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Wachilt

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15.05.2025
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Wachilt

Irma und Henrik saßen Arm in Arm am Ufer des Flusses und sahen den smaragdgrünen Fluten zu, die sanft vorbeizogen.

Sie sah ihn an. „Woher wusstest du das?“

Sein Blick folgte den leichten Wellen. „Das ist eine lange Geschichte. Glaubt einem kein Mensch.“

„Du kommst von so weit her und arbeitest den ganzen Tag an deinem Boot. Und jetzt sitzen wir hier und du wusstest, an was ich denke, wenn ich auf den Fluss sehe. Woher?“

„Vor ein paar Wochen brach ich von den Kapverden auf, um den Atlantik zu überqueren. Ich wollte etwas in der Karibik segeln, weil ich da lange nicht mehr war.“ Henrik dachte an den Atlantik. „Ich weiß nicht mal, ob ich es selbst glaube.“ Er schüttelte langsam nachdenklich den Kopf und hielt inne. „Eigentlich wollte ein Freund mitkommen, aber er musste in letzter Minute absagen. Da dachte ich mir, nach all den Jahren kann ich auch mal solo segeln.“

Irma sah ihn verwirrt an. „Es ist ziemlich weit von der Karibik bis hier her.“

Er lachte. „Stimmt. Ich hab gesagt, dass es eine lange Geschichte ist. Ich hatte nie vor, nach Guatemala zu kommen, aber dazu komme ich noch. Die ersten fünf Tage lief es ganz gut, abgesehen davon, dass ich immer saumüde war. Man kann nachts nicht durchschlafen, sondern muss regelmäßig aufstehen und nach dem Boot schauen.“


6. Seetag

Er hatte sich gerade wieder schlafen gelegt, als ein lauter Knall und ein Ruck ihn hochschrecken ließen. Er hörte sich um. Die Wellen plätscherten am Rumpf und das Boot knarzte wie immer. Hatte er geträumt? Todmüde stand er auf. Die Instrumente zeigten nichts Besonderes an. Die Bilgen waren trocken. Er ging nach draußen und hakte sich an der Sicherheitsleine ein. Das Boot war in allen Richtungen von Dunkelheit umgeben. Er leuchtete den Mast hoch, doch alles sah wie immer aus. Die Segel waren sanft gefüllt und alle Leinen intakt. Er lief zum Bug und zurück, doch entdeckte nichts. Wieder drinnen notierte er Datum, Uhrzeit und Position im Logbuch. „Ich wurde von einem Knall und Ruck geweckt. Es gibt keine Schäden. Geträumt?“ Er legte sich wieder in die Koje, stellte den Wecker, und schlief augenblicklich ein.

Als der Wecker ihn die nächsten Male weckte, machte er seinen üblichen kurzen Rundgang. Alles war wie immer. Er segelte immer noch allein. Genau genommen segelte das Boot allein. Der Wind war seit Tagen konstant, der Autopilot machte seine Arbeit und er war Passagier. Besser konnte es nicht laufen.

Morgens machte er sich Kaffee und sah dem Sonnenaufgang zu. Er notierte die Routineeintragung im Logbuch, als sein Blick auf den Eintrag der Nacht fiel, den er völlig vergessen hatte. Er stellte den Kaffee ab und ging nochmal zum Bug, aber es war kein Kratzer zu sehen. Schulterzuckend kehrte er zurück und trank weiter seinen Kaffee. AIS zeigte gelegentlich weit entfernt einen Frachter an, der gerade an der Grenze der Reichweite liegen musste.

Der Tag verlief ereignislos. Er sah der See zu, las etwas, machte sich Essen und schlief zwischendurch. Abends lud er neue Wetterdaten und es sollte binnen eines Tages deutlich windiger werden. Nicht schlimm, aber auch nicht angenehm. Immerhin versprachen die Wettermodelle vorher noch eine weitere ruhige Nacht.


7. Seetag

Am nächsten Morgen hatte sich der Himmel verändert. Zerfaserte Wolken kündeten vom Wetterumschwung. Er lud neue Daten und sah sich die Wettermodelle an. Viel machen konnte man nicht. Das Gebiet war groß, aber nicht bedrohlich. Er notierte es im Logbuch. Als der Wind mittags langsam frischer wurde, reffte er die Segel auf die kleinste Stufe. Besser jetzt, wo alles noch friedlich war, als es später zu bereuen und alleine damit zu kämpfen. Das Boot wurde um zwei Knoten langsamer. Nachmittags war der Himmel durchgehend bewölkt und zum böig auffrischenden Wind kam Regen hinzu.

Er stellte sich den Wecker und ging schlafen. Es konnte nicht schaden, nachts nicht völlig übermüdet zu sein, falls das Wetter keinen Schlaf erlaubte oder es etwas zu tun geben würde.

