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Waada raha
Naseer war bei weitem nicht der attraktivste Mann, den ich je getroffen habe, aber aus irgendeinem Grund konnte ich ihn gar nicht oft genug ansehen. Und jedes Mal entdeckte ich etwas Neues an ihm. Wie die Grübchen, die ihn jünger wirken ließen als er war, oder die widerspenstige Strähne, die ihm immer wieder in die Stirn fiel. Er hatte die Angewohnheit, sich unruhig mit den Fingern durch die Haare zu fahren. Nicht selten sah er deswegen so aus, als sei er gerade erst aus dem Bett gekommen.
Er stand am Fenster, als ich das Wohnzimmer betrat. So, als würde er sehnsüchtig darauf warten, dass sich das Wetter besserte, damit er endlich nach Hause fahren konnte. Ich für meinen Teil war dankbar für diesen Sturm. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich ihn davon hatte überzeugen können, dass es Wahnsinn sei, bei diesem Regen auch nur einen Meter weiter zu fahren. Naseer konnte manchmal unglaublich stur sein, ich aber auch. Jetzt war er hier, und ich hatte nicht vor, ihn so einfach wieder gehen zu lassen.
In den letzten Wochen war ich zunehmend frustrierter von unseren Verabredungen zurückgekommen. Irgendwann hatten wir einen Punkt erreicht, von dem aus wir uns nur noch im Kreis drehten. Wir verbrachten einen netten Abend miteinander, Naseer setzte mich zu Hause ab und verabschiedete sich höflich, aber distanziert. Es schien, als hätte er Angst davor, sich anzunähern.
Ich hatte nicht vor, über ihn herzufallen und ihn zu verführen. Alles, was ich wollte, was ich brauchte, war ein Gespräch. Eines von der Sorte, das wir nicht in einem Restaurant, umgeben von potentiellen Zuhören, führen konnten.
„Willst du nicht lieber deinen Pullover ausziehen? Du holst dir noch den Tod.“
Naseer drehte sich zu mir um und lachte. Ich hatte schon fast vergessen, dass er zu Gefühlsausbrüchen neigte. Wenn er wütend war, bekam es wahrscheinlich die ganze Nachbarschaft mit, er freute sich wie ein Kind und was das Leiden anging, konnte er fast meiner Mutter Konkurrenz machen.
„Den habe ich mir schon vor zwanzig Jahren geholt“, erwiderte er und nahm mir das Handtuch ab, das ich ihm mitgebracht hatte. So plötzlich wie er gelacht hatte, so schnell war seine Stimmung wieder umgeschwungen. Er sprach ruhig, gefasst und sein Blick war ungewohnt kühl. „Nur wünschte ich mir manchmal, es ginge schneller.“
Ich wusste natürlich, wovon er sprach. Das Brennen in seinen Augen, der Husten, der ihn manchmal die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen ließ und mich schon oft fast zu Tode geängstigt hatte und all die anderen Symptome, von denen er mir vielleicht nicht einmal erzählt hatte. Er redete nicht gerne über diese Nacht und ihre Folgen, und ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich hatte inzwischen genug darüber gelesen, um mir in etwa vorstellen zu können, was er seitdem durchgemacht haben musste. Es überraschte mich, dass er dieses Thema auf einmal erwähnte.
„Ich weiß, ich sollte nicht so reden. Man sagt, dass niemand stirbt und niemand tötet. Es ist nur die Form, die sich ändert.“
„Ich schätze, so kann man es auch sehen.“
„Ist nicht von mir, steht in der Gita. Dabei bin ich gar kein Hindu.“ Er setzte sich, lächelte schwach, sah zu mir auf und fügte leise hinzu: „Aber mein Bruder stirbt wirklich.“
„Oh, das... das...“
Er unterbrach mich, indem er eine Hand hob. „Sag’ jetzt bitte nicht, dass es dir leid tut. Das kann ich nicht mehr hören und schließlich hast du nichts damit zu tun.“
Ich schwieg also und setzte mich neben ihn auf die Couch. Den Blick hielt ich auf den Boden gerichtet, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr mich seine Worte getroffen hatten. Es war eine neue, schmerzhafte Erfahrung für mich, so aus seinem Leben ausgeschlossen zu werden. Wenigstens wusste ich jetzt, warum er den ganzen Abend so abwesend gewesen war.
„Ich fliege so schnell wie möglich nach Hause“, flüsterte er.
„Natürlich“, sagte ich nickend. In meinem Kopf hämmerte die Frage, wann er wohl wieder zurück sein würde. Aber ich presste meine Lippen zusammen und behielt sie für mich.
