Mitglied
- Beitritt
- 06.07.2006
- Beiträge
- 62
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Von frischen Äpfeln und neuen Göttern
Tobias Vogel ist ein Trödler. Zumindest verkörpert er all das, was Erwachsene meinen, wenn sie ein Kind so bezeichnen. Wegen seiner Trödelei kommt Tobias mindestens zwei mal in der Woche zu spät zur Schule. Er verspürt geradezu einen Zwang, einen kleinen Umweg durch den Park zu nehmen, und jedes weggeworfene Papier, jeden Kassenzettel, den der Wind wirr durch die Gegend führt zu begutachten. Tobias geht in die dritte Klasse der Grundschule in Plieningen, einem Stadtteil von Stuttgart. Die Vogels sind bestimmt keine schlechten Eltern, auch wenn sie sich in letzter Zeit immer öfter zanken. Trotz ihres materiellen Wohlstandes sind die Beiden scheinbar doch nicht ganz zufrieden. Irgend etwas scheint in ihrem Leben zu fehlen. Tobias dagegen ist schon glücklich, wenn er wie an diesem ungewöhnlich warmen Morgen im Mai durch seinen Park gehen konnte. Er schlenderte den Kiesweg entlang. Die Sonne erhellte auf so fröhliche Art die großen Bäume und die blühende Wiese. Tobias betrat, wie schon so oft auf seinen Schulgängen die Rasenfläche, kratzte an Baumrinden, pflückte eine Blume und roch daran. Er ging von einem Baum zum Nächsten, gemächlich wie immer. Der Apfelbaum trug jetzt Früchte. Er pflückte sich den Apfel, der für ihn der schönste von Allen war. Erst betrachtete er ihn ganz genau in seiner Hand. Es war ein schöner großer Apfel mit roten Backen. Genussvoll biss Tobias in das frische Fruchtfleisch. Zum Essen setzte er sich unter den Baum und war allein mit dem Kauen, Riechen und Schmecken beschäftigt. Er merkte gar nicht, dass sich auf der großen Rasenfläche hinter dem Baum in der Zwischenzeit eine Gruppe von Menschen versammelt hatte. Zehn Leute saßen im Schneidersitz da und bildeten einen Kreis. Sie trugen legere, jugendliche Kleidung. Tobias faszinierte es am meisten, dass diese Leute so ruhig und friedlich dasaßen. Obwohl die meisten die Augen offen hatten, wirkten sie wie Schlafende. Er hatte sich mittlerweile neben seinen Baum gestellt, um die Leute beobachten zu können, bis die Gruppe sich erhob und fortging. Wie als abschließendes Ritual hielt Tobias noch kurz inne, bevor er seinen Schulweg langsam und bedächtig fortsetzte. Es war ihm gleichgültig, ob er in der Schule Ärger für sein Zuspätkommen bekommen würde. Am nächsten Tag stand er extra früher auf und beeilte sich besonders. Er hatte Glück. Aus weiter Entfernung sah er schon die Gruppe um den Kreis sitzen, genau wie gestern. Tobias stand ruhig an seinem Baum und tat das Gleiche, was die außergewöhnlichen Menschen auch taten: Nichts. Als sich die Gruppe erhob, ging ein Mann auf ihn zu. Er trug eine Jeans, weisse Turnschuhe und ein hellbraunes Baumwollhemd, das ihm locker über die Hose hing. Der Mann war sehr schlank, wirkte fast unterernährt. Sein nicht sehr dicht gewachsener Vollbart verlieh ihm ein Aussehen, das Tobias an die Apostel in den Jesus-Filmen erinnerte.
„Du interessierst dich wohl für unsere Meditation?“
„Ja“. Tobias hatte zwar das Wort „Meditation“ schon einmal gehört, aber er hatte es nicht den Park-Übungen zugeordnet.
„Ist dir das nicht zu langweilig?“
Tobias hatte überhaupt noch nicht daran gedacht, dass das minutenlange Stillstehen langweilig sein könnte. Für ein Kind in seinem Alter hatte Tobias ungewöhnlich viel innere Ruhe in sich. Diese Zappeligkeit und diese Agressionen anderer Jungen lag ihm fern.