Ersteres war ein Witz. Als der Wecker ging, pfiff draußen der Wind und das Boot schwankte deutlich. Er lachte. „Ich verschlafe ohne Wecker glatt einen Sturm. Das glaubt mir kein Mensch.“ Insgeheim war er ein bisschen stolz auf sich. Solo zu segeln hörte sich nach der maximalen Herausforderung an und bisher lief es ziemlich gut, von der ewigen Müdigkeit abgesehen. Er machte sich Abendessen, was angesichts des Neigungswinkels und der heftigen Bewegung des Boots bald schwieriger als alles Andere bisher war, und sah dem Sturm zu. Die neuen Wetterdaten versprachen keine Verschlimmerung. Es gab in 24 Stunden einen Bereich ein wenig abseits des Kurses, der etwas ruhigeren Wind versprach. Er notierte es im Logbuch, änderte den Autopiloten und trimmte die Segel für den neuen Kurs. Man musste sich das Leben nicht schwerer als nötig machen. Er sah sich den bisherigen Kurs an und es konnte nicht besser laufen. Der Wind hatte ihn bisher von regelmäßigen Segeländerungen verschont.

Nachts erreichte der Sturm seinen Höhepunkt. Der Wind pfiff in den Leinen und der Regen schlug gegen die Fenster. Das Boot schaukelte heftig bei starker Neigung und alles knarzte laut. War es schon immer so laut gewesen? Er beruhigte sich mit der Feststellung, dass das Boot sich mit mehr Neigung aus dem Wind bewegte und der Kiel es wieder aufrichtete, also konnte mit wenig Segelfläche nicht viel passieren. Allein mit sich gab es keine Ablenkung und alle Wahrnehmungen waren intensiver als sonst. An Schlaf war nicht zu denken. AIS zeigte in 10 Meilen Entfernung einen anderen Segler an, aber die Kurse waren sehr verschieden. Zu sehen war bei dem Wetter nichts.


8. Seetag

Gegen vier Uhr morgens fand er endlich Schlaf, als der Sturm langsam, wie von den Modellen versprochen, abflaute.

Er wachte kurz vor dem Wecker in der Dämmerung auf. Das Boot segelte immer noch einwandfrei, wie schon die ganze Reise, und er dachte darüber nach, nun wieder mehr Segelfläche zu setzen und sich dann Kaffee zu machen. Als er müde die Füße aus der Koje schwang, trat er in kaltes Wasser.

Der Schreck ging ihm durch und durch. „Scheiße!“ Das Wasser schwappte über den Boden. Er steckte den Finger hinein und schmeckte daran: Salzig. Verwirrt sah er sich um.

Er bewegte sich mit schnellen, spritzenden Schritten zum Schaltpanel, aber die Bilgenpumpe war eingeschaltet. Er öffnete die überfluteten Bodenbretter in der Mitte des Bootes. Der Schwimmer der Bilgenpumpe war oben. Hin und her bewegen war zwecklos; die Pumpe machte keinen Mucks und es gab auch keinen Alarm. Es gab für Notfälle noch eine starke, manuell einschaltbare Pumpe. Er hastete wieder durch das Wasser zum Schaltpanel und schaltete sie ein. Sofort brummte sie laut auf. Kurz danach war der Wasserspiegel bereits sichtbar gesunken, aber bei der Menge würde sie noch eine Weile zu tun haben. Immerhin bedeutete es, dass der Wassereinbruch nicht stark sein konnte. Er beruhigte sich langsam. Damit war es auch zwecklos, nach dem Schaden zu suchen, solange noch alles unter Wasser stand. Einen kleinen Einbruch würde man erst finden, wenn es abgepumpt war. Er notierte den Vorfall im Logbuch und machte sich Kaffee.

Am späten Morgen war das Boot wieder leer und er begann damit, sauber zu machen, um den Schaden zu finden. Als die Bilgen weitgehend sauber waren, wandte er sich der Bilgenpumpe zu. Schnell zeigte sich, dass der Schwimmer defekt war, darum gab es keinen Alarm und die Pumpe lief nicht an. Er zerlegte den Schwimmer, doch das Teil war nicht mehr zu retten. Nachdem er die dritte Ersatzteilkiste durchkramte, fand er Ersatz und baute ihn ein. Testweise hob er den Schwimmer an, der Alarm ertönte und die Pumpe lief. Missmutig warf er den alten Schwimmer in den Müll. „Elendes Scheißding. Teuer und kaputt, wenn’s drauf ankommt. Wieso baut man sowas nicht redundant?“ Er brummte. Ihm kam der Gedanke, dass er als Eigner es hätte redundant einbauen können. Immerhin war er vorausschauend genug, Ersatz dabei zu haben.

Er kontrollierte die Bilgen im Boot, aber fand nichts. Am tiefsten Punkt schwappte immer noch der Rest Wasser, den die Pumpe nicht wegschaffte. Egal, Zeit für Frühstück und den Eintrag im Logbuch. Nach dem Frühstück lud er neue Wetterdaten und studierte sie, als der Bilgenalarm kurz ertönte. Fluchend rannte er zur Pumpe, aber sie hatte das Wasser schon entfernt und ging wieder aus. Er kontrollierte die Bilgen in Bug und Heck, aber fand nichts. „Ich begreif’s nicht. Das muss doch irgendwo herkommen?“

Als er später gerade die Segel korrigierte, ertönte der Alarm wieder und das Spiel wiederholte sich den Tag über mehrfach. Er zerlegte alles Mögliche auf der Suche nach Lecks bis hin zum Seewasserventil der Bilgenpumpe und ihren Schläuchen, aber fand nichts.

Abends arrangierte er sich für die Nacht damit. Ein schlechtes Gefühl blieb.


9. Seetag

Die Nacht verlief ereignislos. Das Boot segelte und einmal sprang die Bilgenpumpe kurz an, als er gerade seine Runde machte.

