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Vorschnelle Urteile
"Daniel, schau mal, ist das nicht eine Orchidee?", Alexandra deutete nach oben. Daniel blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte. Einzelne Sonnenstrahlen tanzten sich ihren Weg zwischen den Blättern und dem sanften Wind hindurch. In dem Spiel des Lichts konnte Daniel einen bunten Fleck erkennen.
"Schon möglich", murmelte er. Ihm war ziemlich egal, wie die exotischen Pflanzen und Tiere hier hießen, seine Freundin würde ihm alles schon erklären.
"Wie kann man dieses einmalige Ökosystem nur zerstören?", seufzte Alexandra mindestens zum zehnten Mal.
"Ja, ist schon faszinierend", gab er zu. Er atmete tief ein, die Luft war angenehm warm, roch ein wenig nach Moder und gleichzeitig erstaunlich frisch! Dieses Meer aus Grüntönen, das Gezwitscher unbekannter Vögel, Natur pur. Was konnte es aufregenderes geben als durch den Regenwald zu wandern?
Da dröhnte das Gebrüll eines Tieres durch den Dschungel. Daniel zuckte zusammen.
"Was war das?", fragte er.
"Hm, könnte ein Tiger sein", antwortete Alexandra in ruhigem Ton.
"Was, es gibt hier Raubtiere?", Daniel lief es kalt den Rücken hinunter. "Davon hast du mir nichts erzählt!"
"Ach, das war nur ein Scherz!", lachte Alexandra.
Daniel warf ihr einen bösen Blick zu, doch sie ging zielstrebig weiter und er trottete hinterher. Der Schreck war ihm in die Knochen gefahren. Ängstlich blickte er sich um. Die Vegetation war so dicht, dass man nur die nächsten fünf Meter des schmalen Pfades sehen konnte. Hinter jedem Baum könnte ein wildes Tier lauern. Raschelte es da rechts nicht verdächtig? Plötzlich gellte ein spitzer Schrei durch das Dickicht. Was für Gefahren gab es hier wohl? Der Regenwald und die seltenen Tiere mochten ja schützenswert sein, aber Daniel wollte ihn jetzt so schnell wie möglich verlassen. Der Weg führte sie bergab und das Rauschen eines Flusses wurde immer lauter. Es klang, als würde das Wasser vor Schmerzen stöhnen.
Glücklicherweise waren sie bald am Waldrand angekommen und Alexandra trat als erste auf die Lichtung. Als das Sonnenlicht Daniels Augen traf, musste er erst wieder blinzeln. Dann sah er kurz vor ihnen zwei Weiße, eine kleinere Frau in einer blau-weißen Uniform und einen großen Mann in einem olivgrün geflecktem Tarnanzug. Er redete offensichtlich auf sie ein und gestikulierte dabei heftig, während sie rückwärts ging und die Arme schützend hob. Auf einmal rief Alexandra: "Du Dreckskerl!", und rannte los. Erst jetzt sah Daniel, dass der Mann die Frau auf den Boden warf und auf ihr kniete. Als sie schrie, erkannte Daniel das Geräusch von vorhin wieder. Kaum war Alexandra bei den Kämpfenden angekommen, fuchtelte sie mit den Armen herum und plötzlich lag der Fremde am Boden.
"Endlich kann ich mal meine Judo-Griffe sinnvoll einsetzen!", sagte sie zu der Fremden. Doch diese rappelte sich ohne ein Wort des Dankes zu verschwenden auf, lief den Abhang ein Stückchen hinunter, holte hinter einem Felsen ein Kästchen hervor, schrie: "In Deckung!", drückte auf einen Knopf und warf sich zu Boden. Bevor die Wanderer reagieren konnten, gab es einen ohrenbetäubenden Knall, ihnen wurde der Boden unter den Beinen weggerissen und eine dicke Staubwolke regnete auf sie herab. Nachdem sie sich hustend wieder aufgerappelt hatten, sahen sie, dass die Explosion eine Reihe von Häusern, die am Flussufer standen, in Trümmer verwandelt hatte. Die Frau schaute offensichtlich zufrieden auf die Ruinen. Daniel schüttelte seinen Kopf. Einen Moment lang glaubte er zu träumen. Was hatte die Frau getan, lebten in den Häusern denn keine Menschen?
"Wir werden hier einen Staudamm bauen", erklärte sie, bevor er seine Frage formuliert hatte. "Den Platz hier brauchen wir für unsere Baumaschinen. Dort drüben wird die Staumauer entstehen. Die Häuser werden bald sowieso unter Wasser stehen und die Bewohner haben an einem anderen Ort neue, komfortablere Unterkünfte bekommen."
"Aha", sagte Daniel erleichtert.
"Das ist nur die halbe Wahrheit!", mischte der Mann sich ein, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte. "Die Zwangsumsiedlung bringt die Ureinwohner in eine Großstadt, in der sie ihren Sitten und Gebräuchen nicht mehr nachgehen können. Sie vegetieren in Elendsquartieren vor sich hin, verfallen dem Alkohol, werden kriminell oder beides!"
"Ihre Organisation kämpft doch sonst immer für umweltfreundliche Energie!", erwiderte die Frau. "Hier entsteht ein Wasserkraftwerk!"
"Ja, aber der Strom wird doch nur für die Sägewerke gebraucht...!"
"Ich glaube, wir verschwinden wieder", sagte Daniel zu Alexandra. Sie nickte nur und die beiden gingen weiter zum Fluss und schauten in das schäumende Wasser. Der Streit der anderen war hier nicht mehr zu hören.
"Wer hat denn nun Recht, was ist die Wahrheit?", fragte Alexandra den Fluss. "Ich wollte nur einer Frau in Not helfen. Habe ich jetzt mit dazu beigetragen, den Regenwald zu zerstören?"
Daniel stellte sich neben sie, legte den Arm um sie und wartete darauf, dass der Fluss antworten würde.