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Wahn

Seniors
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21.08.2005
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Wahn

Isolation is not good for me
Fool’s Garden, Lemon Tree

Der hellsichtig begabte Martin Olm verließ an einem verhangenen Sommermorgen im Ostseebad Blintz seine Wohnung und ging durch die Straßen des kleinen Ortes, vorbei an unzähligen Fischgeschäften, Restaurants, Eisdielen, kleinen Kramläden und Supermärkten, runter an den Strand, wo sich an der Promenade seine Imbissbude befand. Er dachte darüber nach, wie sehr sich Blintz verändert hatte, seit er damals, vor gut 30 Jahren hergezogen war. Der einst kleine, unauffällige Ort war zu einem wahren Touristennest mutiert. Und einem teuren noch dazu. Hier hatte man, neben den obligatorisch horrenden Park- und Essenspreisen sogar eine sogenannte Strandgebühr für die „Nutzung des Strandes“ zu entrichten. Ein Strandkorb kostete natürlich noch einmal extra.
Man konnte aber auch sehen, wo das Geld hinfloss, denn die Stadt hatte z. B. die normalen Steinplatten der Promenade und der kleinen Mauer, die die Promenade vom Strand trennte, durch glatten, roten Marmor ersetzt, und man konnte sich jetzt sogar Platten des Fußweges „kaufen“. Man spendete der Stadt eine großzügige Summe, konnte sich dafür seinen Namen in eine Messingplatte einstanzen lassen und diese Platte wurde dann auf der Promenade gegen eine gewöhnliche Steinplatte ausgetauscht. Während Martin nun die Promenade entlanglief, fiel ihm wieder so eine neue ins Auge:

Heidi & Gert Dorn
Berlin
2007

Martin lächelte und schüttelte den Kopf. Das Ganze war so sinnlos, wie Geld für ein Hoch oder ein Tief zu bezahlen, damit man seinen Namen in den Nachrichten hören konnte, oder für die Benennung irgendeines unwichtigen, unendlich weit entfernten und wahrscheinlich schon längst erloschenen Sterns. Naja, wer zuviel Geld hat, dachte Martin.
Jedenfalls hatte sich Blintz zu einem Schickimicki-Urlaubsort für Reiche entwickelt.
Martins Blick fiel auf die Seebrücke. Früher war er mit dem Fahrrad auf ihr herumgefahren. Heute konnte man sich auf ihr nur noch von den Menschenmassen mitziehen lassen. Sogar jetzt schon, so früh am Tag, waren viele Leute am Strand unterwegs.
Martin war froh, dass seine Wohnung eine Eigentumswohnung war, die er damals billig gekauft hatte, ebenso wie die Imbissbude. Aufgrund der Popularität des Ortes würde er für beides einmal viel Geld bekommen, wenn er jemals von hier fortziehen sollte. Und wenn das so weitergeht, dauert das nicht mehr lange, dachte er.
Er war nun angekommen, rollte die Rollläden seiner Imbissbude hoch, schaltete die Grills und die Fritösen ein, holte Pommes aus dem Tiefkühlfach unter der Arbeitsfläche, stellte Plastikgabeln und Servietten bereit und stellte dann seine Schilder nach draußen (POMMES 2€, CURRYWURST 2,50€, THÜRINGER 2,50€, GYROS 5€, HÄHNCHEN 4€, und so weiter). Auf einmal sah er hoch zum Himmel. Es war zwar warm, aber neblig und bewölkt. Später würde es mit Sicherheit regnen, was weniger Kunden bedeutete. Aber da war noch etwas Anderes. Etwas auf seiner Sechster-Sinn-Ebene.
Ein merkwürdiges, sibyllinisches Gefühl, wie ein leichtes Ziehen, entwickelte sich über seinem Bauch. Ja, er war hellsichtig. Er wusste Dinge über Menschen, wenn er sie sah, die er eigentlich gar nicht wissen konnte. Er hatte eine gewisse Begabung, das ließ sich nicht leugnen, doch Martin glaubte eher, dass das eine Fähigkeit war, die er nur sehr weit entwickelt hatte. Er liebte es, Menschen zu beobachten und zu studieren, das hatte er schon als Kind gerne getan. Für ihn waren die Menschen mit Abstand die interessanten Tiere auf diesem Planeten. Vielleicht hatte sich diese Gabe sein ganzes Leben lang entwickelt, vielleicht war sie nur deshalb so ausgeprägt. Er war eben empfänglicher für unterschwellige Botschaften, unbewusst ausgesandte Signale und Verhaltensmuster und –regeln als die meisten anderen Menschen und wusste sie zu interpretieren. Jeder Mensch hatte diese Grundlage, und er hatte es eben verstanden, sie auszubauen. Er hatte diese Gabe – gut, manche Menschen waren intelligenter als andere, manche sensibler. So war das eben. Er hatte diese Fähigkeit, also nutzte er sie, wenn sich die Gelegenheit ergab. Es war interessant, Menschen ohne ihre Masken zu sehen – und eine Maske hatte wirklich jeder – und jeder Mensch hatte eine eigene Geschichte. Und Martin liebte Geschichten.
Also, was war das für ein Gefühl, das er jetzt verspürte, während er seinen Blick über Blintz wandern ließ, das nach hinten, ins Landesinnere anstieg, sodass es aussah, als säße Blintz in einem Kino und das Meer wäre die Leinwand? Der Ort schälte sich Schicht für Schicht aus dem Nebel, die hintersten Hochhäuser konnte Martin nur als Schemen ausmachen, und das auch nur, weil er genau wusste, wo sie standen. Er schaute wieder in den Himmel. Einfarbiges Grau. Vielleicht liegt es einfach nur an dem Wetter, dachte er und ging wieder in seinen Imbiss.