Am nächsten Morgen machte er sich nach dem Frühstück erneut an die Arbeit. Es war wie verhext: Das Wasser erschien wie aus dem Nichts. Es gab wirklich genug Möglichkeiten für Lecks, aber inzwischen war er sicher, dass es nicht von irgendwoher zur Pumpe lief, sondern direkt in der Bilge eindrang. Er nahm sich Putzmittel und schrubbte die Bilge glänzend sauber. Plötzlich verfing sich der Schwamm an der Kehle einer Rippe. Er tastete den Bereich ab und spürte mit dem Fingernagel einen Spalt zwischen Rippe und Rumpf. In dem Moment erinnerte er sich an die Nacht vor ein paar Tagen und alles ergab einen Sinn. Er musste mit dem Kiel gegen irgendetwas gefahren sein und der Rumpf hatte sich wenigstens so weit verformt, dass nun Wasser über die Kielbolzen eindrang, falls es nicht gar einen Riss gab. Der Spalt lief die ganze Rippe entlang und sagte, dass die statisch wichtige Verbindung zwischen Rumpf und Rippe gebrochen war. Vielleicht saß der Kiel damit nicht mehr fest.

Er suchte nach einem ausreichend großen Schraubenschlüssel und fand ihn nach einiger Zeit. Die Bolzen rührten sich keinen Millimeter, in keine Richtung. Schließlich und mit maximaler Anstrengung rutschte er ab, prallte mit dem Kopf gegen den Tisch und blutete sofort. „AAHH … scheiße noch mal!“ Er presste ein Handtuch auf den dumpfen Schmerz und betrachtete es danach vorsichtig am Spiegel. Es sah erst schlimmer aus, als die Wunde wirklich war, aber es blutete deutlich. Mit verschmierten Händen öffnete er die Verbandskiste. Er sprühte Desinfektionsmittel auf die Wunde, was weh tat und in den Augen brannte, weil er im Spiegel schlecht zielte. Dann suchte er eine Wundauflage und Mull und versorgte die Wunde umständlich. Es sah amateurhaft aus und das war es auch, aber immerhin blutete es nicht mehr. Als er die Schweinerei sah, die er angerichtet hatte, musste er gequält lachen. „Wenn das die Küstenwache sieht… nein Officer, ich habe unterwegs wirklich niemanden ermordet. Bestimmt nicht.“

Alleine und ohne mehr Werkzeug war es jedenfalls sinnlos, zumal es keinesfalls empfehlenswert war, mit einem langen Hebel einen Bolzen abzureißen. Die Wunde war ihm eine Warnung, vorsichtiger zu sein.

Er machte sich einen Kaffee und trug die Ereignisse grinsend ins Logbuch ein. „Das muss ich für immer aufheben. Was für eine Geschichte.“

Nachdem er sich erholte, kramte er in der Ersatzteilkiste und fand noch eine zweite Bilgenpumpe. Er schloss sie provisorisch an und fühlte sich besser, dass wenigstens die Pumpen nun redundant waren.


10. Seetag

Das Wetter wurde wärmer und der Wind ließ nach, bis das Boot nur noch heftig hin und her schwankte. Er sah es sich schon ein paar Stunden an und dann fiel ihm auf, dass die Bilgenpumpen nun häufiger liefen. Er schloss verzweifelt die Augen und murmelte „Auweia.“ Wie konnte man nur so dämlich sein, ohne die Stabilisierung des Winds mehr Last auf den Kiel zu geben? Der Sturm war sicher auch keine Hilfe gewesen.

Er holte die Segel ein und startete den Motor. Es war nicht mehr die Zeit für Geduld. Der Wind schlief ganz ein und er zog eine lange und weite Spur in die glatte See. AIS sah weit und breit nichts. Er machte die Eintragung ins Logbuch und das Lachen war ihm vergangen, denn es las sich nun wie der Beginn einer Katastrophe mitten auf dem Atlantik. Noch gab es keine konkrete Bedrohung, aber mehr Wassereinbruch könnte schnell zu einer werden.

Gegen Mittag sah er in Fahrtrichtung einen Kontakt auf dem Radar, aber nicht mit AIS. Er rief das Fahrzeug über Funk und bekam keine Antwort. Seltsamerweise bewegte es sich nicht. Nach einer Stunde konnte er den Mast im Fernglas erkennen. Es handelte sich auch um ein Segelboot, aber ohne gesetzte Segel. Noch immer antwortete niemand per Funk.

Nachmittags hatte er es erreicht. Etwas stimmte nicht damit. Das Hauptsegel war nicht gesetzt und das Vorsegel halb gerissen. Ein Fetzen hing noch, der Rest lag halb an Deck und halb hing er im Wasser. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Die See war immer noch spiegelglatt, also ging er längsseits und rief laut. Keine Antwort. Je näher er kam, um so verlassener sah das Boot aus. Er verband beide Boote und kletterte an Bord, immer wieder laut rufend. Das Rettungsfloß war noch am Heck montiert. Er kletterte in die Kabine herunter und seufzte: Wasser über dem Boden. Er probierte es und es war nicht salzig, vermutlich also Regenwasser.

