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Von der ordnenden Macht fallenden Schnees
„Das Haus ist jetzt zu groß für mich allein.“
Die Worte schwebten im Flur, nisteten sich in der Luft ein, hallten von den Wänden wider. Und langsam, schneckengleich, noch während sie weiterredete und weiterging, da kamen sie wieder, verfolgten sie, sickerten in ihr Bewusstsein. Allein.
Vollends erreichten die Worte sie erst im Wohnzimmer. Vor dem Panoramafenster, in dem sie sich spiegelte. Die Worte waren wie der Kuss eines Prinzen. Sie erwachte.
Der Makler zog mit geübtem Griff eine Packung Tempos aus seiner Hosentasche, drückte den Fingernagel unter die rote Lasche der Verpackung, griff mit spitzen Fingern ein Taschentuch heraus, wedelte es dann – wie ein Zauberer – in der Luft auf und drückte es gegen ihre Nase. Nicht aufdringlich, ihr blieb genug Luft. Er war … routiniert.
„Ich kann auch morgen wiederkommen.“
„Morgen“, antwortete sie. „Da bin ich schon wieder zu Hause.“
„Verstehe.“
Sie öffnete die Augen weit, sah ihn an, ließ das Taschentuch zu Boden fallen und wischte sich grob übers Gesicht. Was für einen Eindruck sie wohl jetzt auf ihn machte? Das konnte sie ein paar Tausend kosten. Aber andererseits wollte er ja einen hohen Preis erzielen wegen der Provision. Und wenn …
Die Worte kamen zurück. Wie ein Bumerang. Allein.
„Ich lass Ihnen einen Moment. Setzen Sie sich doch. Nehmen Sie sich die Zeit.“
Er bugsierte sie in den Ohrensessel ihres Vaters, der seitlich des Panoramafensters stand, der schon immer dort gestanden hatte, solange sie denken konnte, und der im Laufe der Jahre so viel Pfeifenrauch aufgesogen hatte, dass er nach ihrem Vater roch, wahrscheinlich immer nach ihm riechen würde. Nach Äpfeln irgendwie. Von hier aus hatte man ja auch einen guten Blick auf den Apfelbaum im Garten, vielleicht bestand da irgendein Zusammenhang, vielleicht war das ja wichtig irgendwie und überhaupt …
Sie vergrub ihren Kopf in beide Hände und weinte.
Die letzten Tage, als sie funktionierte, weil sie es musste, waren vorbeigezogen, ohne dass sie am Steuer gewesen wäre. Alles war gut gegangen und jetzt saß sie hier und weinte wie ein kleines Kind. Außer Kontrolle. Entwürdigend.
Sie atmete flach und kontrolliert. Wie bei einer Schwangerschaftsübung im Fernsehen. Zwei Mal flach durch den Mund ein, dann durch die Nase aus, die verrotzt war und zu. Dann hechelte sie. Wie im Fernsehen. Sie schmeckte Tränen auf ihrer Zunge. Ihre Hand war voll mit Rotz. Sie wischte sie am Sessel ab. Und langsam, Schritt für Schritt, Atemzug um Atemzug, Träne für Träne, da war sie wieder, wer sie sein wollte.
„Fantastische Immobilie wirklich. Und so ruhig. In den späten Siebzigern, sagten Sie?“
„Achtundsiebzig, ja.“
„Achtundsiebzig, Gott. Da war ich grad mit der Uni fertig.“
„Ich war da zwei Jahre alt.“
„Verzeihen Sie. Ihnen ist natürlich nicht nach einer Plauderei.“
„Doch. Ist mir.“
„Verstehe“, sagte er und schwieg.
Sie führte ihn durch das Haus. Zimmer für Zimmer. Und es gab viele: Auf dem Land war Land billig. Sie führte ihn durch Zimmer, die sie seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Durch die Waschküche, durch den Heizungskeller, durch den Hobbyraum ihres Vaters, wo einsam ein Stück Holz auf der Werkbank lag. Sie redete, was sie dachte, reden zu müssen. Hatte Rechnungen durchgesehen, gestern Nacht. Fünfundneunzig die Dachisolierung erneuert, neunundneunzig die Auffahrt frisch gepflastert worden und ab zweitausenddrei dann fast jährlich Renovierungen. Da war ihr Vater in Pension gegangen. Da war Zeit fürs Haus. Alles in Top-Zustand. Ein Juwel. Vielleicht für eine Familie aus der Stadt.