Frank Hünecke, Hausmeister eines der hintersten Hochhäuser in Blintz, in dem er auch wohnte, kam frischgeduscht aus dem Bad und ging in die Küche, um Frühstück zu machen. Er nahm Brot und Aufschnitt aus dem Kühlschrank, schaltete den Wasserkocher an, um Tee zu machen, und stellte zwei Teller auf den Tisch. Dann nahm er Messer aus der Schublade und legte das erste neben den einen Teller. Gerade als er das zweite neben den anderen legen wollte, hielt er inne. Scheinbar ohne jegliche Gefühlsregung, automatisch wie ein Roboter, legte er es wieder zurück in die Schublade. Mechanisch beendete er das Ritual des Frühstücksvorbereitens, setzte sich und aß, wobei er die ganze Zeit über auf den zweiten Teller starrte ohne zu merken, wie ihm Tränen die Wangen herunterliefen.
Sophia, seine Freundin, für die der zweite Teller und das zweite Messer gedacht waren, war vor drei Monaten gestorben. Seine Sophia, der Engel, der ihn, den Gefallenen, aufgefangen hatte.
Frank hatte Schulden gehabt. Große Schulden. Man hatte ihn aus seiner Wohnung geworfen und er wurde zum Penner. Wie um das Klischee zu vervollständigen, verfiel er dann auch noch dem Alkohol. Doch dann begegnete er Sophia, und Sophia hatte irgendetwas Schönes in ihm gesehen, etwas Gutes, das ihr gefiel, obwohl Frank sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was das war, und nahm sich seiner an. Er durfte bei ihr wohnen, bekam sein Alkoholproblem durch ihre Hilfe in den Griff, und schließlich besorgte sie ihm noch diese Arbeit als Hausmeister. Dann zog sie zu ihm in seine Hausmeisterwohnung und sie waren so glücklich miteinander, dass sie sogar anfingen, Hochzeitspläne zu schmieden.
Eines Tages war Sophia dann einkaufen gegangen und nicht wiedergekommen.
Frank erhielt einen Anruf. Jemand hatte gesehen, wie Sophia aus dem Schuhgeschäft Salamander gekommen war und beim Überqueren der Kirchenstraße von einem Auto erfasst worden und sich mehrmals überschlagend mehrer Meter weiter auf die Kreuzung Kirchenstraße - Theodor-Klinkforth-Straße geschleudert worden war, wo sie von einem anderen Wagen, der keine Chance mehr gehabt hatte, zu bremsen, überfahren wurde. Sophia war sofort tot.
Der Fahrer des ersten Wagens sagte aus, er wäre gerade mit seinen Hunden im hinteren Teil des Wagens zugange gewesen. Sie wären unruhig gewesen und er hätte versucht, sie zu beruhigen, als ihm diese Frau direkt vors Auto gelaufen sei.
Franks Welt brach zusammen. Die ersten Tage nach dem Unfall konnte Frank nicht weinen und dafür hasste er sich. Er benahm sich ganz normal, grüßte die Mieter, tat alles was er sonst auch tat und organisierte sogar die Beerdigung. Er suchte ein Kleid für Sophia aus, ebenso einen Sarg und einen Grabstein und er schrieb eine kleine Rede, die er halten würde. Aber er tat es mechanisch, routiniert. In Wirklichkeit war sein Ich gar nicht anwesend.
Am vierten Tag, bei der Beerdigung, brach es über ihn herein, dann jedoch mit der Wucht eines abrutschenden Gletschers. Als der Sarg in die Erde gelassen wurde und eine Handvoll Erde symbolisch auf ihn fallengelassen wurde, passierte es. Es war das Geräusch des Sandes, der auf das lackierte Holz fiel. Es schraubte sich durch seine Ohren in seinen Schädel und wurde von den Wänden zurückgeworfen, verstärkt und verzerrt. Dieses Geräusch war es, das ihm die Endgültigkeit klar machte. Sophia schlief nicht, sie war nicht verreist, sie lag auch nicht für eine Weile verletzt im Krankenhaus, nein, sie war tot. Sie war fort, würde nie mehr wiederkommen, würde nie mehr mit ihm lachen, mit ihm weinen, mit ihm essen, mit ihm Zähneputzen, mit ihm schmusen, mit ihm schlafen. Nie wieder. Er sank auf die Knie, knickte ein wie ein Grashalm, über den man einfach drüberläuft.
Frank konnte nichts mehr essen, nichts mehr trinken, nicht mehr schlafen, nichts mehr tun. Er befand sich in einem sumpfigen Dämmerzustand. Er war eine Maschine, die nur noch irgendwie funktionierte und auf Bereitschaftsmodus lief. In seinen Augen konnte man Hier ist gerade niemand zu Hause lesen. Und er weinte. Stundenlang, ohne Pause. Frank fiel in ein bodenloses, schwarzes Loch, er lag nur noch zu Hause auf dem Sofa, dämmerte vor sich hin, weinte. Manchmal stand er tagelang nicht auf. Er schottete sich von den anderen Menschen ab, mied sie, ignorierte sie. Sie lebten in ihrer eigenen, heilen Welt, nicht in seiner. Seine Welt war kaputt und in ihr war niemand außer ihm selbst und die Erinnerung an Sophia. Er war einsam. Jetzt, als Sophia weg war (sie war nicht tot, sie war immer nur weg), hatte er niemanden mehr. Seine Eltern waren schon tot (weg) und seine sogenannten „Freunde“ waren auf einmal nicht mehr da gewesen, als es mit ihm bergab ging. Er war allein unter einer anderen Spezies. Er verkümmerte geistig und körperlich, hatte keinen Kontakt mehr zu anderen Menschen, las nichts, sah nicht fern, bewegte sich nicht. Er dachte nur an Sophia.
Und an Kinder.
Sophia und er hatten sich so sehr Kinder gewünscht, doch es funktionierte nicht, so sehr sie es auch versuchten. Sie waren sogar bei einem Arzt der sie beide untersuchte. Er fand nichts und meinte, es sei alles in Ordnung. Er riet ihnen, sich nicht unnötig unter Druck zu setzen und es ganz ruhig angehen zu lassen.
Es funktionierte nicht. Nicht jedem wurde das Glück geschenkt, Kinder haben zu dürfen.
Hier im Haus gab es Kinder. Ein Mädchen und drei Jungen. Die vier waren immer zusammen. Doch seit Sophia weg war, so kam es Frank vor, lachten ihn diese Kinder aus. Ja, er sah sie manchmal miteinander tuscheln, und wenn sie ihn bemerkten, lachten sie immer. Besonders das Mädchen. Es war am Größten von den vieren und hatte lange Zöpfe. Frank vermutete, dass sie auch die Gehässigste von ihnen war. Doch warum lachten sie ihn aus? Weil Sophia weg war? Weil sie beide keine Kinder bekommen hatten? Kinder können grausam sein. Wer konnte schon sagen, was in ihren Köpfen vor sich ging? Am allerwenigsten wahrscheinlich sie selbst. Frank erinnerte sich an seine Kindheit und die Flusen, die er immer im Kopf hatte. Und dennoch …
Neuerdings manifestierte sich immer öfter ein erschreckender Gedanke in seinem Kopf: Was, wenn sie ihn auslachten, weil sie sich ausgesucht hatten, nicht die Kinder von Sophia und ihm, sondern die anderer Paare zu werden?
Verrückt!
Oder vielleicht doch nicht?
Jedenfalls waren ihm die Kinder unheimlich.
Nach den ersten zwei Monaten fing sich Frank wieder etwas. Ihm wurde klar, dass es nicht ewig so weitergehen konnte. Er versuchte, wieder ins Leben zurückzufinden, was ihm auch langsam gelang. Er ging wieder regelmäßiger einkaufen, mied nicht mehr absichtlich andere Menschen und ging wieder seiner Hausmeistertätigkeit nach.
Nach dem Frühstück wusch Frank das Geschirr in der Spüle ab. Nachdem er den Stöpsel aus dem Becken gezogen hatte und das Wasser abgelaufen war, gurgelte und rülpste es noch eine Weile im Abfluss. Das hörte sich nicht gut an. Das Gebäude war alt und besonders das Rohrsystem sollte dringend einmal erneuert werden. Er sollte das mal ansehen lassen.