„Hoffentlich finde ich hier keine Leiche.“ Er durchsuchte das ganze Boot, doch er fand niemanden, weder tot noch lebendig. Was war hier geschehen? Er fand das Logbuch und der letzte Eintrag war zwei Jahre her. Positionsmeldungen, Kontakte, nichts Außergewöhnliches, abgesehen davon, dass der letzte Eintrag die Ankunft in einem spanischen Hafen war. Offenbar war es auch ein Solo-Segler, wenigstens gab es keine Berichte über Crew. Warum gab es danach keine weiteren Einträge? Für zwei Jahre als Geisterschiff war das Boot auch noch zu gut erhalten.

Er ging wieder ins Cockpit und sah sich die See an. Immer noch spiegelglatt. War es eine dämliche Idee, die Boote zu tauschen? Dieses sank nicht, obwohl es schon länger allein auf See war, und seins sank nur nicht, solange die Bilgenpumpe es weiter schaffte. Sollte es einen Sturm geben und der Kiel riss ab, würde es in wenigen Sekunden kentern. Er kletterte auf sein Boot zurück und prüfte die Wetterdaten. Das Ergebnis war Windstille wenigstens bis Mitternacht. Während er nachdachte, lief schon wieder die Bilgenpumpe. Was würde es brauchen? Batterien, Instrumente, Notfallausrüstung, Nahrung und Trinkwasser, Segel und Leinen, Ersatzteile und seine Habseligkeiten. Vielleicht, falls der Motor noch lief, den Diesel. Das sollte in acht Stunden machbar sein. Das Risiko war aufkommender Seegang, also musste er die schwersten Dinge zuerst transportieren. Und das Wasser musste aus dem Boot.

Er brachte eine seiner Batterien auf das andere Boot, dessen Batteriebank leer war. Nachdem er den Strom auf seine Batterie umklemmte, ging das Licht wieder und die Bilgenpumpe startete direkt. Er lachte. Guter Anfang. Dann prüfte er das Ruder. Es funktionierte. Die nächsten Stunden schraubte und schleppte er schwitzend und brachte bis auf eine Batterie alles auf das andere Boot. Die Segel zu bergen, war alleine eine elende Schinderei. Sie würden vielleicht nicht gut passen, aber besser als nichts. Die Ausstattung auf dem fremden Boot war minimal, denn außer einem kleinen Sturmsegel fand er nichts. Nachdem er seine Starterbatterie umbaute, versuchte er den Motor zu starten, doch weder Startpanel noch Anlasser gaben einen Mucks von sich. Egal. Er baute sein Startpanel aus und brachte es an Bord. Als die Sonne unterging, schaltete er sein Decklicht ein und arbeitete weiter. Gegen Mitternacht war es fast geschafft. Er pumpte den Diesel um und baute als Letztes seine letzte Batterie und die Bilgenpumpen ab, brachte beides an Bord und löste die Leinen.

Er hatte vor Anstrengung Kopfweh und die verschwitzte Kleidung klebte ihm am Leib. Eigentlich wollte er sich nur einen Moment ausruhen, aber sowie er die Augen schloss, schlief er im Cockpit ein.


11. Seetag

Nach Sonnenaufgang wachte er von selbst auf. Sein altes Boot trieb ganz in der Nähe und lag nun deutlich tiefer im Wasser. Er sah es an und konnte nach der Hektik gestern kaum begreifen, was geschehen war. Er war, wenigstens vorerst, vielleicht gerade noch einmal an einem Seenotfall vorbeigekommen, aber hatte sein Boot schon so gut wie verloren.

Er machte sich einen Kaffee, was in der fremden Umgebung umständlich war und ewig dauerte. Schließlich schrieb er seine Eintragung ins Logbuch. Es wurde der längste Eintrag aller Zeiten. Er setzte sich ins Cockpit, trank seinen Kaffee und war fassungslos. Eine leichte Brise kam auf, aber noch zu wenig zum Segeln. Er rief die Wetterdaten ab und der Wind sollte in ein paar Stunden zurück sein. Zeit, sich mit allem vertraut zu machen. Nach einer Stunde waren ihm die wichtigsten Dinge klar. Sein altes Boot lag nun erheblich tiefer im Wasser.

Während er am Heck stand und zusah, wie sein altes Boot immer weiter sank, begann er zu weinen. Es hingen viele gute Erinnerungen daran. Vor wenigen Tagen war er noch stolz, wie gut er alleine segelte, und nun konnte er froh sein, nicht irgendwann im Rettungsfloß auf Hilfe warten zu müssen. Die Anspannung löste sich und er weinte wie ein Kind, was gerade sein liebstes Stofftier verloren hatte, während die bis eben noch beinah glatte See wieder Wellen bekam. Seine Tränen machten dunkle Flecke auf dem hellgrau verwitterten Holz und fielen ins Wasser.

Schließlich beruhigte er sich. Es gab noch viel zu tun. Er nahm vom fremden Boot in Betrieb, was noch funktionierte, und tauschte den Rest gegen einige seiner Teile. Sein Vorsegel passte nicht toll, aber es ging. Das Hauptsegel war noch unversehrt, nur grün verfärbt. Nach dem Tausch des Startpanels gab der Motor Lebenszeichen von sich, aber kein Kühlwasser. Er fand im Maschinenraum einen Ersatzimpeller und tauschte ihn aus, hoffend, dass die Gummibrösel nicht irgendwo den Wärmetauscher verstopften. Immerhin gab es wieder Kühlwasser und der Motor wurde nicht heiß. Er stoppte ihn wieder. Die Solarpanels lieferten wieder Strom, nachdem er einen Laderegler von sich anschloss. Damit war er bereit zur Abfahrt, aber er brachte es nicht über sich, das alte Boot zu verlassen, bis es nachmittags still und leise sank. Die See war wieder einsam und leer.