„Langweilig ist mir das nicht, ich mag das“, antwortete Tobias.
„Ich heisse Peter.“
„Ich bin Tobias.“
„Wenn dich das wirklich interessiert, kannst du uns gerne Mal in unserem Buddhismus-Zentrum besuchen.“
Tobias wusste zwar nicht, was das sein sollte, aber wenn man dort diese Meditation lernt, wollte er sich das auf jeden Fall ansehen. Peter gab ihm ein kleines Kärtchen, auf dem stand:
Buddhistenzentrum Stuttgart, Kastanienallee 33, Peter Neufels. Tel. 0711/432234. Am nächsten Tag machte sich Tobias nach den Hausaufgaben gleich Richtung Bushaltestelle. Er hatte sich inzwischen eine Busverbindung von Plieningen zur Kastenienallee herausgesucht und den Eltern erzählt, er ginge mit ein paar Freunden zum Tischtennisspielen. Als er an dem Buddhistenzentrum ankam, stand er vor einer großen dunklen Holztüre. Das Haus war eine alte Villa mit hellgrünem Anstrich. Nachdem er geläutet hatte, öffnete ihm ein kahlköpfiger, hagerer Mann, dessen Alter er sehr schlecht einschätzen konnte. Zwischen 25 und 50 hätte Tobias alles für möglich gehalten. Der Mann trug nur Sandalen und einen gelb-roten Umhang. Tobias mochte ihn sofort, denn der Mann lächelte ihn sanft und einladend an.
„Ist der Peter hier?“
„Peter ist da“, sagte der Mann ruhig und immer noch lächelnd. Er führte Tobias zu Peter Neufels.
„Hallo Tobias, ich freu mich, dich zu sehen. Komm, ich zeig dir das Haus“.
Sie betraten ein größeres Zimmer, in dem kleine Tischchen aus Holz und jeweils 3 Korbstühle standen. Peter stellte Tobias die Leute vor, die in dem Raum ihren Tee tranken. Vier Männer und zwei Frauen hatten sich an den Tischen verteilt. Einer der Männer hatte einen gelb-roten Umhang an und war kahlrasiert, genau wie der Mann der ihm geöffnet hatte. Tobias liebte die Wärme und Herzlichkeit, die diese Leute ausstrahlten.
„Warum haben manche diese Gewänder an?“ fragte er Peter.
„Das sind buddhistische Mönche. Genau wie im Christentum gibt es auch im Buddhismus Mönche. Sie leben hier und besitzen nichts außer zwei Umhängen.“ „Und du, lebst du auch hier?“
„Nein, ich gebe nur Meditationskurse und unterrichte über Buddhismus. Jetzt zeig ich Dir unseren Altar.“
Sie betraten einen Raum ohne Menschen. Peter zog die Schuhe aus und bedeutete Tobias, es ihm gleich zu tun. Die Wände waren in hellem Orange gestrichen und der dunkelrote, dicke Teppichboden war angenehm weich. Was Tobias hier sah, sollte ihn nachhaltig beeindrucken. Ganz vorne in der Mitte stand eine komplett vergoldete Buddhastatue, die beinahe so hoch war, wie das Zimmer. Die Figur sah gnädig auf ihn herab. Vor der Statue war ein Tisch, auf dem frische Blumen und viele kleine Gläser Wasser standen. Wie Tobias bald erfahren sollte, wird das Wasser symbolisch als Gabe dem Buddha dargeboten und jeden Tag durch frisches ersetzt. Bald lernte Tobias viel über den Buddhismus. Er besuchte von jetzt an regelmäßig das Zentrum und lernte zu meditieren. Er begann, Bücher über den Buddhismus zu lesen und meditierte täglich zwei bis drei mal. Die Eltern, die Lehrer, niemand konnte Tobias noch abhalten, ein richtiger Buddhist zu werden. Seither sind zwölf Jahre vergangen. Tobias lebt heute in einem Buddhist Centre in London. Er gibt Kurse und lehrt den Buddhismus, und all das in englischer Sprache. Und das Trödeln verlernte er nie.