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Vor und hinter dem Hüttchen

Beitritt
18.04.2008
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Vor und hinter dem Hüttchen

Es ist schon seltsam, sagte er sich während er aus seinem Auto stieg. Wie eine kleine Hütte am Rande einer Strasse die Grenze von einem Land zum anderen so unabänderlich markieren kann. Dadurch, dass irgendjemand Schilder mit weissem Kreuz auf rotem Grund oder dreifarbige Flaggen neben ein Hüttchen stellt, wird die Welt in Stücke geteilt. Es war ein grauer Oktobertag, ab und zu fuhr ein Auto auf das Zollhüttchen zu. Er setzte sich auf einen Stein am Strassenrand.

Diese Landschaft, dachte er, ist kilometerweit die Selbe. Vor dem Hüttchen und hinter dem Hüttchen dieselben Tannen, dieselben Hügel, dieselbe triste Herbstlandschaft. Selbst die Menschen sahen gleich aus. Nur sprachen sie vor dem Hüttchen eine andere Sprache als hinter dem Hüttchen. Im ersten Haus vor dem Hüttchen sprach man einen anderen Dialekt als im ersten Haus hinter dem Hüttchen. War von der Hauptstadt die Rede, sprach man im Haus vor dem Hüttchen von Bern, im Haus hinter dem Hüttchen von Wien. Die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen kaufen ihr Brot in der Bäckerei vor dem Hüttchen, während die Bewohner des Hauses hinter dem Hüttchen ihr Brot in der Bäckerei hinter dem Hüttchen kaufen, sagte er sich. Wahrscheinlich selbst dann, wenn der Weg zur Bäckerei hinter dem Hüttchen für die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen kürzer Wäre als der Weg zur Bäckerei vor dem Hüttchen. Oder umgekehrt. Aber wer weiss das schon, dachte er sich, auf dem Stein sitzend, vielleicht täusche ich mich. Dass die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen aufgrund unmittelbarer Nähe zur Bäckerei hinter dem Hüttchen die Bäckerei vor dem Hüttchen meiden würden um sich der Bäckerei hinter dem Hüttchen zuzuwenden und umgekehrt, hielt er allerdings für schwer vorstellbar. Insgeheim hielt er die Bewohner des Hauses hinter dem Hüttchen für die besseren Menschen als die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen, er freundete sich nach und nach mit diesem Gedanken an. Aber na ja, dachte er sich, wer weiss das schon.

Er richtete sich langsam auf und blickte in Richtung des Hauses vor dem Hüttchen, das etwa hundert Meter vom Haus hinter dem Hüttchen entfernt war. Ob die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen wohl mit den Bewohnern des Hauses hinter dem Hüttchen bekannt sind, fragte er sich. Immerhin waren sie Nachbarn und Nachbarn, so sein Gedanke, kennen sich. Wenn auch nicht gut, wenn auch nur flüchtig, selbst wenn sie sich nicht leiden können und sich bekriegen, sie kennen sich. Würde man zunächst unter Angabe eines fadenscheinigen Motivs im Haus vor dem Hüttchen vorsprechen und anschliessend den Bewohnern des Hauses hinter dem Hüttchen die Aufwartung machen, könnte man unschwer in Erfahrung bringen, in welchem Verhältnis die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen zu den Bewohnern des Hauses hinter dem Hüttchen stehen, sagte er sich, vor dem Stein stehend.

Er dachte einen Moment lang nach, ärgerte sich noch über den Stein, dessen feuchte Oberfläche seine Hose beschmutzt hatte und lief schliesslich geradewegs auf das Haus vor dem Hüttchen zu. Er hatte sich schon jene Worte zurechtgelegt, die dem Vorsprechen am Haus vor dem Hüttchen, unter Angabe eines fadenscheinigen Motivs dienlich gewesen wären, als er plötzlich stehen blieb und sich vom Haus vor dem Hüttchen abdrehte. Er kehrte um, stieg in sein Auto und fuhr davon.