Sein alter Autopilot tat nach einer kurzen Kalibrierungsfahrt seinen Dienst und er setzte Segel. Zeit, die Ereignisse hinter sich zu lassen. Zeit, sich etwas zu Essen zu machen und das neue Boot weiter zu untersuchen, auf dem er bestimmt noch eine Woche vor sich hatte.


12. Seetag

Die erste Nacht auf dem fremden Boot war seltsam. Er hatte Mühe, zwischen den Wachrundgängen wieder Schlaf zu finden, und war beinahe froh, als die Morgendämmerung anbrach. Der versprochene Wind war angenehm, doch er kam noch nicht über den Gedanken hinweg, mit einem neuen Boot auf dem alten Kurs zu sein. Gewohnte Routinen liefen nun stolpernd und konfus. Schließlich schaute er mit Kaffee über die neuen Wetterdaten. In den Vorräten entdeckte er abgelaufene, noch verpackte Corn Flakes. Er hatte seit Ewigkeiten keine mehr gegessen, doch es passte zu den seltsamen Umständen, ein ganz anderes Frühstück zu haben. Danach machte er sich an die Arbeit: Systeme prüfen, aufräumen, sauber machen.

Als er sich mittags im Cockpit in der Sonne eine Pause von der Arbeit im Boot gönnte, schlief er nach der schlechten Nacht einfach ein. Er träumte konfus. Sein altes Boot sank und um den Fleck aus Blasen schwomm ein schillernder Fisch. Er weinte wieder um das Boot und der Fisch schwamm um seine Tränen herum und rief ihn aus irgendeinem Grund. „Wach auf!“ Er wachte auf. Die Sonne war angenehm warm, bis plötzlich ein Schatten auf ihn fiel. Er öffnete die Augen und eine Frau stand vor ihm. Er erschreckte sich, fuhr blitzartig zurück und verdaute den Schreck keuchend. Er starrte sie an, aber es war kein Traum. Vor ihm stand eine hübsche, nackte, pitschnasse Frau mit heller Haut und schwarzen Haaren, die nicht verschwand, als er die Augen schloss und wieder öffnete. Wasser tropfte von ihr auf das Deck und bildete eine Pfütze. Er sah nasse Fußspuren von der Badeleiter und war sprachlos. Sich hektisch umblickend, war in keiner Richtung ein anderes Boot oder auch nur irgendetwas zu entdecken. Sie sah ihn an und sagte „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Ihr Akzent klang seltsam, eher schon wie ein Dialekt als ein Akzent. Er sah wieder die Pfütze zu ihren Füßen und bekam seine Gedanken nicht geordnet. „Ich komme gleich wieder“, sagte er, holte aus dem chaotischen Stapel seiner Sachen im Salon ein großes Badetuch und legte es um ihre Schultern. „Hallo, ich bin Henrik.“

Sie lächelte und trocknete sich ab. „Das ist ein schöner alter Name. Ich bin Wachilt.“

Er sah sich wieder um und entdeckte immer noch nichts. „Wie kommst du hier her?“

Sie lachte leise. „Ich bin geschwommen.“

Das war sie offensichtlich. Es war vielleicht nicht die klügste Frage. „Hattest du ein Unglück? Ich sehe kein anderes Boot.“

„Nein. Ich lebe gerne im Wasser.“

„Du … lebst im Wasser. Habe ich Halluzinationen?“

„Ja, ich lebe meist im Wasser. Warum hast du geweint?“

Er fasste sich in sein seltsam kaltes Gesicht und es war nass. Dann erinnerte er sich an den Traum. „Ich habe mein Boot verloren.“

„Hast du es geliebt?“

„Ja. Ich bin es um die halbe Welt gesegelt.“

Sie legte den Kopf schräg. „Möchtest du etwas von ihm zur Erinnerung haben?“

Er hatte an alles gedacht: Ausrüstung, Nahrung, seinen Besitz, Dokumente – aber nicht an ein Erinnerungsstück. „Ich hätte mir das Namensschild aus der Kabine mitnehmen sollen. Es war direkt neben der Tür. Zu spät.“

„Weine nicht mehr darum.“ Sie legte das Badetuch auf die Bank und sprang über Bord.

Bevor er noch etwas sagen konnte, war sie verschwunden, und er hätte schwören können, im Wasser kurz den schillernden Fisch aus seinem Traum zu sehen.

„Au Backe. Was war das gerade?“ Er sah das Badetuch an. Das Deck war trocken. War es getrocknet oder stand es mental um ihn nicht mehr gut? Die Frage blieb unentschieden. Das Badetuch war feucht. Von ihr oder von der restlichen Feuchtigkeit im Boot? Er hing es griffbereit zum Trocknen auf, nur für den Fall.

Henrik schüttelte den Kopf und sah noch eine Weile auf die See in die Richtung, in der sie verschwand. Dann machte er sich Essen und arbeitete danach weiter, aber musste immer wieder an den Vorfall denken. Abends funktionierte der meiste Teil der Elektrik wieder und er hatte wieder alle Instrumente.


