- Beitritt
- 23.01.2007
- Beiträge
- 1.005
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Von Drachen und Wind
Ihr kleiner Körper sah zerbrechlich aus und leicht wie eine Feder, trotzdem sank sie tief in das Kissen ein. Ich sagte, dass heute ich als Schwester bei ihr sei, weil eine Kollegin krank geworden war. Sie nickte nur. Als ich sie nach ihrem Namen fragte, antwortete sie mit brüchiger Stimme »Maria«.
Ich bot ihr an, einen Kakao von der Station zu holen. Sie sagte ja, sie würde gerne einen haben, aber es könne sein, dass er wieder rauskäme.
»Wir können es ja mal probieren.« Maria lächelte.
Ich ging in die Küche, besorgte eine Tasse, schüttete Kakaopulver hinein und achtete darauf, dass die Milch nicht zu heiß war. Zurück im Zimmer setzte ich mich auf die Bettkante. Maria blickte durchs Fenster, es war Herbst und Blätter wirbelten durch die Luft.
»Du bist nicht wie die anderen. Oder wie Mama. Sie bringt mir keinen Kakao. Sie fragt immer nur, wie es mir geht und weint viel. Ich glaube, sie ist traurig, weil es mir schlecht geht.«
»Naja, sie macht sich sicher Sorgen«, sagte ich.
»Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
»Warum denn nicht?«
»Keine Ahnung. Sie soll lachen und nicht traurig sein.«
»Hast du ihr das mal gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. Natürlich habe sie nicht. Wie denn auch? Sie sei ja ihre Mama, sie verstehe nicht. Dabei ballte sie ihre Hände zu Fäusten und versteckte sie unter der Bettdecke, als sie meinen Blick bemerkte.
»Ich hoffe, mein Herz schlägt bald wieder richtig. Dann muss niemand mehr traurig sein. Glaubst du, es tut weh, wenn sie mir ein neues geben?«
»Nein«, versicherte ich ihr. »Dann schläfst du tief und fest und spürst nichts.«
Wieder schwieg sie. Nach einer Weile langte sie in ein Fach ihres Beistelltisches und holte einen kleinen Papierdrachen hervor.
»Das ist Egon. Papa hat ihn mir geschenkt. Er sagt, er will ihn mit mir steigen lassen, wenn ich wieder raus komme aus dem Krankenhaus. Aber ich weiß nicht, wann das sein wird. Vielleicht dauert es noch lange. Aber Egon braucht Wind, damit er fliegen kann. Vielleicht kannst du den Wind fangen? Damit ich ihn im Zimmer steigen lassen kann?«
Ich blickte sie erstaunt an, doch in ihren Augen lag ein solch tiefer Ernst, dass ich erschrak. Langsam schüttelte ich den Kopf.
»Nein, Maria. Niemand kann den Wind fangen.«
Sie senkte den Blick. »Aber wie kommt er dann hier rein?« Mit einem Mal kam sie mir noch zerbrechlicher vor.
»Ich habe eine Idee. Der Drache ist klein, wollen wir ihn vor dem Fenster flattern lassen?«, fragte ich.
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Mama sagt, dass das Fenster geschlossen bleiben muss. Wegen meinem Herzen, sagt sie. Damit es nicht schlimmer wird.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Sie tat mir so leid.
»Kommst du mich manchmal besuchen und bringst mir Kakao?«, fragte sie schließlich.
Ich lächelte. »Klar.«
Ein paar Tage später war Maria still. Der Kakao wurde in der Tasse kalt und ich wusste nicht, ob sie ihn lediglich nicht trinken wollte, oder ob ihre Hand zu schwach dafür war. Also hob ich ihn ihr an die Lippen und sie nippte daran, hustete jedoch gleich wieder und sank dann tiefer als zuvor in die Kissen zurück. Auf eine erschreckende Art kam mir Maria alt vor.
»Sie haben gesagt, ich kann bald raus«, flüsterte sie.
Das ist ja wunderbar, sagte ich. Maria nickte und ein Lächeln flog über ihre Lippen.
»Ja«, sagte sie. »Dann lasse ich Egon steigen. Mama wird auch da sein und Papa wird mir helfen, weil ich nicht schnell genug laufen kann. Und keiner wird mehr traurig sein.«
Eine Weile schwieg sie. Dann sprach sie mit leiser Stimme weiter.
»Egon hat einen Riss. Ich habe ihn heute Nacht im Bett gehabt und jetzt ist er kaputt. Vielleicht hab ich das mit dem Finger gemacht. Nimmst du ihn und klebst ihn? Und bringst ihn morgen wieder, ja?«
»Klar«, antwortete ich und nahm den Drachen an mich.
Am nächsten Tag war Maria weg. Auf der Station erfuhr ich, dass sie in der Nacht gestorben war.
Eine ganze Weile stand ich im nun leeren Zimmer, klammerte mich an den kleinen Drachen und blickte aus dem Fenster. Konnte nicht glauben, was geschehen war. Auf dem Beistelltisch stand noch die Kakaotasse vom Vortag. Ich trug sie in die Küche und spülte sie. Dann ging ich zurück ins Zimmer und trat ans Fenster. Langsam umfasste ich den kühlen Griff und drehte ihn. Eine Brise zauste meine Haare und ich spürte die Kälte des Herbstes, roch die feuchte Luft. Dann warf ich den Drachen hinaus. Eine Böe erfasste ihn und trug ihn davon, höher und höher, bis er aus meinem Blickfeld verschwand.