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Wanderer der Ewigkeit
Wanderer der Ewigkeit
Tag 1:
Ich schlief mit einer Intensität, die sich nur schwer in Worte fassen lässt. In den grenzenlosen Welten des Schlafs schien die Nacht kein Ende nehmen zu wollen. Diese beruhigende Schwerelosigkeit war genau das, was ich jetzt brauchte. Die schier endlose Dauer meines Traums dehnte sich beinahe auf Spielfilmlänge aus.
Ich sah uns beide, Allison, wie wir zusammen zum Abschlussball gingen. Ich erinnerte mich an unseren ersten Kuss, an das unsichtbare Band zwischen uns, von dem du immer sprachst, und ich sah den Tag, der dich glücklicher gemacht hat, als du es dir je vorstellen konntest, unsere Hochzeit.
Als ich erwachte, war ich tief in meinem Innern der felsenfesten Überzeugung, dieser Traum sei ein Zeichen. Ja, ich spürte richtig wie der Mut zur Veränderung wieder in meine Adern strömte und meinen Willen voranpeitschte. Du hast mich so lange darum gebeten, die Arbeit nicht überzubewerten und mir endlich mehr Zeit für dich zu nehmen, dich in die Arme zu schließen und noch mal von vorn anzufangen. In diesem Augenblick wusste ich, was du gemeint hast, Allison. Unsere Gefühle füreinander waren eigentlich zu groß, um von zwei Menschen allein getragen werden zu können. Vielleicht war das der Grund, wieso wir solche Schwierigkeiten hatten verantwortungsvoll damit umzugehen. Allison, ich wünschte mir in diesem Moment nichts auf der Welt sehnlicher als dich in die Arme zu schließen und dir zu sagen, wieviel du mir bedeutest und dass es mir Leid tut, was ich dir angetan habe. Als ich die Augen aufschlug, war die blanke Angst dich für immer zu verlieren übermächtig. Kein Geld der Welt war das wert. Wir würden ein kleineres Haus kaufen, ich wechsele meinen Job, und wir sind wieder glücklich miteinander. Das wollte ich dir sagen, das und noch viel mehr. Ich hatte mich schon richtig auf dein strahlendes Lächeln der Erleichterung gefreut.
Ich drehte mich langsam zu dir um und musste festellen, dass du schon aufgestanden warst. Deine Decke und Kissen erschienen vollkommen unangetastet. Hattest du überhaupt geschlafen? Ich sah an mir herab. Dunkle Hose und Hemd, dunkelblaue Jacke. Ich war wirklich angezogen ins Bett gegangen. Wahrscheinlich hast du es gesehen und die Nacht lieber im Gästezimmer verbracht, als neben deinem ewig arbeitenden, gefühllosen Ehemann zu schlafen.
»Oh Gott, Allison, es tut mir so furchtbar Leid. Von nun an wird alles anders. Ich schwöre es dir,« sagte ich. »Ich bin nicht mehr der arrogante Narr, der beinahe unsere Ehe aufs Spiel gesetzt hätte. Ich habe mich geändert. Ich weiß nicht wie, aber es ist wirklich passiert. Jetzt will ich dich nur noch umarmen und nie wieder los lassen. Du sollst wissen, dass ich dich immer geliebt habe.« Ich konnte es kaum erwarten, dir diese Worte ins Gesicht zu sagen.
Ich lief die Treppe hinunter, nachdem ich alle Zimmer der oberen Etage leer vorgefunden hatte. In meiner Eile verschätzte ich mich auf den letzten zwei Stufen, stolperte und knallte mit der linken Schulter gegen den kleinen Schrank in unserer Diele. Die Lampe wackelte und fiel mit einem kaum hörbaren Scheppern zur Seite.
Die Küchentür am Ende des Korridors war einen spaltbreit geöffnet. Ich rannte darauf zu, in der Hoffnung dich dort zu finden, und ich sollte Recht behalten. Du saßt an unserem kleinen Esstisch, der seltsamerweise ungedeckt und leer war. Es war noch früh am Morgen, Allison. Du hast uns beiden doch immer so gerne das Frühstück vorbereitet. Was war los?
Die Antwort auf diese Frage fand ich in deinen Augen. Ich konnte erst nicht glauben, was ich sah, als ich näher an dich herantrat. Dein Blick war starr und ausdruckslos, fixiert auf einen toten Punkt an der Wand. Deine Augen waren leicht unterrundet, das Gesicht tränenverschmiert. Die zerlaufenen Spuren des Eyeliners auf deiner Haut sagten mir, dass du in der Nacht wirklich nicht geschlafen hast, ansonsten hättest du dich doch abgeschminkt.
»Allison, geht es dir gut?« fragte ich vorsichtig. Ich hoffte vergeblich auf eine Antwort. Du hast nur deine Augen geschlossen und zweimal tief durchgeatmet. Die Hand mit der du dich an der Stirn hieltst, zitterte nervös.