Martin überreichte einer fetten Frau gerade eine Currywurst mit Pommes. Jeder andere hätte wohl abfällig den Kopf geschüttelt und gehässig gedacht, Ja, friss es in dich rein, du fette Tonne! So siehst du aus! Gute Güte, nimm ab! Nicht aber Martin. Er wusste, dass das Arschloch von einem Mann dieser Frau während ihrer Ehe jahrelang fremdgegangen war. Um die Gefühle seiner Frau hatte er sich einen feuchten Kehricht gekümmert. Er gab die Befehle und außerdem war seine Frau seiner Meinung nach sowieso nur dazu da, um sich um ihre beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zu kümmern. Die Frau, sie hieß übrigens Angelika Liebrenz, hatte ihren ganzen Frust und Kummer zusammen mit Unmengen von Schokolade in sich hineingefressen. Andere Leute fingen an zu trinken oder zu rauchen, und ihr Strohhalm, an den sie sich geklammert hatte, war nun einmal Schokolade gewesen. Deswegen sah Frau Liebrenz jetzt so aus. Martin wusste aber auch, dass sie es nach vielen Jahren, in denen sie buchstäblich durch die Hölle gegangen war, geschafft hatte, sich von ihrem Mann zu trennen und mit ihren beiden Kindern wegzuziehen. Sie kümmerte sich verantwortungsvoll um die beiden und gab alles für sie. Und darüber hinaus noch mehr, wenn es sein musste. Auf den Urlaub hier in Blintz, ihrem Geburtsort, hatte sie über zwei Jahre lang sparen müssen, da ihr Ex-Mann keinen Cent mehr bezahlte als er unbedingt (das hieß gerichtlich verfügt) musste. Sie hatte auch abgenommen, schon über 25 Pfund, nachdem sie unzählige Diäten ausprobiert hatte, die bei ihr alle auf Dauer nichts halfen, doch inzwischen hatte sie ihren Weg abzunehmen (es handelte sich um eine Hüttenkäsediät) entdeckt und ging ihn mit bewundernswertem Durchhaltevermögen.
Sie hatte es geschafft und nun war sie hier, gönnte sich diesen Urlaub und diese Currywurst mit Pommes.
Martin schenkte ihr sein schönstes, ehrlichstes Lächeln und sagte:
„Lassen Sie sich’s schmecken!“ Die Frau lächelte ebenfalls, etwas unsicher, und bedankte sich.
Inzwischen war Daniel gekommen. Daniel war 26 Jahre alt und half Martin bei der Imbissbude. Als es in Blintz voller und voller wurde, bekam Martin so viele Kunden, dass er eine Hilfskraft brauchte und Daniel einstellte, der ihm von Anfang an sympathisch gewesen war.
„Salve, Adlatus!“, rief Martin ihm gutgelaunt zu.
„Moin, Chef“, gähnte Daniel.
„Na, haben wir ausgeschlafen?“
„Naja, ich hätte noch ein bisschen gekonnt.“
Die meisten wissen gar nicht, was sie für ein Tempo haben könnten, wenn sie sich nur einmal den Schlaf aus den Augen rieben.“
„Ah, Christian Morgenstern; die Stufen!“
„Sehr gut.“ Sie lachten.
„Aber ich sage: Sei mir willkommen, süßer Schlaf, ich bin zufrieden, weil ich brav.“
„Das ist leicht! Wilhelm Busch; Maler Klecksel“, sagte Martin.
„Nicht schlecht, alter Mann.“
Alter gibt Erfahrung“, grinste Martin. Daniel verdrehte die Augen.
„Ovid.“
„Richtig.“ Sie lachten wieder.
Jugend hat viel Herrlichkeit, Alter Seufzen und viel Leid.“ Martin prustete los und winkte ab.
„Genug, komm, jetzt ist’s genug. Von wem ist das?“
„Ist aus Parzival von Wolfram von Eschenbach.“
„Ach so, ok. Kenne ich nicht, ist mir zu negativ.“ Er zwinkerte Daniel zu.
Manchmal unterhielten sie sich den ganzen Tag über betont schöngeistig oder schmissen sich Zitate an den Kopf. Manche Kunden kamen allein aus dem Grund, um ihnen zuzuhören und zu lachen.
Martin bat Daniel, zu übernehmen und ging dann raus zu den Toiletten.
Als er wieder in den Imbiss zurückgehen wollte, überkam ihn wieder dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er horchte in sich hinein. Ja, da war etwas. Etwas würde heute passieren. Etwas Schlimmes. Plötzlich bemerkte er, dass er sich umgedreht hatte und wieder die Hochhäuser anstarrte, von denen er vorhin nur die Schemen hatte ausmachen können und die jetzt gut sichtbar waren.
Dort?

