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Wahrhaft auserwählt
Frierend schlang das Mädchen den langen Mantel enger um sich, als es vom Bauernhaus hinüber zum Stall lief und sich vor dem kalten Wind duckte. Die Bäume waren mit schwerem Schnee behangen und ihre Stiefel knirschten auf dem Weg. Es war ein eisiger Winter dieses Jahr und sie hatte sich selbst für diesen kurzen Weg so warm angezogen, dass kaum etwas von ihrem Gesicht zu erkennen war. An sich war es kein Wetter, um kurz vor Einbruch der Dunkelheit noch herumzulaufen. Aber bevor sie sich zur Nachtruhe begab, wollte sie noch nach der trächtigen Kuh sehen, die ihr Kälbchen erwartete, denn sie freute sich darauf, das kleine Tier zu streicheln. Das Mädchen mochte dreizehn Jahre alt sein, sie war groß und hager für ihr Alter, gekleidet wie es sich für die Tochter eines reichen Bauern gehörte. Lediglich der Mantel gehörte ihrem Vater, den hatte sie sich schnell übergeworfen, weil er fast bis zum Boden reichte, wenn sie ihn trug. Normalerweise sah der Stalljunge nach den trächtigen Tieren, aber er lag mit Fieber darnieder und musste sich noch erholen, deswegen hatte sie angeboten, schnell zum Stall zu eilen. Hätte ihr Vater gewusst, dass ihr auch der Hals weh tat, hätte er sie nicht gehen lassen.
Ihre kalten Finger zogen das Tor auf und sie trat in den Stall. Hier war es deutlich wärmer, wenn auch nicht so warm wie im Bauernhaus, wo die Mutter heute das Feuer angeheizt hatte, um die Kälte des Winters zu vertreiben. Das Mädchen wollte sich gerade die Kapuze vom Kopf ziehen, als ein helles Licht etwas oberhalb von ihr aufflammte und sich in dem Stall ausbreitete. Die Kühe bewegten sich aufgeregt, angesichts der plötzlichen Lichtquelle und die Bauerstochter taumelte geblendet ein paar Schritte zurück und erstarrt dann, das Gesicht dem Licht zugewandt. Für einen Moment überwog ihr Entsetzen und sie war nicht in der Lage zu denken oder zu fliehen. Ihr Vater hatte ihr schon oft gesagt, sie sei klug für ein junges Weib, vor allem, wenn sie mit ihm diskutierte. Doch hier half nur noch eines: Sie sank auf die Knie und begann mit heiserer Stimme zu beten: „Herr im Himmel, ich bitte dich, schütze mich vor diesem Licht! Hilf mir in meiner höchsten Not, bewahre mich vor allem Unbill, und sollte der Tod mich ereilen, vergib mir meine Sünden…“
„Himmelherrgott noch einmal, wo bin ich denn jetzt gelandet?“ unterbrach eine männliche Stimme ihr Gebet und sie sah verwirrt auf. Vor ihr stand ein älterer Mann mit ordentlich gestutztem Bart in seltsamer Gewandung. Er trug ein einteiliges, helles Kleidungsstück, das aus Sternenlicht gefertigt schien, so wie es im Dunkeln schimmerte und das sie noch nie gesehen hatte. Sein Blick schweifte durch den Stall und blieb schließlich an ihr hängen. Er klang verärgert und sie duckte sich unter seinen Worten.
„Seid Ihr ein Bote Gottes?“ fragte sie bebend vor Furcht.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er, klang dabei aber so gereizt wie ihr Vater, wenn er seinen Mantel suchte: „Ich tue dir nichts. In welchem Jahr bin ich gelandet?“
„In welchem Jahr?“ fragte sie verwirrt und antwortete dann rasch, denn einen Boten des Herren durfte man nicht warten lassen. „Es ist das Jahr des Herrn 1424.“
„Ach, verdammt noch einmal, ich bin sieben Jahre zu früh dran! Wie ich das hasse! Diese verfluchte Maschine!“ rief er aufgebracht und dem Mädchen glühten die Ohren bei all den gotteslästerlichen Worten, die er gebrauchte. Sprach so ein Bote des Herrn? Sie war sich nicht sicher, ob er nicht doch eine Versuchung der Hölle war.