Entweder hatte Naseer meine Gedanken gelesen, oder es war purer Zufall, dass er mich ansah, seine Hand auf meine legte und erklärte: „Ich werde nicht zurückkommen.“
Seine Worte drangen nicht sofort zu mir durch. Ich starrte auf seine Hand. Erstaunlich, dass er ausgerechnet jetzt die Zurückhaltung verlor, die ich so oft innerlich verflucht hatte.
„Nie wieder?“, presste ich hervor.
„Er hat mich aufgezogen, sich immer um mich gekümmert und dafür gesorgt, dass ich etwas aus meinem Leben mache. Es wird Zeit, dass ich auch mal was für ihn tue. Verstehst du das?“
„Natürlich.“
Er zog seine Hand wieder zurück, sprang auf und lief wie ein eingesperrtes Tier vor mir auf und ab.
„Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich machen soll. Ich habe meinen Bruder seit über fünf Jahren nicht mehr gesehen.“
„Das verstehe ich doch.“
„Und dann habe ich mir überlegt, was ich eigentlich in Europa mache. Wieso gehen so viele kompetente Arbeitskräfte ins Ausland, wenn sie zu Hause viel dringender gebraucht werden? Ich habe es satt, ein Pardesi zu sein. Ich vermisse meine Heimat.“
Er klang, wie meine Mutter, kurz bevor sie in unser Dorf zurückgegangen war. Ich verstand ihn gut, bereute ich doch selber manchmal, dass ich sie damals nicht begleitet hatte.
„Bhopal leidet heute noch unter der Katastrophe. Das Grundwasser ist vergiftet, Kinder kommen missgebildet auf die Welt, die Menschen sind krank und können nicht arbeiten. Warum sollte ich nicht einfach alles nehmen, was ich gelernt habe und es dort nutzen?“ Er holte tief Luft und blieb stehen. „Ich wollte dir nur erklären, warum wir uns nie wiedersehen.“
„Aber wieso denn? Ich könnte dich doch besuchen.“
Er sah mich überrascht an. Es war offensichtlich, dass er noch gar nicht über diese Möglichkeit nachgedacht hatte.
„Du?“, erwiderte er amüsiert, dann strich er nachdenklich über sein Kinn. „Ich weiß nicht, dein Körper ist nicht an das Klima gewöhnt. Du würdest bestimmt krank werden. Und du müsstest immer eine Flasche Mineralwasser mit dir herumtragen. Zum Trinken, zum Zähne putzen... Ich denke nicht, dass du dich bei uns wohlfühlen würdest. Unser Haus ist eher... ärmlich. Andauernd fällt der Strom aus und unsere Nachbarn sind etwas altmodisch. Wahrscheinlich würden dich alle anstarren und reden...“
Ich stand auf, anscheinend fand er genug Argumente gegen einen Besuch.
„Willst du wirklich nichts trinken?“, fragte ich ungeduldig. Ich wollte nichts mehr hören, musste irgendetwas tun, um mich abzulenken.
„Nein“, antwortete er erstaunt über meinen plötzlichen Ausbruch.
„Ich brauche einen Kaffee.“
„Um diese Uhrzeit?“
Ich bemühte mich, so ruhig wie möglich in die Küche zu gehen. Naseer folgte mir. Irgendwann sah ich über meine Schulter und bemerkte, dass er verlegen herumstand.
„Setz’ dich“, sagte ich. Er machte mich nervös.
Naseer sank blitzschnell auf einen Stuhl, als wären die zwei Worte ein Befehl gewesen, und sah sich um. Er entdeckte das Bild am Kühlschrank und betrachtete es wie ein Kunstwerk. Dabei war der Bär ein wenig unförmig geraten und ich hatte nie erkennen können, ob das Tier nun einen Baum oder einen Felsen bestieg.
„Ein Geburtstagsgeschenk von meinem Neffen. Er ist beleidigt, wenn ich es abnehme“, erklärte ich.
„Wusstest du, dass Baloo Bär bedeutet? Also würde es völlig ausreichen, wenn es Baloo, statt Baloo, der Bär heißen würde.“
„Hm“, erwiderte ich knapp und stellte die Tassen auf den Tisch.
Naseer hatte bemerkt, dass ich seinen Ausführungen nicht so interessiert folgte, wie er es gewohnt war und sah sich weiter um. Ab und zu murmelte er etwas wie „sehr sauber“ und „schöne Küche“ in sich hinein, dann widmete er sich der intensiven Betrachtung seiner Tasse.