Es half nichts, im Moment bekam er nicht mehr heraus. Er betrat wieder den Imbiss.
„Frittierte, etwa fingerlange Stäbchen, ursprünglich aus Belgien und Frankreich, werden gewünscht“, rief Daniel ihm zu. Martin sah, dass schon drei Leute schlangestanden.
„Ah oui, mon ami, ce n’est pas un problème“, sagte er, riss einen Beutel mit tiefgefrorenen Pommes auf und schüttete sie in die Fritöse. Als das Fett anfing heiß zu werden und zu blubbern, entstand plötzlich ein Bild vor seinem inneren Auge. Es handelte sich um eine Zeitung, genauer gesagt der BILD, wie er an dem Logo oben links sehen konnte. Das „Blut-und-Busen-Heft“, wie sein alter Herr, Gott hab ihn selig, es immer genannt hatte. Eine Überschrift aus roten Lettern auf schwarzem Grund mit Schriftgröße mindestens 120 schrie ihn an: BLUTBAD! ER (darunter das Bild eines Mannes, dessen Augenpartie geschwärzt worden war) SCHLACHTETE IN DIESEM HAUS (wieder ein Bild, doch es war unscharf und verschwommen, sodass Martin nichts darauf erkennen konnte) MIT EINER AXT 4 KLEINE KINDER AB! (vier kleine Bilder mit vier lächelnden, knuffig süßen Kindern) Martin erschrak und das Bild verschwand wieder.
Was zum …? Was war das? Solche Bilder hatte er schon oft gehabt, aber niemals so leicht und schnell und so … aufdringlich. Es war, als würde er direkt angesprochen werden. Etwas (vielleicht Gott?) wollte ihn auf etwas aufmerksam machen. Anscheinend würde jemand vier Kinder umbringen und er, der alte Sack, der eh nichts zu tun hatte, außer in seiner Imbissbude herumzustehen, anstatt seine Gabe zu nutzen (hallo!), sollte das verhindern. Aber wo? Und warum? Und wann? Martin musste grinsen. Willst du jetzt den Superhelden spielen, oder was?, dachte er
„… Martin!“
„Was?“
„Alles in Ordnung mit dir?“
„Ja. Ja, ich war nur kurz abwesend.“
„Ok, vier Portionen, drei mit Würzsauce aus Tomatenmark, Essig, Zucker, Speisesalz und Gewürzen und eine mit einer dickflüssigen, kalt hergerstellten Sauce auf der Basis von Eigelb und Öl, beziehungsweise Wasser, Lecithin und Fett.“
„Aye, Sir.“ Martin machte sich daran, die Pommes abtropfen zu lassen, zu würzen, sie auf Pappschälchen zu verteilen und Kleckse Ketchup oder Majo draufzudrücken. Das flaue Gefühl blieb und er fühlte sich schlecht.


Nach dem Frühstück fuhr Frank mit dem Fahrstuhl runter in den Keller. Er stieg aus, schaltete den Lichtschalter, gleich neben einem Metallkasten mit einer Glasscheibe, in dem sich ein Feuerlöscher und eine Axt für Notfälle befanden, ein, und ging dann weiter den Gang entlang. Er hatte sich hier, in einem Raum, der keine weitere Funktion hatte, als ein paar Geräte zu beherbergigen (Reinigungsmaschinen und Zubehör), eine Art Altar aus zwei versetzt aufeinandergestapelten Kartons gebaut. Über die Kartons hatte er ein schwarzes Samttuch gebreitet. Ganz oben, wie der Stern auf einem Weihnachtsbaum, befand sich ein Foto in einem goldenen Rahmen. Es war das Portrait einer Frau mit großen, braunen Augen und schulterlangem, glänzendem, brünettem Haar. Ihr Lächeln entblößte gesunde, weiße Zähne. Die kleinen Lachfalten an den Mundwinkeln und der warme Blick ihrer Augen vermittelten Liebe, Vertrauen und Sinn für das Gefühlsmäßige. Sophia war eine echte Schönheit gewesen. Auf den Ecken und den Rändern der Kartons lagen verschiedene Gegenstände, wie zum Beispiel verschiedene Kosmetikartikel wie Lippenstifte, und Wimperntusche oder Parfüm, eine Lesebrille, ein goldener Ring (das Gegenstück dazu befand sich an Franks linker Hand), eine lustig aussehende kleine schwarze Eule aus Porzellan mit großen weißen Augen, die ein Geschenk gewesen war und Sophia sehr geliebt hatte, ein BH und ein Schlüpfer (beides ungewaschen, unverfälscht). Neben einer kleinen Schale lagen ein Feuerzeug und Räucherstäbchen. Vor diesem Altar lag ein kleiner Teppich.
Dies war der Ort, an dem Frank seit Langem jeden Tag etliche Stunden verbrachte. Der Ort, an dem er seinen Schmerz immer wieder neu entfachte, um nicht zu vergessen, ohne zu begreifen, dass das Vergessen oft ein Schutzmechanismus, ein Segen, war.
Frank schloss die Tür hinter sich ab und kniete sich auf den kleinen Teppich. Er entzündete ein Räucherstäbchen, schloss die Augen und atmete tief ein. Das vertraute Gefühl traumhafter Unwirklichkeit überkam ihn und er ließ sich darin versinken. Nach einer Weile öffnete er die Augen und nahm verschiedene Gegenstände in die Hand, betrachtete sie, betastete sie. Manchmal roch er an dem BH und dem Slip, obwohl Sophias Geruch daran längst verflogen war, oder er verspritze etwas von ihrem Parfüm, ohne davor Räucherstäbchen anzuzünden, doch das tat er nicht sehr oft, denn jeder Tropfen dieser Flüssigkeit war wertvoller als alles, was er kannte. Er konnte natürlich in einen Laden gehen und sich dieses Parfüm literweise kaufen, aber dann wäre es nicht von ihr. Dann betrachtete er meistens das Foto und richtete alle Gedanken auf Sophia. Er riss alte Wunden auf, erinnerte sich an unzählige Erlebnisse, die sie zusammen erlebt hatten und badete in Trauer und Schmerz. Manchmal fing er dabei an, vor sich hinzusingen, einen merkwürdigen, unmelodischen Singsang und begann, vor und zurück oder seitlich zu wippen, wie ein Autist bei Aufregung.
Ab und zu vertiefte er sich bei dieser Meditation so sehr, dass er wirklich glaubte, wieder bei Sophia zu sein. Er sah sie, wie sie sich bewegte, was sie tat und konnte sogar ihre Stimme hören. Wie im Traum. Frank spürte nun, wie er langsam wegdriftete, hinüber zu Sophia. Es war, als läge man im Bett und schien langsam vornüber zu kippen, kurz bevor man einschläft. Er schloss die Augen, ließ sich fallen … und plötzlich hörte er etwas. Gelächter. Gelächter … von Kindern! Verärgert riss er die Augen auf. Alles Traumhafte löste sich in Fetzen auf, verschwand, und es blieb nur der kahle Raum mit seinem selbstgebastelten Altar. Diese Kinder! Wütend suchte Frank den Raum mit den Augen ab. Es gab hier kein Fenster, schließlich war dies der Keller. An den Wänden liefen Rohre entlang. Die Tür schloss gut, von da konnte der Schall nicht kommen. Halt … die Rohre! Frank stand auf und ging zu ihnen hinüber. Es waren ziemlich viele, bestimmt über zehn. Ein paar waren noch relativ neu, doch die meisten waren alt und manche wurden sogar nicht mehr genutzt. Sie waren nur noch da, weil man die Wände hätte aufbrechen müssen, um sie herauszuholen. Da war es wieder, das Lachen! Es kam von etwas weiter rechts. Frank untersuchte die Rohre. Plötzlich sah er eins, das schon uralt und ganz verrostet war. Er sah genauer hin und bemerkte, dass es sogar schon Löcher hatte.
„He, wer ist da?“, rief er in eins der Löcher. Wieder platzte gedämpftes Gelächter los. Frank konnte jetzt genau hören, dass es aus diesem Rohr kam. Wut stieg in ihm auf. Diese verdammten Kinder! Er konnte sie förmlich vor sich sehen, wie sie sich woanders an das Rohr drängten, ihn bei seinem merkwürdigen Gesang belauschten und dabei ihre ach so süßen Patschihändchen vor ihre dreckigen Münder hielten, um nicht laut loszulachen. Sie waren in sein Heiligstes, in sein Refugium eingebrochen. Sie hatten ihn belauscht, wie er versuchte hatte, Kontakt zu Sophia aufzunehmen. Sie hatten den Zauber zerstört, in Zukunft würde er immer an die Blagen denken müssen, wenn er vor seinem Altar kniete.
Im Geiste sah er, wie aus den Köpfen der Kinder Hörner wuchsen, wie sich ihre Augen schwarz färbten und ihre Eckzähne länger wurden. Auch ihre Zungen verlängerten sich und teilten sich an der Spitze, wie bei Schlangen. Rote Schwänze mit dreieckigen Spitzen kamen aus den Hosen zum Vorschein und die Füße verwandelten sich in Hufe. Dämonen! Das waren sie! Diese Biester waren nicht menschlich. Sie waren aus der Hölle gekommen, von dem geschickt, der Sophia geholt hatte, um ihn zu demütigen und zu quälen. Seine Wut stieg ins Unermessliche.
Er dachte fieberhaft nach. Das Rohr führte nach nebenan in den Fahrradkeller. Von da aus musste es in der Wand verschwinden, denn dann kam schon die Außenwand des Gebäudes. Das bedeutete, dass die Biester im Fahrradkeller sitzen mussten! Es sei denn, das Rohr führte an anderer Stelle noch einmal aus der Wand, aber das war unwahrscheinlich. Schnell und leise schloss er die Tür auf und verließ seinen Altarraum. Er schlich zur Fahrradkellertür und legte ein Ohr daran. Bingo! Er hörte gedämpftes Gekicher. Sehr gut. In seinem Hirn nahm ein Plan Gestalt an. Er schlich weiter Richtung Fahrstuhl bis zu dem Kasten mit dem Feuerlöscher und der Axt. Er holte seinen Hausmeisterschlüsselbund heraus und suchte den Schlüssel für den Kasten. Natürlich konnte er auch einfach das Glas einschlagen, aber das würden die Dämonen bestimmt hören und versuchen, zu fliehen. Dieses Risiko wollte Frank nicht eingehen. So kleine Biester waren verdammt flink und wer weiß, vielleicht hatten sie ja übernatürliche Kräfte. Aber er musste sich auch beeilen, bevor die kleinen Scheißer merkten, dass er gar nicht mehr in dem Raum war. Schließlich fand er den passenden Schlüssel, schloss den Kasten auf und nahm die Axt von ihren Haken. Das Sicherheitssiegel zerriss. Frank drehte sich um. Er würde diese Ausgeburten der Hölle zurück zu ihrem Herrn und Meister schicken.
In dem Fahrradkeller gab es keine zweite Tür, also saßen sie in der Falle! Er spürte das schwere, angenehme Gewicht der Axt in seinen Händen. In seinem Kopf wütete ein Tsunami. Wut raste und trampelte alles nieder,
was auch nur im Entferntesten nach Vernunft aussah. Auf Franks Gesicht hatte sich ein irres Grinsen ausgebreitet. Vorsichtig, wie ein Jäger, der sich seiner Beute nähert, schlich er zur Fahrradkellertür.