„Nun ja, egal“, seufzte er schließlich. „jetzt bin ich halt hier. Dann sind wir jetzt in Lothringen, richtig?“
„Ja, Herr“, sagte sie rau.
„Weißt du, normalerweise komme ich immer am Abend vor dem Tod, um etwas Trost zu spenden, denn wenn man verbrannt wird wegen Ketzerei, ist das ja keine schöne Aussicht, nicht wahr, und da kann etwas Beistand gut tun“, sagte er so rasch, dass sie ihm kaum folgen konnte. „Aber heute bin ich etwas früh dran, will ich meinen.“
„Ich… ich werde verbrannt, wegen Ketzerei?“ brachte sie entsetzt heraus.
„Ja, aber noch nicht morgen, du stehst ja noch ganz am Anfang, und deine Hinrichtung ist erst in sieben Jahren. Ich wollte dir etwas Mut zusprechen, das ist so eine Art Hobby von mir, diejenigen aufzusuchen, die für eine gute Sache sterben und ihnen sagen, wie dankbar die Geschichte ihnen ist. Ich meine, ich würde niemals bei den Bösewichten der Geschichte vorbeischauen wie Dschingis Khan oder Mussolini, aber ich sag dir, die Guten können auch eine ganz schöne Überraschung sein, wie damals bei John F. Kennedy, mein lieber Mann! Aber im Allgemeinen werde ich dankbar aufgenommen, wie bei Martin Luther King oder den Geschwistern Scholl, Maximilian Kolbe, Dietrich Bonhöfer und all den anderen aus dem dritten Reich. Manchmal ist es sehr schwer, einen Bösewicht von einem Guten zu unterscheiden, wie bei Che Guevara, manche hassen ihn, andere finden ihn toll, das ist Auslegungssache…“
„Verzeiht!“ unterbrach das Mädchen den Redeschwall des Engels, von dem sie kaum ein Wort verstand: „Sehe ich das richtig? Ihr seid gekommen, um mir mitzuteilen, dass ich in sieben Jahren verbrannt werde?“
„Aber nein!“ fuhr er auf: „Ich bin hier, weil ich dir danken wollte für deine Rolle in der Geschichte. Ich meine, du hast die Engländer aus Frankreich vertrieben und den Dauphin zum Thron geführt. In ziemlich genau vier Jahren verlässt du den Hof und überzeugst die Männer, dass du Orlean retten kannst, was du dann auch tust. Dann wirst du eine Armee anführen und Frankreich befreien. Leider wirst du jung sterben und nie erfahren, welche Rolle du in der Geschichte spielst. Deshalb bin ich hier. Um dir zu sagen, dass du heiliggesprochen wirst und dass dein Name in 500 Jahren auf der ganzen Welt bekannt sein wird. Du wirst so eine Art Nationalheiligtum der Franzosen. Sie werden deine Geschichte erzählen, Bücher über dich schreiben, Lieder über dich singen, Filme über dich drehen, auch wenn du jetzt noch nicht weißt, was das ist. Du wirst zwar jung sterben, aber du wirst unsterblich sein. Und für die Unsterblichkeit lohnt es sich doch zu sterben, nicht wahr?“ Er lachte etwas nervös: „Nicht, dass du es dir jetzt anders überlegst, dann hätten wir ein ganz schönes Schlamassel…“
„Ich werde Gottes Ruf folgen. Wenn es das ist, was er von mir will, dann werde ich auch dafür sterben“, sagte sie feierlich.
„Gut“, sagte er erleichtert. „Denke einfach daran, dass die Geschichte dich auserwählt hat. Oder von mir aus auch Gott.“ Der Mann sah auf ein silbernes Armband an seinem Handgelenk. „Herrje, ich muss weiter zu Marilyn Monroe, eine Diva lässt man nicht warten.“ Er musterte sie noch einmal: „So leb denn wohl, Antoine von Orlean.“
Ein weiterer Lichtblitz blendete das Mädchen, dann war der Engel weg. Langsam erhob sie sich und versuchte, ihre verwirrten Gedanken zu klären. Antoine? Hatte er sie für den Stalljungen gehalten? Dann hatte diese Rede ihm gegolten! Für einen Moment war Johanna erleichtert. Sie wollte wirklich ungern verbrannt werden. Andererseits… Für die Unsterblichkeit lohnte es sich zu sterben.