13. Seetag

Die Nacht verlief ereignislos. Er musste die Segel zweimal korrigieren, weil der Wind wechselte, doch zwischendurch schlief er gut. Als es dämmerte, stand er mit dem Wecker auf und versuchte seiner früheren Routine zu folgen. Kaffee, Wetter, Rundgang, Frühstück. Als er beim Rundgang das Heck betrachtete, blieb er sprachlos stehen. Das Badetuch hing noch so da, wie er es gestern aufhing, aber auf der Bank lag das Namensschild seines alten Bootes. Das Holz sah feucht aus. Er stand eine volle Minute regungslos vor dem Schild, bis er es in die Hand nahm. Es war tatsächlich feucht. Er drehte und wendete es – und zweifelte an seinem Verstand. Dann lächelte er und murmelte „Wenn es bei der Ankunft nicht mehr da ist, bin ich bekloppt. Zweifelsfrei. Und wenn doch … glauben alle, ich wäre es.“ Er nahm es mit in die Kabine, hing es an die Wand und notierte es im Logbuch. „Mein altes Bootsschild lag morgens feucht auf der Bank am Heck. Ich bin sicher, es im Boot gelassen zu haben.“ Er hatte gestern keine Notiz von Wachilt gemacht. War es passiert? Er entschied sich, das Erlebnis nachzutragen.

Der Tag verging mit weiterer Arbeit. So langsam bekam er einen Überblick, was an Bord war, und wie er alles verstauen konnte, was er vom alten Boot mitbrachte. Er wunderte sich, kaum persönliche Gegenstände zu finden. Was mochte mit dem Boot nur passiert sein? Wurde es aufgegeben? Aber warum?

Das Boot hatte keine Flagge und er konnte die Registrierung nicht mehr lesen. Was war die korrekte Flagge für ein unbekanntes geborgenes Boot? Er entschied, es wie sein altes Boot zu behandeln. Das würde das spannendste Einklarieren aller Zeiten werden.

Abends studierte er die Wetterdaten und der Wind versprach, weiter gleichmäßig zu sein. Er machte sich ein gutes Essen und arbeitete danach nicht mehr am Boot, sondern las zur Entspannung. Wachilt war nicht wieder aufgetaucht, was auch immer das nun bedeutete. Nachdem er seinen Roman beendete, stöberte er durch die Bücher, die an Bord waren. Karten und Routenbeschreibungen, technische Bücher, ein paar Romane, die ihn nicht interessierten, und ein Buch über Germanische Mythologie. Er blätterte es uninteressiert durch und sein Blick blieb an einer Abbildung hängen. Mit offenem Mund las er das Kapitel, in dem als Nebenfigur die Wasserfrau Wachilt vorkam. Die Abbildung hatte nichts mit der Frau zu tun, die er sah, abgesehen von heller Haut und dunklen Haaren. Hatte er schon früher von ihr gelesen und darum geträumt oder war an der Sage etwas dran? Er sah wieder zum Schild seines alten Bootes. „Habe ich das doch mitgenommen?“ Er fasste sich an die verschorfte Wunde am Kopf und zuckte mit den Schultern.

Bevor er sich zum ersten Mal schlafen legte, schaute er sich noch die GPS-Daten an. Das Boot segelte ordentlich, aber er hatte auch Glück, in einer guten Strömung zu sein. In ein paar Tagen sollte er am Ziel sein, wenn es so weiter lief.


14. Seetag

Er wurde in der Morgendämmerung durch Regen geweckt und kurz danach lief die Bilgenpumpe für einen Moment. Böse Erinnerungen wurden wach, doch es zeigte sich, dass alle Fenster und einige Stellen am Deck leckten. Er erinnerte sich an den See von Süßwasser, den er vorfand. Darum also. Er seufzte und zog ein Gesicht.

Am Horizont sah er verschiedene lokale kleine Stürme. Es war also den Tag über immer wieder mal mit Regen zu rechnen. Vorsichtshalber reffte er das Segel um eine Stufe.

Nach seiner Morgenroutine begann er mit der Reparatur des Fensters, dessen Rinnsal ihn am meisten nervte. Spuren von Silikon zeugten von früheren, fruchtlosen Abdichtversuchen. Die Arbeit lief auf dem schwankenden Boot schlecht, aber ein paar Stunden später war es wieder dicht. Kurz danach schien die Sonne und er ging zum Cockpit, um sich beim Anblick der See zu erholen. Das hatte er jedenfalls vor. Erstaunlicherweise lag am Heck auf der Bank ein toter Fisch. Er schnupperte daran und der Fisch konnte noch nicht lange hier liegen. War er an Bord gesprungen? Machte diese Sorte so etwas? Er hatte noch nie davon gehört und sah sich um, aber die See war leer bis zum Horizont. „Danke, Wachilt. Das ist ein gutes Essen!“ Eine Antwort hätte ihn nicht überrascht, aber es gab keine.

Unter Deck bereitete er den Fisch zu und hatte ein gutes Abendessen. Der Rest würde auch noch für morgen reichen. Das war mal ein guter Logbucheintrag: „Ein kleiner Mahi Mahi lag tot im Cockpit. Köstlich!“


15. Seetag

Der Tag verlief ereignislos. Das Wetter wurde merklich wärmer, Wind und See waren gleichmäßig und das Boot segelte einfach. Die günstige Strömung hielt an und er machte gute Fahrt. Bei dem Blick auf die See fragte er sich, was er von der Erinnerung an Wachilt halten sollte.