Vor dem Panoramafenster brach er sein Schweigen. „Wie sieht’s mit Schulen aus?“
„Gut“, sagte sie. „Sehr gut.“
„Und die Nachbarn?“
„Ruhig.“
„Dann schauen wir uns doch mal den Garten an.“
Seine Schuhe hallten auf dem Parkett, als er auf die Verandatür zuging. Er griff nach der Klinke, drehte sie herum und zog daran, aber nichts tat sich.
„Da gibt es einen kleinen Trick, warten Sie. Ich mach das. Schauen Sie. Erst leicht andrücken, dann geht es.“
Sie zog die Tür auf, eine laue Sommerbrise wehte ins Haus. Ihr wurde schwindlig.
„Das müsste aber vorher noch repariert werden. Ich kümmer mich darum, wenn Sie schon morgen abreisen. Das ist kein Problem.“
Er schob sich an ihr vorbei. Nach draußen in den Garten. Ihre Beine waren wie Teig. Eine riesige Pranke schloss sich um ihr Herz.
„Kommen Sie?“
Sie machte einen Schritt, der sie über die Verandaschwelle tragen sollte, verlor das Gleichgewicht und fiel.
„Ist Dornröschen aus seinem Schlaf erwacht?“
Ihre Augen waren verknatscht. Sie lag. Das konnte sie fühlen.
„Platzangst. Dass ich das noch mal erleben darf.“
Sie blinzelte. Aber ihr Blick war verschmiert, so als ob sie durch eine Scheibe blicken würde, die mit schmutzigem Wasser gewaschen worden war.
„Sie heißen wirklich Sämäntha?“ Die Männerstimme klang amüsiert.
„Sammantha“, flüsterte sie.
„Sämäntha Röhm klänge auch ziemlich dämlich.“
„Allerdings“, sagte sie flach.
„Ihr Vater stand auf große Brüste, hm?“
Jetzt konnte sie das Gesicht sehen. Kantige Gesichtszüge, blaue Augen, ausgeprägte Wangenknochen. Wow.
„Wer zum Teufel sind Sie?“
„Oh, Fink mein Name. Das kränkt mich nun aber, dass Sie sich nicht mehr an mich erinnern.“
Das war das Zimmer ihrer Eltern. Das Schlafzimmer. Gott, hatte man sie entführt?
„Ich bin mit Ihnen zur Schule gegangen. Okay, damals war ich vielleicht noch ein bisschen dicker und hatte so eine alberne Brille und alles. Aber ich kann mich noch sehr gut an Sie erinnern. Sie waren der Traum meiner schlaflosen Nächte.“
„Was? Was reden Sie da nur?“
Er seufzte. „Okay, okay. Dann machen wir einen auf Äskulap. Sie haben vor drei Wochen das Bewusstsein verloren, als Sie einem Makler den Rasen zeigen wollten. Ein sehr schöner Rasen übrigens.“
„Drei Wochen?“
„Bei Ihnen wurde Platzangst diagnostiziert.“
„Klaustro-“
„Nein!“ Er klang richtig beleidigt. „Das ist Raumangst. Die Angst vor engen Räumen. Sie haben Platzangst, also praktisch Angst vor draußen.“ Und nach einer Pause ergänzte er noch: „’tschuldigung, aber das regt mich wirklich auf.“
„Das kann nicht sein“, sagte sie. „Ich bin nicht verrückt.“
„Ach, das mit dem verrückt wird eh überbewertet. Ist ja nicht so, als könnten Sie nur Sex haben, wenn Sie sich ein Hühnerkostüm anziehen, oder so. Ich könnte Ihnen da Sachen erzählen.“
„Und Sie sind? Mein Pfleger?“
Er spitzte die Lippen und wackelte mit dem Kopf hin und her. „So ungefähr.“
Sie stützte sich mit den Händen vom Bett ab und brachte ihren Oberkörper nach oben.
