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Vor und hinter dem Hüttchen
Es ist schon seltsam, sagte er sich während er aus seinem Auto stieg. Wie eine kleine Hütte am Rande einer Strasse die Grenze von einem Land zum anderen so unabänderlich markieren kann. Dadurch, dass irgendjemand Schilder mit weissem Kreuz auf rotem Grund oder dreifarbige Flaggen neben ein Hüttchen stellt, wird die Welt in Stücke geteilt. Es war ein grauer Oktobertag, ab und zu fuhr ein Auto auf das Zollhüttchen zu. Er setzte sich auf einen Stein am Strassenrand.
Diese Landschaft, dachte er, ist kilometerweit die Selbe. Vor dem Hüttchen und hinter dem Hüttchen dieselben Tannen, dieselben Hügel, dieselbe triste Herbstlandschaft. Selbst die Menschen sahen gleich aus. Nur sprachen sie vor dem Hüttchen eine andere Sprache als hinter dem Hüttchen. Im ersten Haus vor dem Hüttchen sprach man einen anderen Dialekt als im ersten Haus hinter dem Hüttchen. War von der Hauptstadt die Rede, sprach man im Haus vor dem Hüttchen von Bern, im Haus hinter dem Hüttchen von Wien. Die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen kaufen ihr Brot in der Bäckerei vor dem Hüttchen, während die Bewohner des Hauses hinter dem Hüttchen ihr Brot in der Bäckerei hinter dem Hüttchen kaufen, sagte er sich. Wahrscheinlich selbst dann, wenn der Weg zur Bäckerei hinter dem Hüttchen für die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen kürzer Wäre als der Weg zur Bäckerei vor dem Hüttchen. Oder umgekehrt. Aber wer weiss das schon, dachte er sich, auf dem Stein sitzend, vielleicht täusche ich mich. Dass die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen aufgrund unmittelbarer Nähe zur Bäckerei hinter dem Hüttchen die Bäckerei vor dem Hüttchen meiden würden um sich der Bäckerei hinter dem Hüttchen zuzuwenden und umgekehrt, hielt er allerdings für schwer vorstellbar. Insgeheim hielt er die Bewohner des Hauses hinter dem Hüttchen für die besseren Menschen als die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen, er freundete sich nach und nach mit diesem Gedanken an. Aber na ja, dachte er sich, wer weiss das schon.
Er richtete sich langsam auf und blickte in Richtung des Hauses vor dem Hüttchen, das etwa hundert Meter vom Haus hinter dem Hüttchen entfernt war. Ob die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen wohl mit den Bewohnern des Hauses hinter dem Hüttchen bekannt sind, fragte er sich. Immerhin waren sie Nachbarn und Nachbarn, so sein Gedanke, kennen sich. Wenn auch nicht gut, wenn auch nur flüchtig, selbst wenn sie sich nicht leiden können und sich bekriegen, sie kennen sich. Würde man zunächst unter Angabe eines fadenscheinigen Motivs im Haus vor dem Hüttchen vorsprechen und anschliessend den Bewohnern des Hauses hinter dem Hüttchen die Aufwartung machen, könnte man unschwer in Erfahrung bringen, in welchem Verhältnis die Bewohner des Hauses vor dem Hüttchen zu den Bewohnern des Hauses hinter dem Hüttchen stehen, sagte er sich, vor dem Stein stehend.
Er dachte einen Moment lang nach, ärgerte sich noch über den Stein, dessen feuchte Oberfläche seine Hose beschmutzt hatte und lief schliesslich geradewegs auf das Haus vor dem Hüttchen zu. Er hatte sich schon jene Worte zurechtgelegt, die dem Vorsprechen am Haus vor dem Hüttchen, unter Angabe eines fadenscheinigen Motivs dienlich gewesen wären, als er plötzlich stehen blieb und sich vom Haus vor dem Hüttchen abdrehte. Er kehrte um, stieg in sein Auto und fuhr davon.