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Vorahnungen
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
06. Februar 2000, 20.05 Uhr; Hauptbahnhof von Amsterdam
„Wieso muss heute alle schief gehen?“, fragte sich Benjamin Grodekerk nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Es kam ihm fast so vor, als wolle alle Welt verhindern, dass er in diesen Zug stieg. Erst war das Ticket nirgends zu finden, dann sprang sein Auto, welches ihn bisher noch nie im Stich gelassen hatte, nicht an und schließlich musste er eine halbe Stunde am Telefon zubringen, um ein Taxi zum Bahnhof aufzutreiben.
Er war froh, als der Fahrer endlich an der Tür klingelte.
Die ersten zehn Minuten der Fahrt verliefen ohne Probleme. Dann gab es einen lauten Knall und der Fahrer brachte das Auto nur mit Mühe, kurz vor einem Laternenmast zum Stehen.
Reifenpanne! „Das darf doch alles nicht war sein.“ Benjamin war einem Tobsuchtsanfall nahe.
Fünfzehn Minuten später hetzte er mit seinem Koffer durch die Eingangshalle, als ihm eine alte, in Lumpen gehüllte Frau den Weg vertrat. „Kein guter Tag heute. Großes Unglück. Viele Menschen sterben. Kein guter Tag.“
„Geh mir aus dem Weg“, keuchte er und wollte ihr ausweichen, doch sie verhinderte geschickt und mit einer für ihr Alter ungewöhnlich eleganten Bewegung sein Vorhaben.
„Kein guter Tag heute! Kein guter Tag“, krächzte sie immer wieder.
„Lass mich in Ruhe mit deiner Schwarzseherei.“ Benjamin schob sie grob zur Seite und rannte zum Bahnsteig.
0.10 Uhr; Haus der Familie Röder in Brühl
„Wie froh ich bin, wenn die Zwillinge morgen von der Klassenfahrt wiederkommen.“ Gedankenverloren rührt Katharina Röder Honig in heiße Milch. „Dieses leere Haus bringt mich noch um den Verstand und der Kater wird auch immer seltsamer.“ Ratlos schüttelt sie den Kopf. „Den ganzen Tag rennt er wie besessen durch das Haus, faucht alle Türen an und gebärdet sich als wäre er toll. Wird wahrscheinlich alt, der gute Mickey“, murmelt sie, während sie Richtung Schlafzimmer läuft.
0.10. Uhr; Nachtexpress D – 203 von Amsterdam nach Basel Steuerungszentrale
„Komisch, nirgendwo Zwischensignale und das auf einer so langen Baustrecke“, denkt Florian Grebe und reibt sich müde die Augen. „Im Verzeichnis für Langsamfahrstellen steht auch nichts. Na ja, in der Zentrale werden sie schon wissen, was sie tun.“ Die Scheinwerfer der Lok fressen sich wie glühende Augen in das lichtlose Dunkel hinter der Scheibe, während der Zug gemächlich über die Schienen rollt.
„Immer diese Gleisbauarbeiten, dafür haben sie Geld, aber mehr Personal stellt keiner ein und unsereins kann sehen, wo er bleibt, mit den hundertzwanzig Überstunden“.
0.10 Uhr; Nachtexpress D – 203, Wagen 21, Ruheabteil
Laura läuft zum Fenster und öffnet es. Kalter Fahrtwind weht ihr um die Nase und lässt sie frösteln. „Was ist nur mit mir los? Ich versteh das nicht. Seit Tagen diese Albträume und dann dieses Gefühl.“ Seit sie vor vier Stunden in diesen Zug gestiegen ist, hat sie eine Gänsehaut. Ein Gefühl von unterschwelliger Furcht, ungewisser Bedrohung lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Was hatte die alte Frau am Bahnhof gesagt? „Kein guter Tag heute. Großes Unglück. Viele Menschen sterben.“
„Unsinn! Alles Quatsch! Eine alte, einsame Frau, die auf sich aufmerksam machen wollte. Genau!“ Sie will das Fenster wieder schließen, doch es geht nicht. Der Schließmechanismus klemmt.
0.12 Uhr; Nachtexpress D – 203 von Amsterdam nach Basel, Steuerungszentrale
Erleichtert atmet Florian Grebe auf, als die Umlenkung des Zuges auf das Nachbargleis ohne Probleme vonstatten gegangen ist. Er ist angespannt und nervös. Aus irgendeinem Grund, den er sich selbst nicht erklären kann, fühlt er sich unwohl.
Er fröstelt, zieht die Jacke enger um sich. Obwohl das Thermometer zweiundzwanzig Grad zeigt, ist ihm kalt. Auch der Kaffee, der dampfend vor ihm steht, vermag heute nicht zu wärmen. Es ist, als ob etwas in der Luft liegt, nicht greifbar und dennoch da, etwas wie eine …
„Neiiin!“ Mit aller Kraft kämpft er den Gedanken nieder. „Es sind nur Stress und Schlafentzug, diese seltsamen Träume die mich seit ein paar Tagen nicht zur Ruhe kommen lassen“. Er schiebt den Hebel für die Geschwindigkeit nach vorn und beobachtet, wie die Skala auf die Hundertzwanzig zu klettert. Seine Hände zittern.