Ich goss uns ein und setzte mich, während er nach der Zuckerdose griff und begann, seinen Kaffee hastig zu süßen. Wenn er so weitermachte, würde das Getränk nicht mehr lange flüssig bleiben. Nach dem dritten Löffel bemerkte er meinen Blick und hielt inne.
„Vielleicht hätte ich dir lieber in die Zuckerdose gießen sollen.“
Verlegen legte er den Löffel zurück, griff nach der Milch und bot sie mir an. Nachdem ich abgelehnt hatte, nahm er selber etwas davon, nippte an seinem Kaffee, verzog kurz das Gesicht, warf mir einen verstohlenen Blick zu und nahm schnell noch einen Löffel Zucker.
„Ich habe dir das alles erzählt, weil ich wollte, dass du meine Entscheidung verstehst“, begann er. „Das ist mir wichtig, weil du mir wichtig bist.“
„Bin ich das?“
„Sicher. Aber wenn ich zwischen dir und meinem Bruder wählen muss, dann, so leid es mir tut, werde ich mich immer für ihn entscheiden.“
Ich nickte und kippte meinen Kaffee herunter ohne darauf zu achten, dass er noch heiß war. Zu dem Zeitpunkt fühlte ich nichts mehr. Naseer betrachtete mich ungläubig.
„Sag’ mir Bescheid, wenn du dein Ticktet hast. Wenn du willst, bringe ich dich zum Flughafen.“
„Das kann ich nicht von dir verlangen.“
Verlangen? Das war das Mindeste, was er mir schuldete! Ich schluckte meine Wut herunter und atmete durch, um mich zu beruhigen. Warum verletzte es mich so sehr, dass er gehen wollte? Wir hatten ja schließlich keine Beziehung. Keine richtige, jedenfalls. Nur, weil ich mir einbildete, dass ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen wollte, hieß das nicht, dass es auch unbedingt so kommen musste.
„Das ist kein Problem für mich“, antwortete ich und stand auf, um meine Tasse wegzustellen. Ich war so aufgeregt, dass sie mir aus der Hand glitt und auf dem Boden zersplitterte.
„Großartig“, stöhnte ich entgeistert und machte ich mich daran, die Scherben aufzusammeln. Ich schnitt mich natürlich sofort.
Naseer stand eilig auf und zog mich vom Boden hoch. Besorgt betrachtete er meine Handfläche und griff nach einem Küchentuch.
„Lass’ mich dir helfen“, sagte er.
„Nicht nötig.“
„Das sieht aber nach einem ziemlich tiefen Schnitt aus.“
„Halb so wild.“
„Du blutest aber.“
„Ich will, dass es blutet! Verstehst du das denn nicht?“, schrie ich und stieß ihn von mir.
„Schon gut, tut mir leid.“ Er presste zwei Finger an seine Schläfe und überlegte kurz. „Vielleicht sollte ich jetzt besser gehen. Ich mache noch schnell die Scherben weg und...“
„Das brauchst du nicht.“
„Gut, dann...“ Er zuckte unschlüssig mit den Schultern.
„Sag’ mir Bescheid, wenn du weißt, welchen Flug du nimmst.“
„Ja.“ Er ging langsam aus der Küche. Im Flur blieb er plötzlich stehen und sah sich suchend um.
„In deiner rechten Hosentasche“, half ich ihm nach.
„Danke“, antwortete er tonlos und zog seine Autoschlüssel aus der Tasche. Ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, verließ er die Wohnung. Ich war froh, dass er mich nicht angesehen hatte. Mein Blick war inzwischen verschwommen und ich wollte nicht, dass er die aufsteigenden Tränen bemerkte.
Kaum war er weg, klingelte es. Ich hatte mich noch nicht von meinem Platz im Flur bewegt, wischte eilig meine Wangen trocken und öffnete. Es war Naseer, der verlegen vor mir stand.
„Es regnet immer noch“, erklärte er schüchtern.
Ich nickte sofort zustimmend. „Und stürmisch ist es."
„Vielleicht sollte ich ja wirklich noch warten.“
„Vielleicht.“ Ich machte einen Schritt zur Seite, um ihn durchzulassen. Er ging aber nicht an mir vorbei in die Wohnung, wie ich erwartet hatte, sondern blieb genau vor mir stehen und griff erst nach einer, dann nach der anderen, verletzten, Hand. Ich zuckte bei der Berührung zusammen.
„Hat das wehgetan?“, wollte er wissen.
„Ja.“
„Mir auch“, flüsterte er, dann lächelte er und fragte: „Würdest du mich denn wirklich besuchen?“
„Ja.“
„Waada?“
„Waada“, versprach ich.