 

Hallo Sebastian,

hmmm, auf meiner Skala von Paris nach Istanbul ist diese Geschichte ungefaehr Strassburg vor dem Huettchen, was von Istanbul aus gesehen aber hinter dem Huettchen waere.
Dieses Huettchen hat mich echt ein bisschen schwindelig gemacht. Haeuschen vor dem Huettchen, Huettchen hinter dem Baeckerchen vor dem Haeuschen. Und warum ueberhaupt das Ganze Trennungsdrama in Zeiten der EU?
Ich bin weiss Gott niemand, der auf Handlungsarmut rumreitet. Aber wenn schon nix passiert, brauche ich wenigstens bunte Bilder, interessante Charaktere, einen lebhafteren Stil.
So ist das Ganze nur Reflexion ueber die Absurditaet mehr oder minder willkuerlicher Grenzziehungen, die an sich nicht ueberragend originell oder erhellend ist, auch wenn sie mit unangenehm bedeutungsschwangerem Gestus daherkommt.
Positiv ist allerdings zu vermerken, dass der Text ingesamt sauber geschrieben und interpunktiert ist.
Es tut mir leid, dass ich Dir zu Deinem ersten Text nichts Netteres sagen kann, aber mir persoenlich ist er einfach etwas zu staubig.

lg
feirefiz

 

Der Text schafft es tatsächlich auf so kurzem Raum einem irgendwie das Gefühl zu geben, man wäre ein idiot. Das ist ja auch irgendwo eine Leistung.
Ehm, so Texte haben dann den Nachteil, dass man automatisch dem Autor zeigen will, wo er selbst Schwächen hat und ich hab dann voller Genugtung ein paar fette Kommafehler gesehen und mir gedacht: Ah, der will mich für blöd verkaufen mit diesem Wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen, fliegen Fliegen Fliegen nach Kram und weiß nicht mal, dass da vor um zu ein Komma gehört.
Ehm, ja - vorgelesen würde das bestimmt irgendwie wirken. Schwarz auf weiß ist es ein vor dem Hüttchen, hinter dem Hüttchen-Brei.
Das ist die Crux mit Text-Rezeption. Wenn ein Text selbst furchtbar schlau ist wird's ihm lange nicht so gedankt, wie wenn sich der Leser beim Lesen schlau fühlt oder hinterher vielleicht sogar noch schlauer.

Gruß
Quinn

 

Hi Sebastian,

hmm, für mich ist dies eine Ansammlung von Fragestellungen, wie sie wohl jeder 14- bis 15-Jährige mal durchspielt. Mir kommt es so vor, als wolltest du mir (dem Leser) mit der Holzhammermethode die Weise von Toleranz und Gleichheit einprügeln wollen - und gleichzeitig ein Plädoyer gegen willkürliche Grenzen halten. An sich okay. Aber ich mag diese Holzhammermethoden nicht, der Text bietet mir auch keine neuen Erkenntnisse, eine Geschichte wird (im engeren Sinne) auch nicht erzählt. Würde der Prot sich nicht anfangs an den Straßenrand setzen und sich nachher über seine nasse Hose ärgern, hätten wir praktisch keine Handlung.

Den Minimalanforderungen an Kurzgeschichten für dieses Forum genügt der Text. Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dir im Grunde ein Essay vorschwebte und du ein paar "Geschichtenelemente" darangewoben hast (alles durch die Augen eines Prot schildern), um es hier präsentieren zu können. Tut mir leid, aber ist nicht mein (!) Fall.

Viele Grüße
Kerstin

 

Hallo Sebastian! Nach den ersten zwei Sätzen habe ich gedacht, dass etwas Spannendes passieren würde: Ein Konflikt vielleicht, der die Absurdität einer willkürlichen Grenze deutlich macht, Menschen, die dadurch zu besonderem Handeln veranlaßt werden o.ä. Leider ist es bei reflektiven Betrachtungen geblieben, die ich jetzt schon wieder vergessen habe. Warum nicht ein bisschen mehr Hüttenzauber?
LG,
Jutta

 

hallo,
ließe man »vor dem Hüttchen« und »hinter dem Hüttchen« weg, käme meiner Ansicht nach eine lesbarere (wenn auch stellenweise rätselhafte) Geschichte heraus, als mit diesem ewigen Hüttchen hier und Hüttchen da, das, zumindest mir, nach ein paar Zeilen gehörig auf den Wecker ging.
man kann sowas schon machen, keine Frage, aber das Lesevergnügen kommt da ein bisschen zu kurz, finde ich.

Georg

 

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