Inzwischen hatte er seine Routine auf dem neuen Boot wiedergefunden und das spiegelte sich auch in den ereignislosen Logbucheinträgen. Er reparierte weitere Fenster. Material hatte er zum Glück genug von seinem alten Boot übernommen. Der Wechsel schien inzwischen weit weg, obwohl es erst ein paar Tage waren. Auf See verloren zeitliche Begriffe ihre Definition.

Abends sah er sich einen spektakulär schönen Sonnenuntergang an und trank ein Bier. „Ist das herrlich. Ich kann nicht glauben, wie schön das ist.“

Er hing gerade verträumt seinen Gedanken nach und hatte wieder das Bild von Wachilt aus dem Traum im Sinn, als es am Heck laut plätscherte. Er drehte sich um und sie stieg tropfend die Badeleiter hoch. „Guten Abend Henrik.“

Er griff zum Badetuch und legte es ihr um die Schultern. Sie lächelte und trocknete sich ab. „Guten Abend Wachilt. Hast du mir das Schild und den Fisch gebracht?“ Sie nickte. „Danke.“ Er sah sie an. „Ich war nicht mehr sicher, ob ich dich wirklich sah.“

Sie lachte. „Das habe ich schon oft gehört.“

„Bitte warte kurz.“ Er holte das Buch aus dem Boot und schlug es auf. „Bist du das?“ Er zeigte auf die Abbildung.

Sie betrachtete es aufmerksam und blätterte die Seite um. „Da war ich noch jünger. Das sind keine guten Bilder, aber ich erkenne es. Das ist sehr lange her. Ich wusste nicht, dass sich noch jemand erinnert.“ Sie blätterte weiter und lachte laut. „Mein Sohn ist groß, aber er ist doch kein Riese! Was ist das?“

Er lachte auch. „Es sind überlieferte Legenden. Der Maler hat euch nie gesehen.“ Er sah sie ernst an. „Wie alt bist du?“

Sie dachte nach. „Ich lebe auf eine andere Weise als du. Für dich sehr alt. Warum fragst du?“

„Also sind die Legenden wahr?“ Sie lachte wieder. „Nein. Ich hörte die Geschichten schon früher und alles war anders, aber Geschichten verändern sich mit der Zeit.“

Er wurde neugierig. „Warum hast du dich mir gezeigt?“

Sie sah ihm in die Augen. „Ich sah dich lange vorher. Ich wollte nicht, dass du stirbst. Darum brachte ich dir dieses Boot.“

Ihm fehlten die Worte. Es war kein Zufall? „Du hast mich gerettet?“

Sie nickte. „Aber du hast geweint, statt dich zu freuen. Beim zweiten Mal kam ich an Bord.“

„Danke.“ Er dachte nach. „Ich habe von dir geträumt.“

Sie nickte wieder. „Ich weiß. Bist du nun wieder glücklich?“

„Hmm.“ Die Frage kam unerwartet.

„Du wirst morgen sicher die Küste erreichen. Das ist dein Ziel, also müsstest du glücklich sein.“

„Wie erkläre ich das…“ Er stockte. „Ich bin gerne in der Karibik. Aber ich mag die Zeit auf See fast noch mehr. Ich weiß nicht, was mit diesem Boot passieren wird. Vielleicht kann ich es nicht behalten. Ich weiß nicht, wie es dann weiter geht.“

„Es ist dein Boot.“ In ihrer Stimme lag der feste Glaube, dass sich die Welt nach ihr richten würde. Vielleicht tat sie das wirklich.

„Dann bin ich glücklich.“

Sie lächelte. „Morgen wirst du die Küste erreichen. Vergiss mich nicht.“

„Magst du nicht noch etwas bleiben? Vielleicht zum Essen?“

„Je länger ich bleibe, um so länger wirst Du mich vermissen, wenn ich wieder fort bin. Wartet keine Frau auf dich?“

Er schüttelte den Kopf. Sie sah ihn an und sagte leise „Du solltest jemanden haben.“ Wachilt schaute zum Horizont. „Sie steht an einem Flussufer und sehnt sich nach der See.“

Er sah sie verwirrt an. „Wer?“ Sie wies nach Südwesten. Er holte seine Karten und sie zeigte es ihm. „Rio Dulce. Guatemala.“ Er sah das Deck entlang und nickte. „Das soll ein guter Ort für eine Überholung sein.“

„Ihr werdet euch finden.“

Ohne weiter darüber nachzudenken, war seine Entscheidung getroffen, dass die Reise weiter ging.

„Ich werde sie suchen. Werden wir uns wiedersehen?“

„Vielleicht.“ Sie umarmte ihn und sprang über Bord. Wieder sah er einen schillernden Fisch in der Tiefe verschwinden und schaute ihr noch lange hinterher.

Später schrieb er ins Logbuch „Wachilt besuchte mich wieder. Ich werde zum Rio Dulce fahren, um das Boot zu überholen.“

Leise sagte er zu sich. „Wenn das morgen noch da steht, habe ich es nicht geträumt.“


16. Seetag

Er wurde schon vor dem letzten Weckalarm der Nacht wach und schaute in der Dämmerung nach der Küste, aber sah noch nichts. Also gab es den üblichen Rundgang nach dem ersten Kaffee.