Martin fühlte sich hundsmiserabel. Sein Innerstes war erfüllt von einer Kakophonie, wie zwei Schwingungssender, die nur fast auf derselben Frequenz lagen. Inzwischen hatte er neue Dinge gesehen: Liebe, viel Schmerz und Trauer, etwas, das mit Schwangerschaft und Kindern zu tun hatte, und … Wahnsinn. Er wollte raus, etwas zog ihn fort. Im Moment waren kaum Kunden da, denn der Himmel hatte sich noch mehr zugezogen.
„Kommst du eine Weile allein klar?“, fragte er Daniel.
„Ja klar, warum? Was ist los?“
„Ich hab’ da hinten ’ne scharfe Braut gesehen.“ Daniel hob eine Augenbraue.
„Nein, Mensch, ich will nur ’nen Spaziergang machen.“
Aber bereits mit uns ist der Regen, schüttelt die stille Luft!“, sagte Daniel.
„Salvatore Quasimodo. Ach, das ist nicht so wild. Und außerdem: Dem Pechvogel regnet es auf den Arsch, auch wenn er sitzt. Bis dann!“
„Ok, wie du meinst. Bis dann.“ Martin wusste, dass Daniel sich Sorgen um ihn machte. Wahrscheinlich sah er auch nicht allzu gut aus. Aber das war in Ordnung, sie beide respektierten sich. Wenn einer von ihnen ein Problem hatte, konnte er damit jederzeit zum anderen kommen, das wussten sie beide. Sie mussten es aber nicht. Wenn sie es nicht taten, sondern für sich behielten, war das genauso in Ordnung. Schließlich waren sie beide erwachsene Männer.
Martin verließ den Imbiss und zog seine Jacke zu. Wie selbstverständlich wanderte sein Blick wieder hoch zu den Hochhäusern in der Ferne, die sich vor dem dunkelgrauen, fast schwarzen Himmel düster abhob. Ein Wort ging Martin durch den Kopf: Unheilsschwanger. Er fröstelte. Dann marschierte er los. Wohin – das wusste er selbst nicht genau, aber er machte sich keine Sorgen, dass seine Ahnung, die ihn nun lenkte, ihn sich verlaufen lassen würde. Er ging durch die Fußgängerzone, die sich stetig leerte, vorbei an dem Friedhof, der immer so friedlich dalag, ein Ort der Ruhe in dem ganzen Trubel, vorbei an der Kirche, an Geschäften, einer Videothek (Hannibal Rising, Number 23, SAW III), einer Bank, einer Postfiliale, einem Supermarkt (AUCH SONNTAGS GEÖFFNET 7-13 UHR). Neue Bilder stürzten auf ihn ein. Da war etwas mit Autos – Verkehr … Schmerz und Schuld – Ein Autounfall? Tod …
Es fing an zu regnen. Erst ganz leicht, vereinzelte kleine, langsame Tropfen, doch dann schnell zunehmend, viele große, dicht an dicht herabschießende Geschosse. Ein peitschender Regenschleier, dicht wie starker Nebel, verhüllte Martins Umgebung und reduzierte seine Sichtweite auf ein paar Meter. Er duckte sich tiefer und steckte den Kopf zwischen die Schultern. Ohne es richtig zu merken war er fast den ganzen Ort hochgegangen. Er näherte sich den Hochhäusern. Als er losgegangen war, hatte er schon fast gewusst, dass es hier war, was auch immer „es“ war. Ein Blitz zuckte und es donnerte ohrenbetäubend laut. Wassermassen ergossen sich aus dem Himmel. Martin ging schnell die Auffahrt zum dem Hochhaus hinauf, von dem etwas in ihm sagte, das ist es, hier bist du richtig, und blieb an dem überdachten Seiteneingang stehen. Er drückte auf alle Klingelknöpfe und einige Stimmen fragten „Ja?“, „Hallo?“, oder „Wer ist da?“ durch die Gegensprechanlage, bevor irgendjemand die Tür freigab. Als Martin das Gebäude betrat, fügte sich das Puzzle in seinem Kopf zusammen.


