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Vor der Tür
Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich gehe ganz langsam.
Wie langsam kann man gehen? Wo ist wohl der Rekord?
Warum bin ich überhaupt wieder früher gegangen? Die zwei Stunden Mathe hätte ich auch noch geschafft.
Ich wollte einfach nicht mehr. Es ist ja auch ganz einfach. Zu Frau Hartwald gehen, über Kopfschmerzen klagen und schon bin ich auf dem Weg nach Hause.
Aber will ich da überhaupt hin?
Wenn ich wüsste, dass sie nicht da ist. Ja dann, dann müsste ich jetzt nicht bummeln.
Dann könnte ich einfach heim gehen.
Oder wenn sie so wäre wie andere Mütter...
Auf mich warten würde, mit einem dampfenden Teller, mit leckerem Essen.
Dann wäre es kein Problem die Tür zu öffnen. Dann wäre da keine Angst.
Angst, ja, ich habe Angst.
Vielleicht ist sie da. Es ging ihr ja schlecht. Obwohl, schlecht geht es ihr ja immer.
Aber schlechter, hoffnungsloser, geht das?
Angst, die ist immer da.
Gleich bin ich am Haus. Dann muss ich die Tür aufschließen. Noch langsamer kann ich einfach nicht laufen, das sähe komisch aus. Das würde auffallen. Auffallen darf ich nicht. Keiner darf etwas wissen. Mit keinem darf ich reden. Das darf ich nie vergessen, sonst kommt die Frau vom Jugendamt und stellt Fragen. Und dann?
Ich stecke vorsichtig den Schlüssel ins Schloss. Soll ich aufschließen?
Was wird mich erwarten? Ist es passiert? Hat sie es wahr gemacht?
Der Schlüssel steckt im Schloss, aber ich kann ihn einfach nicht umdrehen.
Ich bekomme keine Luft mehr.
Ich zittere.
Gestern ist sie auf dem Weg aus der Stadt vor dem Schaufenster des Bestattungsinstituts stehen geblieben.
Da war er, dieser große schwarze Kasten. Unheimlich. Bedrohlich.
Ich wollte ihn nicht ansehen.
Ich wollte mir nicht vorstellen wie es wäre eines Tages darin zu liegen.
Ich wollte mir nicht vorstellen wie es wäre, wenn sie darin läge.
Aber sie ging einfach nicht weiter. Keinen Schritt. Keinen Zentimeter. Ich machte vorsichtig einen Schritt nach dem anderen. Sie musste doch endlich kommen. Sie musste mir folgen. Mit mir gehen.
Aber sie blieb stehen. Sah mich nicht an. Nahm mich nicht wahr.
Und dann sagte sie den Satz, den ich jetzt wieder höre. Den Satz, der es mir unmöglich macht die Tür zu öffnen. Den Satz, den sie wie ein Mantra wiederholte, als ich es endlich geschafft hatte, sie zum weitergehen zu bewegen.
„Wenn ich doch nur in dem Sarg liegen könnte.“
Hat sie sich ihre Sehnsucht erfüllt?