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Vorhang auf und Zapping

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19.11.2001
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Vorhang auf und Zapping

Vorhang auf und Zapping

Die vier Typen tragen Baseballcaps, aufgeblähte Bermudas und ausgewaschene Nike-Shirts. Die Lippen sind gepierct, zwei von ihnen haben sich Phrasen auf den Arm tätowieren lassen. Auf den Tisch, um den sie sich versammelt haben, stehen geöffnete Bierdosen und ein paar Flaschen Coke. Hamburger und ein in einer Plastikdose verpackter Salat. Servietten, beschmutzt. "Worum geht es im dem Video?" fragt jemand. "Weiß nicht, um Geld ausgeben, glaube ich", antwortete ein anderer. "Ja, wir bekommen 100000 Kröten und dürfen damit machen, was wir wollen. Verschenken, den Arsch abwischen, Papierflieger basteln, shoppen. Alles mit Videobegleitung. "Wow! Wir sicherlich n Riesenspaß." "Sicher, wird n Riesenspaß." Dem Mann werden um exakt acht Uhr drei Gifte injiziert. Um acht Uhr XS ein Schlafmittel, um acht Uhr und drei FXD, das seinen Atem aussetzt und um acht Uhr und vier LFG, das seinen Herzschlag zum erliegen bringen wird. Je nach körperlicher Verfassung rechnet man damit, dass McVeigh gegen acht Uhr und acht tot sein wird. Die Prozedur zuvor ist exakt geplant. Um sieben Uhr und fünfzig wird McVeigh von zwei Wärtern aus seiner Zelle geholt werden, dann wird man ihn in Handschellen in den Exekutionsraum führen. Dort wird man seine Handschellen lösen und auf ihn auf seine Pritsche schnallen. Die Pritsche besteht aus gepolstertem Kuhleder und elf Schnallen, die McVeighs Körper fest umschließen werden. Um exakt sieben Uhr und siebenundvierzig wird man die Kanülen in seine Unterarme einführen. Dann werden sich die vier Vorhänge an den Fenstern öffnen, die den Raum umgeben, und den anwesenden Angehörigen und Journalisten freien Blick gewähren. Natürlich wird die Hinrichtung auch livedröhnende Gitarrenriffs, Dampfhammerschlagzeug im Hintergrund. Zwei Typen am Mikrofon, Caps falsch herum aufgesetzt. Sie versuchen zu singen. Dann der Wechsel: Striplokal. Ziemlich heiße Sache. Halbnackte Tänzerinnen. Die vier stecken ihnen Geld zu und schlürfen ihre Cocktails. Wieder Band bei der Arbeit. Dann vor einem Elektronikgeschäft mit einem Fernseher. Der Drummer - wie passend - zerschlägt den Kasten mit einem Baseballschläger. Als der Besitzer wütend hinaus stürzt, drücken sie ihm 1000 Dollar in die Hand. Er verschwindet mit einem Lächeln im Laden. GrinsenDer Mann liegt mit starrem Blick auf der Pritsche. Sein Körper ist ruhig. Der Brustkorb hebt und senkt sich regelmäßig. Bohrende Blicke lassen nicht von ihm ab. Journalisten, Angehörige von Opfern, Politiker. Nicht nur der Funktion wegen anwesend - Der süße Schauer des Todes - ein Mann legt den Telefonhörer auf die Gabel des roten Telefons und verkündet, dass kein Einspruch mehr vorliege. Er ordnet den Vollzug der Exekution an, die Injektion des ersten Giftessie ziehen den Obdachlosen aus einem Haufen alter Zeitungen und fahren ihn hinaus aus seinem Elend. Nächste Szene im Badezimmer. Der Mann sitzt in der Badewanne und reibt mit den Händen über seine dreckigen Haare, Schaum platzt auf, die vier Musiker schauen zu und grinsen. Schnitt: Ein Friseur säbelt ihm die lange Mähne ab. Close up auf das Gesicht des Mannes. Er grinst erwartungsfreudigseine Blicke sind starr, er versucht zu atmen, beginnt zu röcheln, Blitzlichter zucken, Bleistifte schaben auf Notizblöcken, jemand schleckt Eis. Die Kamera nähert sich McVeighs Gesicht. Kein Ausdruck von Emotionen. Entspannte Ruhe. Seines Schicksal gewiss. Das zweite Gift schleicht sich einfür 1000 Dollar tun sie es. Für 1000 Dollar springen die Skateboarder mit ihren Brettern über den Van. Die Vier grinsen schadenfroh bei jedem videowirksamen Sturz und klatschen sich ab. Die Show auf diesem Kanal ist zu Endeein Arzt verkündet dessen Tod, einige klatschen, manchen versuchen den Schock zu verbergen, bemühen sich um ein möglichst erleichtertes Gesicht. Die Reporterin wird eingeblendet und befragt erste Zeugen: "Riesenspaß." "Gute Aufführung." "Das ist Amerika." The Show must go on.

 

Ho!

"Zapping"... erst dachte ich, der Autor hätte einfach begonnen, aufzuschreiben, was er im Fernsehen beim "zappen" gesehen hat. Als es dann zu McVeighs Hinrichtung kam, zerstreute sich dieser Verdacht, aber ein neuer Entstand, nämlich, wie diese Versatzstücke zusammenpassen sollten, zum Schluss. Viel zu oft habe ich schon derartige Geschichten gelesen, bei denen ein verbindendes Gesamtkonzept fehlte. Aber auch der Verdacht hielt sich nicht, denn das Ende verbindet die einzelnen Stränge und macht das Konzept klar, welches dahintersteht.
Die zugrundeliegende Kritik an den Medien, Medienspektakeln, an der Ausschlachtung zu Unterhaltungszwecken ist nicht neu, hat mich
in der Geschichte aber doch überrascht, und zwar positiv.
Teilweise erinnert mich die Zusammensetzung der Story an die "cutup technique" von William S. Burroughs.
Ziemlich gelungen, wenn auch zuerst verwirrend (derartig unvermittelte Szenenwechsel mitten im Satz - das kannte ich zuvor nur aus "Illuminatus").

Zur äußeren Form müsste ich noch anmerken, dass zumindest bei wörtlicher Rede einige Absätze angebracht wären, aber angesichts des Konzepts der Geschichte wird schon klar, weshalb Absätze beim Wechsel der Schauplätze fehlen.

[Beitrag editiert von: Ben Jockisch am 29.11.2001 um 14:44]

 

Lass mich raten: Dich hat nicht zufällig das Blink 182 Video zum Song "Rock Show" zu dieser netten kleinen Story inspiriert? Na, da soll nochmal jemand behaupten, MTV kucken würde nicht die Phantasie beflügeln! :D

 

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