Frank lauschte kurz an der Tür. Es war kein Gelächter mehr zu hören. Anscheinend hatten diese Kreaturen begriffen, dass er nicht mehr in seinem Raum war. Er legte eine Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Er hatte kurz das Gefühl, dass sie sich leichter herunterdrücken ließ als sonst. Fast wie von selbst. Dann warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür und stieß sie nach innen auf. Da war etwas im Weg, doch durch seine Wucht wurde es einfach weggestoßen. Frank sah, dass es wirklich die Kinder waren, die drei Jungen und das Mädchen, die ihn schon so oft ausgelacht hatten, aber sie hatten sich verändert: Zu den Hörnern, den schwarzen Augen, den Vampirzähnen und den roten Schwänzen waren ihnen lange gelbe Krallen und große, fledermausähnliche Flügel gewachsen. Er hatte den größten Dämon, das Mädchen, mit der Tür erwischt, als es gerade die Tür öffnen wollte. Es war einige Meter zurückgeworfen worden und lag nun auf dem Rücken, auf seinen zitternden Flügeln, hielt sich die Krallen vors Gesicht, unter denen eine schwarzgrüne Flüssigkeit hervorquoll, und stöhnte. Gut so, der erste Dämon war außer Gefecht. Frank wandte sich den anderen zu. Sie standen nebeneinander in ihrer ganzen Hässlichkeit und starrten ihn nur mit ihren schwarzen, leeren Augen an. Einer zitterte am ganzen Körper, die anderen beiden schlugen nur leicht mit ihren membranartigen Flügeln. Wutentbrannt stürmte Frank auf sie los. Fast gleichzeitig stießen sie sich vom Boden ab und flatterten mit lautem flap-flap-flap bis unter die Decke. Dann flogen sie, so gut es die relativ niedrige Decke zuließ, weg von ihm, und er rannte brüllend hinter ihnen her. Der erste Dämon, der so gezittert hatte, nutzte seine Chance, flüchtete in die andere Richtung und versteckte sich bei der Tür. Um aus dem Raum zu fliehen, hätte er die Tür öffnen müssen und das würde der verrückte Mann bestimmt merken, deshalb wagte er es (noch) nicht.
Als Frank die beiden anderen Axt schwingend quer durch den großen Raum gejagt hatte, landeten sie und versuchten, zwischen Fahrräder zu kriechen, um seiner Reichweite zu entkommen. Das war natürlich lächerlich und Frank grinste irre. Er stand breitbeinig vor den Fahrrädern. Die Kreatur vor ihm versuchte, sich noch tiefer zu bücken. Sie hatte ihre ekelhaften Schwingen schützend um sich geschlungen und der rote Schwanz, der darunter hervorschaute, zuckte aufgeregt. Frank hob die Axt und ließ sie heruntersausen. Im letzten Moment trat der zweite Dämon ein Fahrrad um, sodass es auf den ersten fiel und ihn so schützte. Die Axt fuhr mit einem lauten Klonk in den Aluminiumrahmen des Rads und hinterließ dort eine tiefe Kerbe. Frank schrie vor Wut und Enttäuschung auf. Er wandte sich dem kleinen Teufel zu, der das Rad umgetreten hatte. In den schwarzen Augen sah er blankes Entsetzen. Gut so. Er wandte sich diesem Dämon zu.
„Frank!“ Er hatte jemanden seinen Namen rufen hören. Das konnte nicht sein. Unbeirrt hob er die Axt in die Höhe.
„Frank!“ Da, schon wieder.
„Heiliger Strohsack, was tust du da? Hör auf damit!“ Es war eine Männerstimme. Frank drehte sich langsam um. Bei der Tür stand ein alter Mann in nassen Sachen mit einem Feuerlöscher in der Hand und starrte ihn entgeistert an.


