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Von Zwiebeln muss ich heulen
Es war 5:30, als der Wecker klingelte. Herr Zwiebel öffnete die Augen. Er rührte sich nicht und machte auch keinerlei Anstalten aufzustehen. Sein Blick wanderte über die graue Raufasertapete seines kleinen Schlafzimmers. Es war dunkel, die schweren Vorhänge ließen nur wenig Tageslicht hinein. Die Möbel sahen ordentlich und unbenutzt aus, was dem Raum eine sterile Atmosphäre verlieh. Abgesehen von ein paar Büchern im Regal über dem Schreibtisch und einem Kaktus auf dem Fensterbrett gab es kaum persönliche Gegenstände. Über einem Stuhl neben dem Bett hing fein säuberlich gefaltet Herr Zwiebels Kleidung.
Sein Blick blieb an einem schwarzen Fleck an der Wand hängen, der ihm noch nie aufgefallen war. Er fragte sich nach seinem Ursprung und musterte ihn als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Er stellte sich vor, jemand sei während er schlief in sein Schlafzimmer geschlichen und hätte mit Farbe und Pinsel diesen Fleck hinterlassen. Vielleicht wollte der Unbekannte Kontakt mit ihm aufnehmen und der Fleck war in Wirklichkeit eine geheime Botschaft. Bei diesem Gedanken musste Herr Zwiebel lächeln. Das empörte Klingeln des Weckers riss ihn aus seinen Tagträumen. Er seufzte und richtete sich auf.
Dann stemmte er sich hoch, schaltete den Wecker aus und ging zum Fenster, um die Vorhänge beiseite zu schieben. Er verschwendete keine Zeit mit einem Blick aus dem Fenster, er wusste, es gab dort nichts zu sehen. Er duschte sich lange und heiß. Danach ließ er Wasser ins Waschbecken und fing an sich zu rasieren. Der Mann im Spiegel machte es ihm nach. Er guckte ihm mit seinen traurigen Augen entgegen. Das machte Herr Zwiebel wütend. Er mochte diesen Mann nicht, mit seiner Halbglatze und dem aufgequollenem Gesicht. Er rasierte sich rasch zu Ende und vermied es dabei in den Spiegel zu schauen. Danach schlurfte er zurück ins Schlafzimmer
und zog sich langsam an. Zum Schluß streifte er noch seinen erdnussbraunen Pollunder über und ging in die Küche um sich einen Kaffee zu kochen. Herr Zwiebel aß morgens nie etwas. Nach der zweiten Tasse schaute er auf die Uhr. In drei Minuten würde er losfahren müssen. Er blieb bis zur letzten Sekunde sitzen, dann kämpfte er sich aus dem Stuhl und Griff nach seiner Tasche, die unter dem Tisch bereit stand. Bevor er die Haustür abschloss, kontrollierte er noch einmal, ob alles an seinem Platz stand. Natürlich tat es das. Her Zwiebel Setzte den Hut auf und drückte die Ruftaste des Fahrstuhls. Der Fahrstuhl kam,
Herr Zwiebel drückte die Taste für das Erdgeschoss und rannte so schnell er konnte die Treppe hinunter. Er wohnte im 6. Stock und war ziemlich aus der Puste als er unten ankam. Der Fahrstuhl war bereits da, er war einfach der schnellere, da war nichts zu machen. Er kontrollierte seinen Briefkasten und fand zwei Briefe darin liegend. Gierig überprüfte er die Absender und ließ enttäuscht die Schultern hängen, als sie sich als Rechnungen herausstellten. Als er das Fach wieder schloss hörte er hinter sich einen Eimer klappern. Er drehte sich um und sah eine Frau in Arbeitskleidung mit einem Mob die den Flur wischte. Er lächelte sie an und streckte die Hand aus: „Sie müssen die neue Reinigungskraft sein. Mein Name ist Zwiebel, sehr erfreut.". „Von Zwiebeln muss ich immer heulen.", sagte sie ungerührt mit einem starkem osteuropäischem Akzent und drehte sich um, ohne seine Hand auch nur eines Blickes zu würdigen. "Merkwürdiger Mensch", dachte Herr Zwiebel achselzuckend.
Später im Bus hatte er die Frau längst wieder vergessen. Die Leute die mit ihm im Bus saßen, auf dem Weg zu Arbeit oder zur Schule, blickten meist in die Leere oder hatten die Augen geschlossen und schienen zu schlafen. Herr Zwiebel liebte es sich die Gesichter anzuschauen und sich vorzustellen wie es bei den dazugehörenden Leuten zu Hause aussah, was sie in ihrer Freizeit machten und ob sie Familie hatten. Dann überlegte er immer wie es wäre in ihre Rollen zu schlüpfen und die Welt aus ihren Perspektiven zu sehen. Als der Bus an der Ecke hielt wo Herr Zwiebel zur Arbeit ging stieg er aus und ging die letzten Meter zu Fuß. Er durchquerte die Eingangshalle des Bürogebäudes und grüßte einen Kollegen, der aber wortlos an ihm vorbeieilte. Vor seinem Büro angelangt öffnete er die Tür und knipste das Licht an und verharrte. Zögernd betrachtete er seinen Schreibtisch der sauber und aufgeräumt einsam in der mitte des Raumes stand. Im kalten Neonlicht strahlten die weißen Wände unnatürlich hell und bildeten einen krassen Kontrast zu dem dunklen Tisch. Ein plötzliches Unbehagen erfüllte Herrn Zwiebel. Kurz entschlossen drehte er sich um, betrat einen der wartendenden Fahrstühle und fuhr in den 36. Stock. Dort angekommen, trat er aus der Kabine und schaute sich um. Er nahm einen Feuerlöscher von der Wand und stellte ihn vor die Lichtschranke der Fahrstuhltür. Dann öffnete er auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs ein Fenster. Herr Zwiebel drückte auf die Erdgeschosstaste und nahm den Feuerlöscher aus der Tür, die sich daraufhin schloss. Er trat auf die Fensterbank und beobachtete von dort die Anzeige über dem Fahrstuhl: 34, 33, 32, 31, 30. Bei 29 drehte er sich um und ließ den Fensterrahmen los. Dieses eine Mal war Herr Zwiebel schneller als der Fahrstuhl.