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Wüstenblume
Wolken hingen wie Blei über der Stadt. Sie lagen schwer auf den Dächern der Häuser und preßten das Leben heraus. Die Menschen flohen geschäftig auf die Straßen. Nur in einer Straße verstummte der Lärm ihres Treibens. Dort hatte die Wolkendecke einen Riß bekommen, und Sonnenschein tropfte hindurch. Der Wind heulte manchmal um die scharfen Ecken der Bauruine, und schreckte einen Schwarm Staub auf, der sofort in den wässrigen Sonnenstrahlen der Luft auseinander trieb, während die gesamte Umgebung in abgestandener Luft zu ersticken drohte. Eingeengt von Schutt hockte das Mädchen in einer niedrigen Mauerecke. Das Wasser des letzten Regens hielt sich hartnäckig an den Wänden, und ließ sie zusammensacken. Die eingeworfenen Fenster schrien in hohlen Fratzen ihren Kummer zur Straße hinaus. Die vorbeilaufenden Menschen hörten und sahen weg, und verkürzten ihre Schritte.
Das Mädchen aber ging sehr gerne hinein. Nicht etwa, um zu spielen, wie es seine Klassenkameraden häufig taten, sondern um einen Freund zu treffen. Einen Freund, der mehr seiner Pflege und Aufwendung bedurfte, als es irgendein anderer verdient hätte. Einen Freund, dem seine blau geschwollenen Arme, sein von Schlägen eingefallenes Gesicht und sein zermarterter Rücken egal waren. Rein äußerlich glich sein Körper der Schuttwüste, die es umgab. Doch innerlich wandte sich in der Ruine seine Seele um, verbarg die gequälte Seite, und sonnte sich in der unwirtlichen Ruhe. Man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Hier mußte besonders viel von ihr verloren gegangen sein.
Das Mädchen hockte also, und wärmte mit seinem zittrigen Atem ein zartes Pflänzchen zu seinen Füßen. An dieser Stelle im Boden brach der Beton auf, und brachte einen fingerdicken Stengel hervor. Sein Grün vergiftete die gähnende Leere. Diese rächte sich, und versah die winzige Pflanze mit einer dicken Schicht Staub. Ihr Grün verdunkelte sich zu einem schmutzigen Violett. Jeden Tag goß das Mädchen behutsam ein paar Tropfen Wasser aus einer Glasgießkanne über sie, und versuchte unermüdlich den grauen Schleier abzuwaschen. Ein wenig Licht brach sich im grünen Glas. Der wohltuende Schein traf das Pflänzchen. Kurzweilig erstrahlte es in einem neuen, satten Grün. Bevor sie wegging, sprach sie noch manch lindernde Worte, und streichelte den traurig gesenkten Sproß.
Eines Abends verließ es weinend die unheilvolle Wohnung. Der Mann kam wieder einmal betrunken von der Arbeit, warf die Tür laut ins Schloß, und eröffnete augenblicklich ein unerträgliches Platzkonzert. Die Mutter dirigierte er zu Pianissimo, die Pauke zu Staccato und das Mädchen mußte unter seinen Händen Triangel in Forte spielen. Das Ganze wurde von Trompeten in Fortissimo überspielt. Draußen, in der Dunkelheit, fand das Mädchen schließlich Ruhe. Es lief eilig zur Bauruine, zum heimlichen Freund. Die Straße hüllte sich im Lampenschein. Armselig kniete der Asphalt in voller Länge vor dem Nachthimmel, bekleidet mit einem einzigen Fetzen aus Licht. Die Blätter an den Bäumen fügten sich wie Mosaiksteine in das Bildnis der Nacht ein. Der Mond tauchte die Ruine in ein unwirkliches Licht. Nur die Pflanze leuchtete im gewohnten Schein zurück. Das Mädchen strauchelte, warf sich vor ihr hin, und benetzte sie mit seinen Tränen. Dann schlief es entkräftet ein.
Am nächsten Morgen öffnete es die Augen, und starrte unverwandt nach oben, während es auf dem Rücken da lag. Der Himmel war ein riesiger Schmelztiegel. Die Sonne schmolz die trüben Wolken der Nacht zu einer weichen Masse, und goß sie in allerlei Formen. Was sie verschüttet hatte, ließ den Morgenhimmel in einen milden Rot zerfließen. Die glühenden Wolken kühlten sich im Laufe des Morgens ab, und verzerrten die Farben in sich. Das Mädchen richtete sich auf, und suchte besorgt seine Pflanze. Ihr Anblick berauschte es. Für einen Moment floß glänzendes Entzücken in seinen Adern, quoll in seine Augen. Die Blume erwiderte seine Freude, und funkelte in nie gekannter Herrlichkeit. Von dem grünen Sproß berührten das Mädchen breite, glänzende Blätter, und eine wunderschön geformte, rote Blüte zog seinen trunkenen Blick auf sich. In dem Blütenkelch sammelten sich die Tränen der vergangenen Nacht, und ließen die Blume noch prächtiger gedeihen. Die Einöde um sie herum vermehrte nur noch ihre Schönheit.
Daraufhin kehrte das Mädchen in die Wohnung zurück. Die Mutter begrüßte es freudig an der Tür. Um ihre Augen legten sich dunkle, schwarze Ringe, die durch ihr Lächeln gestaucht wurden. Sie erzählte ihm später am Küchentisch vom gestrigen Abend. Endlich hatte sie sich durchgerungen, die Polizei zu verständigen, und ihren gewalttätigen Freund festnehmen zu lassen. Darüber war das Mädchen sehr froh. Die Mutter fragte erstaunt, woher diese bezaubernde Blume käme, die nun in einer kristallenen Vase auf dem Tisch stand. Das Mädchen schwieg zuerst. Dann sagte es : "Ich habe sie aus meinen Herzen gepflückt. Ich schenke sie dir."