Nachdem Martins Gefühl ihn die Treppe nach unten in den Keller gelenkt hatte, hörte er wütendes Gebrüll und sah den offenen Kasten neben dem Fahrstuhl. In ihm befanden sich ein Feuerlöscher und zwei Haken, die bestimmt für eine Axt (die Axt) gedacht waren. Alles fügte sich zusammen. Martin nahm kurzerhand den Feuerlöscher an sich. Vielleicht konnte er ihn noch irgendwie verwenden. Das sagte ihm zumindest die Stimme in seinem Innern. Dann ging er schnell weiter.
Das Gebrüll kam eindeutig aus einem Raum mit der Aufschrift FAHRRADKELLER. Er öffnete die Tür, hörte in diesem Moment ein lautes Klonk und sah den Mann (Frank, er heißt Frank), der, gute Güte, anscheinend mit einer Axt auf Kinder losging, die versuchten, sich zwischen den Fahrrädern vor ihm zu verkriechen. Ein Mädchen lag ein Stück von der Tür entfernt auf dem Boden und hielt sich wimmernd die Hände vors Gesicht. Dunkelrotes Blut quoll darunter hervor. Unter dem Jungen direkt vor dem Mann war ebenfalls etwas Dunkles, aber kein Blut, es musste Urin sein. Der Junge hat sich in die Hose gemacht, dachte Martin. Plötzlich bemerkte Martin neben sich einen dritten Jungen, der sich offenbar bei der Tür versteckt hatte. Als er bemerkte, dass Martin ihn gesehen hatte, nutzte er die Gelegenheit und schlüpfte hinaus.
Die Zeitung, dachte Martin, vier Kinder, drei Jungen, ein Mädchen. In der Zeitung hatte man nicht erkennen können, ob es Jungen oder Mädchen waren, aber es konnte hinkommen. Martin rief Frank zweimal an, doch erst beim zweiten Mal hatte Frank reagiert und sich langsam mit einem maliziösen Lächeln auf den Lippen umgedreht. Jetzt aber wandte er sich wieder ab und hob wieder die Axt.
„Frank!“, rief Martin zum dritten Mal und warf den Feuerlöscher. Frank hörte die Bewegung an Martins Stimme, drehte sich schnell um und versuchte, den Feuerlöscher mit der Axt abzuwehren, was ihm aber nur halb gelang. Beide Gegenstände fielen laut scheppernd zu Boden. Der Feuerlöscher rollte zur Seite.
„Hör auf damit, Frank, verdammt noch mal! Ich weiß, was dir passiert ist.“
„Einen Scheiß weißt du, alter Mann“, knurrte Frank wütend.
„Du hast deine Freundin verloren. Sophia. Ist es nicht so?“ Frank stutzte und wandte sich nun ganz Martin zu. Martin glaubte, einen Funken Vernunft in Franks Augen aufleuchten zu sehen. Gut, das war immerhin ein Anfang.
„Woher…“, begann Frank, doch Martin unterbrach ihn.
„Es war deine wahre Liebe, hab’ ich Recht? Sie war ein großes Stück des Glücks, das das Leben für dich vorgesehen hatte. Sie hat dir aus deiner Lebenskrise herausgeholfen, ihr wart unglaublich verliebt, habt sogar an Heirat gedacht – du trägst deinen Verlobungsring immer noch, wie ich sehe. Dann dieser schreckliche Unfall. Sophia war einkaufen gegangen und wurde dann von einem Auto auf die Kreuzung geschleudert und von einem anderen überfahren.“ Während er redete, registrierte Martin, wie sich Franks Gesichtsausdruck von Wut zu Erstaunen und dann zu Trauer wandelte. Das war gut, es bedeutete, dass er wieder vernünftig wurde.
„Der Augenzeuge sagte aus, er sei sich nicht sicher, aber er glaubte, dass sie aus dem Schuhgeschäft Salamander kam und auf die Straße lief. Das ist falsch, Frank! Sie kam nicht aus dem Schuhgeschäft, sondern aus der Apotheke daneben. Und weißt du auch, warum? Ihr habt doch so sehr versucht, Kinder zu bekommen. Ihr habt es euch so sehnlich gewünscht. An diesem Morgen war Sophia schlecht gewesen, ihr war regelrecht übel! Das war ihr bis zu diesem Morgen noch nie passiert und voller Freude lief sie los in die Apotheke. Dir hatte sie nur gesagt, dass sie zum Einkaufen ginge. Sie wollte dir keine falschen Hoffnungen machen, sie war ja selbst nicht sicher, verstehst du? Sie kaufte sich einen Schwangerschaftsstreifen, du weißt schon, so einen, auf den man draufpinkeln muss. Dann ging sie in die Toiletten im hinteren Teil des Gebäudes, das ist ja da sowas wie eine kleine Einkaufspassage, benutzte den Streifen und wäre vor Freude fast ausgeflippt. Der Streifen hatte sich blau gefärbt! Verstehst du? Sie war schwanger!“ Martin hört ein leises Krächzen aus Franks Kehle.
„Sie lief sofort aus der Apotheke, sie wollte auf der Stelle zu dir, wollte dir die gute Nachricht überbringen. Da achtete sie natürlich nicht besonders auf den Verkehr und lief einfach los auf die Straße! Das soll nicht heißen, dass sie die alleinige Schuld an dem Unfall hatte, aber doch einen Teil. Der Fahrer des ersten Wagens war tatsächlich durch seine Hunde abgelenkt gewesen. Jetzt kommt’s: Während sie durch die Luft geschleudert wurde und sich überschlug, fiel ihr der Schwangerstreifen aus der Hand und fiel in einen Gulli, was der Augenzeuge aber natürlich nicht bemerkt hat.“ Martin hielt kurz inne. Er hatte sich heißgeredet.
„Verstehst du, Frank? Sie war schwanger und keiner, außer ihr, wusste es.“
Während Martin gesprochen hatte, hatte sich Franks Mund langsam zu einem perfekten O geformt. Jetzt starrte er Martin an wie ein Alien, schwankte plötzlich und drohte umzukippen. Schnell sprang Martin hinzu, fing ihn auf und ließ ihn zu Boden.
„Verstehst du?“ Er zeigte auf das Mädchen, das immer noch auf dem Boden lag. Die beiden Jungen waren verschwunden, als er geredet hatte.
„Das sind ganz normale Kinder. Sie wollten dir nichts tun. Du hast dich da in was reingesteigert. Ich weiß von deiner kleinen Gebetskammer nebenan. Das ist nicht gut für dich. Du brauchst Hilfe, Mensch!“ Jetzt fiel alles von Frank ab, die ganze Last der vergangenen Monate, die ganze Trauer, der ganze Schmerz, alles… Kranke. Er begann zu weinen wie ein kleines Kind.
„Sie war wirklich schwanger?“, schluchzte er.
„Ja, sie war schwanger. Und wenn’s dich interessiert: Es wäre ein Mädchen geworden.“ Ein merkwürdiger Laut entrang sich Franks Kehle. Martin vermutete, es war ein Lachen im Weinen.
„Ein Mädchen, ein kleines Mädchen!“, jauchzte er schluchzend. Auf einmal fühlte er sich auf unglaubliche Weise erleichtert und … ruhig. Friedlich. Fast glücklich. Dann fiel sein Blick auf das Wesen am Boden. Es war ein ganz normales Mädchen. Kein Dämon, keine Ausgeburt der Hölle. Es hatte keine Hörner, keine Flügel, nichts. Nur ein ganz normales Mädchen.
„Oh Gott, ist sie …?“ Er wollte sich aufrichten, doch Martin drückte ihn wieder zurück auf den Boden.
„Hey, ähm, ich mach das schon, ok? Ruh dich aus.“
„Ok, ok. Mein Gott, was habe ich getan?!“ Von Frank ging erstmal keine Gefahr mehr aus. Martin ging zu dem Mädchen.
„Hey, ich bin Martin. Wie heißt du?“ Natürlich wusste er längst, dass das Mädchen Tina hieß, aber hier ging es darum, sie zu beruhigen und ihr zu signalisieren, dass sich um sie gekümmert wurde.
„Tina“, sagte sie leise.
„Ok, hallo Tina, zeig mal, tut’s noch sehr weh?“
„Ja, etwas“, sagte sie und nahm die Hände vom Gesicht. Der untere Teil ihres Gesichts und die Nase waren blutverschmiert, ihr Pullover hatte oben einiges an Blut aufgesogen, doch die Blutung hatte aufgehört. Die Nase war gebrochen, das sah Martin sofort. Die Spitze schien fast auf der linken Wange aufzuliegen. Mit der Axt hatte das wohl nichts zu tun. Martin sah vor seinem inneren Auge, wie Frank die Tür aufgestoßen hatte und sie durch den Raum geschleudert war. Nun ja, die Nase ist gebrochen, aber wer weiß, ob da vielleicht noch was anderes passiert ist, dachte er. Wird besser sein, ich hole Hilfe und sorge dafür, dass sie sicherheitshalber geröntgt wird.„Mh, ok. Hör zu, ich telefonier’ kurz mit meinem Handy und dann kommt der Sanitätsdienst und kümmert sich um dich. Wie klingt das?“
„Gut.“ Sie lächelte etwas. Ein gutes Zeichen. Er lächelte zurück und formte mit Daumen und Zeigefinger ein O.
„Ok, am besten, du bleibst einfach hier liegen, bis die gleich da sind.“ Martin stand auf, holte sein Handy heraus und schaute auf das Empfangssignal. Zwei Balken von fünf, und das in einem Keller. Nicht schlecht, dachte Martin, vielleicht, weil wir hier auf einem Hügel sind… Zwei Balken würden reichen. Er wählte 114, den Sanitätsdienst.
Danach wartete er bei Frank, der eimerweise weinte und bei Tina, die tapfer wartete. In der Zwischenzeit überlegte er sich, was er den Leuten vom Sanitätsdienst sagen würde. Er war zufällig hier vorbeigekommen und hatte Schreie gehört, fertig. Nicht sehr glaubhaft, weil es draußen wie sonstwas geregnet hatte und vielleicht immer noch regnete, und sie waren im Keller, wo es keine Fenster gab, aber was soll’s, dachte er sich. Schließlich war er hier nicht der Angeklagte oder so etwas.
Nach einer Weile kam schließlich der Sanitätsdienst und Martin erzählte, was passiert war. Tina wurde von zwei Sanitätern auf eine Trage gelegt und mitgenommen. Frank wurde ebenfalls mitgenommen, nicht auf einer Trage, aber mit einer Decke um die Schultern. Er war jetzt wieder soweit normal, doch es würde bestimmt noch eine ganze Weile dauern und professionelle Hilfe benötigen, bis er wieder ganz auf dem Damm war.
Und Martin? Nun, Martin hatte es geschafft. Die Zeitung, wie er sie im Geiste gesehen hatte, würde nie veröffentlicht werden.
Er hinterließ seine Personalien und ging dann durch das frischgewaschene Blintz, es hatte inzwischen aufgehört zu regnen, durch klare, frische Luft zurück zu seiner Imbissbude, wo Daniel ihn bestimmt schon mit einem schnippischen Spruch auf den Lippen erwartete. Die Spannung in seinem Inneren war verschwunden und er fühlte sich gut und zufrieden.

