- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Vorsatz
Weiß war ihr Haar. Dünn, kärglich und beinahe nicht mehr vorhanden. Jetzt klebte es nass an ihrer Kopfhaut. Der schmächtige Körper steckte in durchweichten Acryl-Maschen. Kraftlose Finger umklammerten den Henkel ihrer weißen Lederimitattasche. Als sie vor der Tür stand und fror, regnete es.
Sie sagte: „Es regnet“, als ihre besorgte Tochter sie hineinließ, und fuhr fort, ohne auf deren Antwort zu warten. „Die hat keine Zeit gehabt – da bin ich gegangen – hab’ – hier –“, sie streckte der Tochter einen Beutel Schmutzwäsche entgegen, „kannst du waschen.“ Herzergreifendes Schlottern begleitete ihre Erzählung. „Die hat Besuch gehabt von ihren Enkeln. Hat ja nie Zeit. – Da bin ich los. – Die besuchen die immer.“
„Wen meinst du denn jetzt schon wieder mit die?“
„Na diese komische Dicke.“ Missmut über die Nachfrage.
„Wie heißt sie denn? Wie ist denn ihr Name?“
Große Augen. Sich unwillig kräuselnder Mund. „Ach, ist doch egal.“ Die Mutter wendete sich ab.
Schnippisch, würde die Tochter gewöhnlich denken: patzig. Hier aber dachte sie nur darüber nach.
Ihre Mutter lief Richtung Küche.
„Nein, es ist nicht egal. Die Frau hat einen Namen. Sie heißt Helga. H-E-L-G-A. Das musst du dir doch langsam merken können.“
„Ich hab’ da noch Geschirr im Keller. Teller, Tassen. Kannst dir mal holen kommen.“
Die Tochter dachte nach über Kommunikation, über bewusste Gesprächsführung: Absichtlich. Berechnend. Konnte das sein? Das nasse Haar war inzwischen trocken gerubbelt worden; heißer Tee in Arbeit.
„Heute Morgen – du warst zuhause! Du hast gesagt, du bist arbeiten. Aber dein Auto stand hier.“
„Ich habe das Fahrrad genommen. Bist du etwa wieder ums Haus geschlichen? Ich möchte nicht, dass du uns auflauerst. Das habe ich doch schon so oft gesagt. Du brauchst uns nicht zu kontrollieren.“
„Ich war auf dem Friedhof. Hat wieder jemand geklaut. Können wir mal neue kaufen gehen für Papas Grab.“
„Neue was denn? Neue Blumen?“
„Die klauen viel da. Hab’ heute geträumt von Papa. Hat gesagt: ‚Bald bist du auch hier’.“
Plötzliches Mitleid. Verständnis. Für Einsamkeit.
„Sollte einfach Rattengift schlucken. Hab’ ich noch im Keller.“ Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.
Ins Gesicht geheuchelt. Mime. Heischerei. Plötzliches Mitleid war plötzlich weg. Die Tochter dachte nicht mehr nach. Sie dachte an Absicht und an Vorsatz: Wer redete von Unmündigkeit.
Ihre Mutter: „Die klauen viel da. Das hat Dings auch gesagt, der vom Garten. – Die ist ja nie zuhause. Kommen die Enkel und holen sie. – Da war ich auf dem Friedhof. – Hab’ ich ihr auch gesagt, dass ich noch welches habe. Kann sie sich holen, wenn du nicht willst. Kannst mal vorbeikommen und das nehmen. – Müssen wir noch einkaufen fahren. – Hui, ganz schön, wie das regnet…“