Als er seinen Logbucheintrag machte, musste er schmunzeln. Der gestrige Eintrag stand noch drin. Wachilt war also real. Das Schild hing auch immer noch an der Wand. Oder er war real mental krank.

Gegen Vormittag kam die Küste in Sicht. Er sah ein Boot der Küstenwache und ergriff die Gelegenheit beim Schopf, sie nach dem Vorgehen zu fragen. Wie zu erwarten, kamen Mitarbeiter an Bord. Es dauerte einige Zeit, bis sie die Geschichte verstanden hatten. Die unlesbare Registrierung war kein neues Problem für sie. Nach etwas Schrubben am Heck benutzten sie Papier und Bleistift, um die Rumpfidentifikation sichtbar zu machen. Einige Zeit später bekamen sie die Auskunft, dass das Schiff nach einem Sturm in Spanien vor einem halben Jahr als vermisst gemeldet wurde. Er sollte sich mit der zuständigen Versicherung in Verbindung setzen, um den Status zu klären, und sich dann erneut bei ihnen melden.

Wie sich zeigte, war der Verlust ausbezahlt worden und das Boot gehörte nun formal der Versicherung. Nachdem er erklärte, es voller Regenwasser aufgefunden zu haben, einigten sie sich, dass er es als wirtschaftlichen Totalschaden übernahm und damit von keiner Seite mehr Ansprüche bestanden. Damit hatte er wieder ein Boot. Nachdem er die Unterlagen erhielt, registrierte er es und schrieb die Haftpflichtversicherung auf das neue Boot um. Wachilt behielt Recht: Es war sein Boot.

Konnte es so einfach sein? Nicht ganz. Die Küstenwache verpflichtete ihn, nun wo der Status geklärt war, die korrekte Flagge zu führen und eine lesbare Registrierung anzubringen. Es verlief nicht ohne die Belehrung über Fristen und mögliche Strafgebühren. Hatte er illegale Waren an Bord? Das Formular sah kein Feld für „weiß ich nicht“ vor. Er wusste es aber wirklich nicht. Die Mitarbeiter vom Zoll durchsuchten alles und entschieden sich dann für „nein“. Sie prüften das Logbuch und er musste erklären, was es mit Wachilt auf sich hatte. Zwei junge Mitarbeiter sahen ihn wie einen Geisteskranken an und grinsten. Der Älteste schwieg die ganze Zeit und sagte schließlich „Mein Großvater erzählte mir als Kind von so einem Wesen, was hier anders heißt. Ich hielt es immer für eine Seemannsgeschichte, aber ich möchte nicht ihren Zorn auf mich ziehen.“ Die zwei Jüngeren lachten, aber er hatte es plötzlich eilig, alles als in Ordnung abzustempeln und das Boot zu verlassen.


Vier Wochen später saß er abends müde von der Arbeit am Boot mit anderen Seglern zusammen zwischen den Booten. Der Preis für die günstige Werftzeit in Guatemala war die Hitze, die die Arbeit viel schwerer machte.

Die Versicherung wusste vermutlich aus Erfahrung, was er nun erst entdeckte: Jede Menge Schäden durch die Regenlecks. Er würde bestimmt noch ein paar Monate bleiben. Die Geschichte vom wirtschaftlichen Totalschaden klang nach einem Versicherungsmitarbeiter, der keine Lust hatte, einen abgewickelten Fall neu aufzurollen, aber es war die Wahrheit, wenn man jemand bezahlen müsste, um das Boot zu reparieren. Andererseits war der Rumpf viel solider als bei seinem alten Boot. Er dachte an die Kielbolzen, die nun auf dem Grund des Atlantiks weiter rosten konnten. Dieses Boot hatte keinen geschraubten Kiel und keine geklebten Rippen.

Beim Ausräumen des Bootes fand er unten in der Bilge Dosenwürstchen und andere Konserven, die dem Zoll vermutlich einen Herzinfarkt beschert hätten. In der abendlichen Runde wurde alles erfreut verspeist. Ein anderer Segler sprach ihn an. „Suchst du Crew? Irma fragte mich heute wieder nach einem Platz.“

„Wer ist Irma?“

„Du bist noch nicht lange hier, oder? Sie arbeitet im Lebensmittelgeschäft.“ Er lachte. „Klar, wer die Bilge voller Würstchen hat, war noch nicht einkaufen.“ Alle lachten laut. „Du musst mal hingehen. Solches Obst wie hier hast du noch nicht gesehen.“




Er sah Irma an. „Den Rest der Geschichte kennst du. Nun weißt du, woher ich wusste, dass du am Flussufer stehst und von der See träumst.“

Irma nickte langsam. „Es gibt Legenden von halb menschlichen Fabelwesen, die im Wasser leben. Vor ein paar Wochen trennten mein Freund und ich uns. Ich stand abends wieder am Fluss, aber dieses Mal weinte ich, weil mich nun nichts mehr hier hielt. Ich träumte von einem Fisch, der mich tröstete. Was für ein seltsamer Traum. Seitdem frage ich nach einem Platz als Crew auf einem Boot. Und dann kommst du in den Laden und lädst mich als Antwort zum Essen ein.“

Er schmunzelte. „Als ich dich sah, wusste ich, dass Wachilt dich meinte.“ Er sah auf das Wasser. „Danke.“ Eine Welle verriet die Bewegung eines großen Fisches unter der Oberfläche.

 

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