ich brauche ein Mittel, das meinen Enkel älter macht! Ich halte es nicht aus! Und gib mir ein Schlafmittel, bitte!“
„Ok!“, antwortete dieser. Er war immer sehr wortkarg gewesen. Er ging in sein Labor im Keller und binnen weniger Minuten waren seine Zaubertränke fertig.
„Danke Andreas, ich wusste, du kannst mir helfen!“, sagte Alfred, als er das Haus verließ und sich auf den Heimweg machte. Ein kurzes „Gerne!“ konnte Andreas als Antwort herauswürgen.
In einem unbemerkten Augenblick tat Alfred, wieder daheim angelangt, einige Tropfen des Zaubertranks zum Älterwerden in Steffens Glas und nahm anschließend sein Schlafmittel, um sich von dem Tag zu erlösen.
Als er wieder aufwachte, war Steffen verschwunden. Der genervte Großvater hatte fast zwanzig Stunden geschlafen. Liselotte war immer noch ein wenig sauer auf ihn.
„Na?! Bist du wieder gesund? Trotzdem war es unmöglich, dich so aufzuspielen!“, fuhr sie ihn an. Doch es war ihm egal. Jetzt hieß es abwarten, ob das Mittel wirkte. Dem nächsten Besuch seines Enkels konnte er dann gelassener entgegenblicken.
Drei Wochen später war es dann soweit. Alfreds Tochter hatte angerufen und gefragt, ob Steffen übers Wochenende kommen könne. Natürlich hatte Liselotte zugesagt. Außerdem hatte die Tochter am Telefon gesagt, dass sie sich nicht wundern sollten, denn Steffen hätte sich sehr verändert. Irgendwie erwachsen sei er geworden. Als Alfred das gehört hatte, war er sehr erleichtert, er freute sich schon fast auf den Besuch.
Am besagten Tage hatte der alte Mann sich gerade aufs Sofa gelegt, als jemand an der Tür schellte. Liselotte öffnete und sagte: „Mensch Steffen, du siehst ja putzig aus! Geh mal zu Opa, der liegt im Wohnzimmer auf dem Sofa. Der freut sich!“
Sekunden später stand Steffen in der Tür zum Wohnzimmer. Alfred konnte es nicht fassen: Steffen war ungefähr 1,85 m groß und trug einen Vollbart. Einen bisschen zu voluminösen Bauch hatte er vielleicht immer noch, aber sogar sein scheiß Grinsen war ihm aus dem Gesicht geschnitten.
„Mensch, das hat ja gut geklappt! So ist es schon viel besser!“, dachte Alfred glücklich über das Ergebnis des Tranks.
Doch noch bevor er diesen Gedanken zu Ende gefasst hatte, fing Steffen an zu grinsen und brüllte während er kräftig Anlauf nahm und sich auf den alten, armen Mann stürzte: „OOOPAAAAA! Opa, Hunger! Opa, Durst! Opa, will spielen! Opa lieb!“