- Beitritt
- 22.03.2005
- Beiträge
- 1.284
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Wahre Idylle
Die Gräser und Büsche wiegen sich im warmen Fön. Oft komme ich hierher, um ihn mir um das Gesicht wehen zu lassen. Ich bemitleide jeden armen Unwissenden, der noch nie im Morgengrauen in den Bergen wandern war. Jeder Windhauch, jedes Rauschen in den Bäumen und Büschen, jedes Leuchten der vielen Wildblumen auf dem Plateau und den Hängen, jeder Ausblick auf die Täler, jeder Vogelgesang erzeugt einen Moment voller Magie.
Ich erklimme den Gipfel des kleineren Berges, der den besten Aussichtspunkt auf den anderen bietet. Von weitem kann ich schon den Abfalleimer erkennen.
Die Leute hier sagen, dass, wenn die Sonne den Berg in ihr rotgoldenes Licht taucht und den Nebel in allen Farben des Regenbogens bricht, der Wanderer dann einen Wunsch frei hat. Ich habe beschlossen, diesem Brauch zu folgen. Aber ich muss mich beeilen. Der Horizont hinter dem Berg zeigt einen Stich ins Rotorange.
Fast scheint es, als würde eine erwartungsvolle Spannung über der Szenerie liegen. Der Wind legt eine Pause ein, und die Blumen scheinen vor Erwartung zu beben, wenn ein Hauch über sie streift.
Einzig die Vögel geben ein hingebungsvolles Konzert. Auf meinem Weg ertönt ein Crescendo, als wollten sie dem Wanderer die Ankunft ihres Herrn ankündigen, als wollten sie sagen: "Beeil dich. Der Erhabene steht vor der Tür!"
Der Gipfel ist erreicht. Das Dorf im Tal liegt noch im wattigen Morgennebel, wartet darauf, dass die Sonne es ins Licht entlässt.
Ich atme tief durch, um all die Düfte in mich aufzunehmen, obwohl ich weiß, dass dies unmöglich ist. Zu mannigfaltig, zu gewaltig ist die Welt, die auf mich einströmt. Der Duft von blühenden Eschen vermischt sich mit dem von Bergtannen, der von Süßgräsern mit einem Hauch Heu und fruchtbarer Erde, der Nektar von tausend Blumenarten überdeckt mit Leichtigkeit den süßsauren Geruch des gegorenen Orangensaftes, des zerlaufenen Vanilleeises, der Pommes, der modernden Bananenschalen, des Joghurts im Abfalleimer, der Hundehaufen davor und einer Dose Farbe, die vielleicht ein Maler kürzlich hier vergessen hat. Die Sonnenstrahlen tasten sich behutsam um den Berg herum, scheinen ihn in ein Gewand hüllen zu wollen wie ein Kammerdiener seinen König. Der Gesang der Vögel schwillt im gleichen Maße ab, wie die Helligkeit zunimmt ...
Dann, mit einer Gemächlichkeit, wie sie nur die Natur selbst kennt, denn nur sie hat alle Zeit der Welt, beginnt die Korona des Berges zu erstrahlen. Alles andere wird plötzlich unwichtig, auch ich selbst. Wenn es ein bewusstes Erinnern erfordern würde, ich vergäße sogar das Atmen. Dieser Moment gehört dem Berg allein.
Und da sind die Farben! Das Licht bricht sich im Nebel und erzeugt ein Prisma von einer Leuchtkraft, wie ich sie selten gesehen habe. Fast schon am Rande meines Bewusstseins spüre ich, wie sich meine Arme prophetisch ausbreiten.
Ich wünsche mir, dass diese Idylle nie vergehen wird.
Erst als die Regenbogenfarben blasser werden und schließlich ganz verschwunden sind, wage ich es, mich umzusehen.
Der Nebel über dem Dorf hat sich verflüchtigt und gibt den Blick frei auf sattgrüne Weiden, buntgescheckte Kühe und Felder, auf denen der Sommerweizen blüht.
Die Blumen erstrahlen in einer Pracht, als hätte der Berg seine Energie auf die Welt um sich abgegeben.
Vergnügt kicke ich eine verrostete Coladose den Hang hinunter, die zwischen den Blumen gelegen hat. Dann mache ich mich wieder auf den Heimweg.