Lautlos gleitet der Zug über die Gleise. Gestaltlose Umrisse rasen vorbei. Weiter, immer weiter
in rasendem Tempo auf die Weiche zu. Schienen sirren unter der Belastung. Metall beginnt zu ächzen, Funken sprühen. Stöße erschüttern die Lok wie unsichtbare Hammerschläge. Das Kreischen und Quietschen von Stahl steigert sich zum Crescendo, als die Weiche bricht.
0.13 Uhr; Nachtexpress D – 203 von Amsterdam nach Basel, Steuerungszentrale
„Neiiin!“ Er reist den Geschwindigkeitsregler zurück, hämmert mit der Faust auf den Knopf für die Notbremsung.
Alles geschieht gleichzeitig. Ein Schlag erschüttert den Zug, schleudert ihn an die gegenüberliegende Wand. Alles verschwimmt vor seinen Augen. „Der Traum, der Traum. Vorahnung. Zu spät. Der Traum.“ Ein zweiter Schlag. Schmerz. Blut. Dann Dunkelheit.
0.13 Uhr; Nachtexpress D – 203, Wagen 21, Ruheabteil
Laura kann sich kaum auf den Beinen halten, der Boden unter ihren Füßen, ein bebender Vulkan. Schneidender Wind und Regen peitschen durch das geöffnete Fenster. Angst steigert sich zur Panik. „Raus, ich muss raus hier“. Mühsam kämpft sie sich zur Tür. Ein lauter Knall und der Wagen kippt auf die Seite. Lauras Schreie gehen unter im Splittern von Metall, Bersten von Glas. Der Zug kippt weiter. Sie versucht Halt zu finden, doch ihre Hand greift ins Leere.
Eine Explosion. Kein Boden mehr. Das Gefühl zu fallen. Eisige Kälte. Aufprall. Schmerz. Die alte Frau. Gedanken verlieren sich. Kein guter Tag heute. Großes Unglück. Viele Menschen sterben. Dann wird sie bewusstlos.
0.14 Uhr; Haus der Familie Röder in Brühl
Katharina Röder gähnt, während sie die Tasse mit der heißen Milch auf den Nachttischschrank stellt. „Miau, miau“.
„Was tust du denn hier“? Kater Mickey steht im Türrahmen. Sein Fell ist gesträubt, die Ohren ängstlich nach hinten gelegt. „Miau“.
„Hast wohl Hunger was?“
„Miau, miau“.
„Schon gut, musst ja nicht so quengeln. Ich komm ja schon.“ Lustlos schlurft sie wieder zurück in die Küche.
Plötzlich, Geräusche wie Donnergrollen, die näher kommen und lauter werden.
Ein ohrenbetäubender Knall. Die Lampe fällt von der Decke. Wände zittern. Geschirr klirrt zu Boden. Fenster zerspringen. Das gesamte Haus wackelt.
Sie stolpert Richtung Schlafzimmer, reist die Tür auf. Die Rückwand fehlt. Die Zimmerdecke zum Teil eingestürzt. Das Bett zertrümmert. Zwischen Metallteilen und zersplitterten Holzbalken, die Lok eines Zuges.
07. Februar 2000; Wohnung von Benjamin Grodekerk, Amsterdam
Schlaftrunken taumelt Benjamin Grodekerk durch die Küche. Er hat wieder schlecht geträumt diese Nacht. Er schaltet das Radio an und greift nach der Zigarettenschachtel. Seine Hände zittern, sodass es ihm erst beim dritten Versuch gelingt, die Zigarette zu entzünden. Missmutig schaufelt er Kaffeepulver in den Filter. Mit der Glaskanne läuft er zum Wasserhahn während die Stimme des Radiosprechers erklingt: „Guten Morgen! Heute ist der 07. Februar 2000, es ist jetzt 7.00 Uhr. Die aktuellen Nachrichten. Brühl: Heute gegen Mitternacht ist der Nachtexpress D 203 von Amsterdam nach Basel mit circa dreihundert Passagieren an Bord, aus bisher unbekannten Gründen im Bahnhof von Brühl, in der Nähe von Köln verunglückt. Nach ersten Informationen gibt es 8 Tote und 149 zum Teil schwer verletzte. Die Bergungsarbeiten dauern zur Stunde noch an.“
Keuchend ringt Benjamin Grodekerk nach Luft. Während die Kaffeekanne scheppernd zu
Boden fällt, tauchen die roten Schlusslichter des Zuges vor seinem inneren Auge auf, um dann einem anderen Bild Platz zu machen. Dem Bild einer alten Frau. Was hatte sie gesagt? Kein guter Tag heute. Großes Unglück. Viele Menschen sterben. Sie hatte es gewusst.