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Von Heulen und vom Fliegen
Vom Heulen und vom Fliegen
Es war eine eiskalte Nebelnacht, und sie standen auf dem flachen, kiesbedeckten Dach eines Hochhauses irgendwo in der Nähe des Bahnhofs. Der Vollmond spendete kaum genug Licht um in drei Metern Entfernung noch etwas zu erkennen, und die Laternen dreißig Stockwerke unter ihnen waren nicht mehr als diesige Flecken in der grauen Suppe.
Der Vater warf einen prüfenden Blick in die Nacht und drehte sich zu seinem Sohn um. In seinem Gesicht stand Stolz, aber auch eine Spur Unsicherheit geschrieben.
"Mein Sohn, auch wenn es nicht danach aussieht, aber diese Nacht ist perfekt, es ist deine Nacht. Nun ist es endlich soweit."
Der Sohn erwiderte den Blick verlegen. Er war froh, dass sein Vater scheinbar doch zufrieden mit ihm war, aber die Angst blieb. So sehr er seinen Vater liebte und ihm vertraute, so sicher fühlte er, dass etwas nicht stimmte. Aber er wusste nicht, was es war.
Der Vater räusperte sich, in dem Versuch, seine eigene Aufregung zu verbergen, und begann seinem Sohn zu erklären was nun bevorstand.
"Sohn, heute wirst du werden wie wir, wie deine Brüder und Schwestern, deine Eltern, deine Großeltern, all deine Ahnen. Du wirst die Familientradition in Ehren weiterführen." Er ärgerte sich, dass er kein Spiegelbild hatte, vor dem er diese Ansprache hätte vorbereiten können. Also versuchte er es einfach. "Es ist ganz simpel: Du musst dich bloß fallen lassen, und die Ruhe bewahren. Geh in dich, und dann lass dich gehen. Lass geschehen, was geschehen will, vertrau deinem Körper, denn er kennt seine Natur, weiß was zu tun ist."
Der Sohn nickte zögernd, und schob das klamme Gefühl im Magen ganz auf die Aufregung. Er wandte die Augen ab von der steil abfallenden Wand des Hochhauses und trat einige Schritte zurück, hielt kurz inne, und hüpfte einige Male auf der Stelle, um sich zu lockern. Nicht, dass das irgendeinen Sinn gehabt hätte, aber er wusste nicht, wie er sich sonst auf den Sprung vorbereiten sollte.
"Ich bin direkt hinter dir. Hab Vertrauen", munterte ihn sein Vater auf, und der Sohn nickte abermals, dieses mal mit mehr Selbstvertrauen.
Schließlich fasste er sich ein Herz und lief auf die Kante zu. Er trabte langsam an, preschte aber doch nach wenigen Schritten vor Aufregung los und stieß sich ab, gut einen Meter vor Ende des Dachs.
Als er fühlte, dass nichts mehr da war, hielt er sich an die Worte seines Vaters, und versuchte, sich nicht auf die Angst zu konzentrieren. Er versank in sich selbst, einige Erinnerungen aus seiner Kindheit zogen an seinem geistigen Auge vorbei.
'Wie deine Brüder und Schwestern' hatte sein Vater gesagt. Damit wäre er zum ersten Mal ganz wie sie gewesen, denn im Grunde genommen war er innerhalb der Familie immer ein Außenseiter gewesen. Schon als kleines Kind war er schlafgewandelt, und bei helllichtem Tag durch die Welt geschlendert, obwohl sie ihm erklärt hatten, dass es die Nachtzeit wäre, zu der ein anständiger Junge wach sei. Nur bei Vollmond hatte er seinen Sarg nachts verlassen, wie ihm seine Eltern stets glücklich erzählten, obwohl er sich nie daran erinnern konnte.
Als er am 25sten Stock vorbeiraste, dachte er daran, dass, während alle anderen schon in der Lage gewesen waren, schlafenden Menschen unbemerkt das Blut auszusaugen, er seinen Eltern graue Haare bereitet hatte, denn wenn er mit seinem Opfer fertig war, konnte man das Blut allenfalls von der Wand lecken. Das Essen mit Besteck war ihm auch stets zuwider gewesen, es entsprach nicht seinem natürlichen Drang, seine Zähne in das Fleisch zu graben um es in Fetzen zu reißen. Außerdem kribbelte Mutters Tafelsilber immer so unangenehm, dass es fast schon schmerzhaft war.
Dennoch hatte sein Vater wohl recht gehabt mit der heutigen Nacht, denn tatsächlich spürte er, wie sich etwas in ihm regte, etwas ungestümes, animalisches, wie ein Tier, das hinauswollte. Die Welt um ihn herum veränderte sich plötzlich, er spürte, wie sich seine Sinne schärften, sein Herz immer schneller pochte. Mit seinen gelb blitzenden Augen sah er jedes Detail seiner Umgebung, bemerkte das leise Quietschen der Güterzüge am nahen Bahnhof, witterte sogar den vertrauten, leicht modrigen Geruch seines Vaters dicht hinter sich. Er hatte Wort gehalten. Das war es wovon Vater gesprochen hatte. Die Verwandlung.
'Jetzt nur nich nervös werden' schalt er sich, und versank wieder in Gedanken. Er dachte daran, wie sie schauen würden, wenn er heimflog, der, den sie früher immer gehänselt hatten, weil er nach dem Duschen immer noch wie nasser Hund roch. Ihn, der sich dreimal am Tag rasierte, während ihre feine, blasse Haut so weiß und glatt wie Alabaster blieb.
Auch jetzt sproßen sie, raue, dicke Haare, auf den Armen, Schultern, am Rücken, überall. Sein Rücken krümmte sich, als er am 14ten Stock vorbeifiel, und seine Knochen bogen seinen nun viel muskulöseren Körper in eine gedrungene Haltung. Mehr aus Zufall sah er sein Spiegelbild in einem Fenster im 7ten Stock.
"Scheiße", dachte er, und ein langgezogenes Heulen entrang sich seiner Kehle, "Werwölfe können gar nicht fliegen."