Fink zog eine Augenbraue hoch und lächelte.
Ihre Arme zitterten und sie begann zu schwitzen.
„Ist ganz normal. Sie haben sich in den letzten Wochen kaum bewegt.“
„Wollen Sie mir nicht helfen?“
„Nö.“
Ihre Arme sackten ein und sie fiel wieder zurück ins Bett. Sie musterte ihn misstrauisch – und, sie gestand es sich ungern ein, durchaus amüsiert. „Sind Sie sicher, dass Sie mein Arzt sind?“
„Ziemlich, aber na ja, wenn alles gut läuft, könnte ich ja bald mehr für Sie sein.“
„Was ist in den drei Wochen passiert?“
Er winkte ab. „Nichts Nennenswertes.“
„Was ist in den drei Wochen passiert und warum kann ich mich nicht mehr daran erinnern?“
„Ich hab doch gesagt, Sie haben sich kaum bewegt. Wir haben stationär einfach keine Fortschritte machen können. Jetzt haben Sie sich mal nicht so, es wird schon wieder.“
„Platzangst?“
„Ja, eigentlich heißt es ja Agoraphobie, aber das klingt wie ne Katzensorte. Machen Sie sich nicht verrückt, ist nicht weiter wild. Ist einfach irgendwie posttraumatischer Stress, oder so. Sie fühlen sich halt hier behütet. Und haben Angst vor draußen. Das geht vielen so.“
„Meine Eltern?“
„Sind tot.“
„Ist das der Auslöser?“
„Ich bin nicht Freud, aber: Ja, ich würde sagen: Das war der Auslöser. Sie sind aber ganz schön clever für eine so attraktive Frau.“
Sie schob die schwere Bettdecke von sich, fest entschlossen, aufzustehen und ihn zu erwürgen. Schwungvoll drehte sie sich auf ihrem Po in Richtung der Bettkante und streckte die Beine hinaus. Aber kaum berührten ihre Füße den weichen Teppichboden, wurden ihre Bewegungen langsamer und vorsichtiger.
Er kicherte.
„Ich bin kein kleines Mädchen mehr“, sagte sie und biss die Zähne zusammen. „Ich werde jetzt aufstehen und Sie erwürgen.“
„Natürlich sind Sie ein kleines Mädchen. Ich habe Ihre Unterwäsche gesehen, die mit den kleinen Blümchen. Herzallerliebst. Wirklich herzallerliebst.“
Mit einem Wutschrei sprang sie aus dem Bett, kam zitternd auf die Beine und stürzte auf diesen Wichser zu. Sie stolperte allerdings schon nach wenigen Zentimetern und fand sich taumelnd in seinen starken Armen wieder. Er roch herb, nach Äpfeln.
Draußen fiel der erste Schnee. Sie konnte es vom Küchentisch aus sehen, durch das schmale Fenster. Der Rasen, nicht mehr ganz so gepflegt wie früher, würde bald einen schmeichelnden, weißen Anstrich bekommen. Samantha Fink seufzte und rührte zwei Stück Zucker in den Kaffee. Sie musste ihm unbedingt sagen, dass er sich mehr um den Rasen kümmern sollte. Natürlich nicht jetzt, aber wenn die Sonne wieder schien. Ihr Vater hatte den Rasen geliebt.
Sie nippte am Kaffee, er war heiß und süß. So wie sie ihn mochte. Sie stand auf und ging mit nackten Füßen ins Wohnzimmer, um aus dem Panoramafenster zu schauen. Sie mochte es, den kalten Parkettfußboden unter ihren Füßen zu fühlen. Dem Schneefall zuzusehen, hatte etwas Ordnendes, fand sie.
„Liebling?“, rief sie. „Kommst du mal bitte, mir ist nach ein bisschen furchtbar kitschiger Zweisamkeit!“
Keine Antwort.