 

Hallo Maeuser.

Die Geschichte fängt ganz harmlos an, teilweise lese ich sogar etwas Ironie aus der Ortsbeschreibung heraus.

eine Maske hatte wirklich jeder – und jeder Mensch hatte eine eigene Geschichte.
Solche Gedanken kenne ich.

ABei den beiden Hauptpersonen hast du dir viel Mühe bei ihrem Hintergrund und ihrer Vergangenheit zu geben. Teilweise fand ich das etwas lang, aber in der Hoffnung, dass ich dafür entschädigt werde, habe ich gerne weitergelesen. (Die Hoffnung hat sich auch erfüllt. Alles andere wäre fatal gewesen.)

MIT EINER AXT 4 KLEINE KINDER AB!
*klick* Und es ward Licht.^^

Anscheinend würde jemand vier Kinder umbringen
Ich dachte erst, das wäre schon passiert. Aber so ist das natürlich besser.

„Ok, vier Portionen, drei mit Würzsauce aus Tomatenmark, Essig, Zucker, Speisesalz und Gewürzen und eine mit einer dickflüssigen, kalt hergerstellten Sauce auf der Basis von Eigelb und Öl, beziehungsweise Wasser, Lecithin und Fett.“
Das fand ich sogar etwas witzig. Dieser Daniel ist zwar nur ein Nebencharakter, hat aber trotzdem etwas Besonderes, sodass man sich an ihn erinnert.

Dann kam die Stelle, in der Frank sich über die Kinder ärgerte. Du hast prima dargestellt, wie er sich in seine Wut reinsteigerte.

Martin fühlte sich hundsmiserabel.
Oh, eine Unterbrechung! Gerade, wo es spannend wurde. Das ist echt mies. ;)

alter Mann.“, knurrte
Der Punkt da kommt weg.

Die Geschichte hat mir wirklich gut gefallen. Ich mag deinen Schreibstil. (Erinnert mich etwas an mich *g*) Meistens werden hier kurze Geschichten eher gelesen und wahrscheinlich auch eher gepostet, aber ich lese auch gerne in dieser Länge, sofern die Geschichten fesseln. Und das tut deine auf jeden Fall, auch wenn du etwas lasch anfängst. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, hält ja bei der Stange.

Ach, was soll ich noch sagen?^^ Weiter so!

Viele Grüße von Jellyfish

 

Hi Jellyfish,

danke für deinen Kommentar und dass du die Story trotz der Länge gelesen hast. ;)

Freut mich, dass sie dir gefallen hat. Wegen des Anfangs muss ich mal gucken ob ich da noch mal straffend drübergehe. Aber eigentlich gehts noch, denk ich.

Hab auch Dank für deine Anmerkungen, den Fehler hab ich korrigiert. :)

Man liest sich,
Maeuser

 

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