„Du kannst mich von hinten nehmen. In den Arm!“
Keine Antwort.
„Komm jetzt endlich her! Ich will, dass du mich festhältst, während ich dem Schnee zusehe.“
Immer noch nichts. Ihr Blick fiel auf das Hochzeitsfoto an der Wand über dem alten Ohrensessel. Die Zeremonie hatte hier stattgefunden. Der Pfarrer hatte mit dem Panoramafenster im Rücken gleich dort drüben gestanden und hinter ihm waren die ersten Blätter des Apfelbaums rotbraun zu Boden gefallen.
Und jetzt inmitten des fallenden Schnees sah sie eine Gestalt unter dem kahlen Apfelbaum liegen. Flach und reglos. Ein schwarzer Schemen im weißen Meer.
Sie schrie und rannte zur Verandatür, hob ihren bleischweren Arm zur Klinke, ließ ihn fallen und starrte weiter auf den Schemen unterm Apfelbaum. Herzinfarkt, er hatte es neulich erst gesagt. Weit verbreitet in der Familie. Und all das gute Essen und der Kaffee und der Stress. Tauber Arm, hatte er gesagt.
Sie zerrte an der Türklinke, leicht andrücken, verdammt, wie oft hatte sie ihm gesagt, er solle das endlich reparieren. Sie drückte die Tür an, zu fest, viel zu fest, sie bewegte sich nicht. Wollte sich wahrscheinlich gar nicht bewegen. Mit Gefühl, einatmen, ausatmen, wie im Fernsehen. Die Tür. Sie öffnete sich, kalter Wind schlug hinein. Ihr wurde schwindlig, ihre Beine – wie Kaugummi. Eine riesige Pranke klammerte sich um ihr Herz, durch ihren Kopf fuhr ein Schnellzug. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie - sie schloss die Tür, sackte mit dem Glas im Rücken zu Boden und weinte.
Aber atmen, atmen jetzt, Sammantha, bist kein kleines Kind mehr. Sie rappelte sich hoch, mit nackten Füßen übers Parkett in die Küche. Weiß an der Wand: Das Telefon. Sie stürzte darauf zu, zitternde Finger flogen über die Tasten. Kein Freizeichen. Das Telefon war tot.
Draußen die Gestalt, Robert verdammt!, hob einen Arm kraftlos nach oben.
Sie riss das Küchenfenster auf. Schrie nach Hilfe, schrie sich heiser. Keine Antwort. Ihr wurde schwindlig.
Sie hielt die Luft an und dann, dann schloss sie das Fenster und öffnete eine Küchenschublade.
Doktor Robert Fink fror und zählte langsam bis zweihundertfünfzig. Erst hatte er vorgehabt, bis dreihundert zu zählen, aber es war wirklich kalt. Jetzt war er bei einhundertachtundachtzig angekommen. Und der Schrei war ungefähr vierzig her oder fünfzig, wer konnte das schon genau sagen?
Schocktherapie. Ein letzter Ausweg. Ewig konnte das nicht so weitergehen. Ein halbes Jahr lang hatte er ihr das Gefühl gegeben, sicher zu sein, hatte versucht, ihr die Grundsicherheit wiederzugeben. Hatte es mit allem probiert, Medikationen und Gesprächen. Hatte Fachleute konsultiert. Und noch immer waren keine Erfolge zu verzeichnen.
Zweihundertneundvierzig, zweihundertfünfzig. Oh, Gott. Wie sollte er ihr das nur erklären? Er rappelte sich hoch, klopfte sich den Schnee vom Mantel und stapfte missmutig auf die Verandatür zu. Sie war noch verschlossen, nicht mal ein kleiner Fortschritt war zu erkennen, also ging er um das Haus herum, durch die Eingangstür. Irgendwie war es bestimmt noch zu retten. Sie musste doch erkennen, dass er nur ihr Bestes wollte.
„Sammy? Sammy?“
Keine Antwort.
In der Küche fand er sie, ein langes Steakmesser lag neben ihr. Sie war verblutet.