»Ich muss mit dir über etwas sprechen, Liebling. Es betrifft uns beide. Ich weiß, es kommt unerwartet, aber ich möchte meinen Job aufgeben. Lass uns das Haus verkaufen und woanders hingehen. Endlich wieder glücklich sein. Ich möchte ein vollkommen neues Leben mit dir beginnen.«
Nach meinem letzten Satz stockte ihr der Atem. Sie blickte einmal kurz in meine Richtung, dann sah sie zur offenen Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, die zum Wohnzimmer führte. Mit beiden Händen strich sie hastig ihre weiße Bluse glatt. Ein weiterer Blick auf mich und ein tiefer Seufzer sollten mir wohl signalisieren, dass sie kein Interesse an einer Unterhaltung hatte, auch nicht wenn es sich um die Rettung unserer Liebesbeziehung handelte. War meine Euphorie etwa umsonst gewesen? War in ihren Augen meine Entscheidung aus heiterem Himmel ein neuer Mensch zu werden zu unglaubwürdig? Wie auch immer, ich konnte es ihr nicht verübeln.
»Oh mein Schatz, ich weiß, dass es sich überstürzt anhört. Ich kann es mir selbst nicht erklären wie es so plötzlich dazu kam. Aber das ist nicht wichtig. Entscheidend ist, dass ich endlich eingesehen habe, dass unsere Liebe einzigartig unter tausenden ist. Ich möchte nicht mehr riskieren, dass sie endet.« Ich tat mich schwer bei dem Versuch meine Gefühle unter Kontrolle zu halten, obwohl sie offenbar keine für mich übrig hatte. Ihr Gesicht war eine stille Maske. In Reaktion auf meine Worte drehte sie mit beiden Zeigefingern kleine Kreise an ihren Schläfen, so wie jemand, der sich um jeden Preis konzentrieren wollte.
Kam ich zu spät mit meiner Bitte? Vielleicht fühlte sie sich trotz meines Mitgefühls nicht ernst genommen. Wahrscheinlich wollte sie mich nicht mehr bei sich haben. Sie redete ja nicht mal mehr mit mir. Schweren Herzens setzte ich mich neben sie und legte eine Hand auf ihre Schulter. Wenn sie Hass auf mich hatte, dann könnte sie körperliche Nähe unter Umständen an die Zeiten erinnern, in denen wir zwei aneinander gekuschelt auf dem extra breiten Sofa im Wohnzimmer lagen und uns über die Naivität des nächtlichen Fernsehprogramms lustig machten. Danach würden wir uns küssen und auf dem weichen Leder lieben.
»Bitte, Allison, sag doch etwas.« Sie schwieg.
»Was ich gesagt habe, meine ich ernst.« Wieder nichts.
An jenem Morgen schwor ich mir, Allison für den Rest ihres Lebens so zu behandeln, wie sie es verdient hatte. Doch auch in dieser emotional kritischen Phase besaß ich einen Geduldsfaden, der durch ihre Sturheit unnötig strapaziert wurde. Ich sprang von meinem Stuhl hoch und klatschte laut in die Hände. »Na gut, dann eben nicht. Reden wir später weiter,« sagte ich und hatte große Mühe, nicht wütend zu klingen.
In dieser Sekunde, gleich nachdem das letzte Wort meinen Mund verlassen hatte, stürzte das Bild in unserer Küche scheppernd zu Boden. Der Glasrahmen zersprang und verteilte hunderte von Splittern kreuz und quer auf den schwarz-weiß karierten Fließen. Das Bild hing noch nicht lange dort. Womöglich hatte ich den Nagel zu locker in die Wand geschlagen. Allison reagierte sehr empfindlich auf diese Störung. Sie erhob sich panikartig und stieß dabei den Stuhl um.
»Nicht schon wieder! Oh Gott, bitte nicht!« schrie sie bei ihrer Flucht aus der Küche. Sie würdigte mich keines Blickes. Ich blieb sprachlos zurück. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, folgte ihr nächster Schrei unmittelbar nachdem ihre hastigen Schritte den Treppenansatz erreichten hatten. Ich rannte sofort zu ihr. Sie war auf der ersten Stufe zusammengebrochen. Das Gesicht in den Händen vergraben, schluchzte sie verzweifelt vor sich hin. »Das ist doch nicht möglich,« weinte sie.
Als ich näher an sie herantrat, erkannte ich den Grund ihres Entsetzens. Die Lampe, die ich bei meinem Ausrutscher auf der Treppe umgestoßen hatte, lag nur wenige Zentimeter von Allison entfernt auf dem roten Teppichboden.
Tag 2:
Als ich erwachte, fand ich Allisons Bettseite abermals unberührt vor. Ihr Auto stand nicht in der Einfahrt und tauchte auch am späten Nachmittag nicht auf. Ich rechnete damit, dass sie uns ein paar Einkäufe fürs Wochenende besorgte. Doch als sie am frühen Abend endlich die Haustür öffnete, hatte sie außer ihrer Windjacke nichts in den Händen. Ich hockte mich zu ihrem Empfang auf den unteren Treppenrand und hoffte, sie würde sich wenigstens über den gedeckten Tisch für ein gemeinsames Abendessen in der Küche freuen, den ich für uns beide im Schweiße des Angesichts vorbereitet hatte.
Allison sah erschöpft aus. Ihre Augen schrien nach Schlaf und Erholung. Sie ließ die Jacke einfach fallen, den Autoschlüssel warf sie auf die Kommode. Ihre Körperhaltung war schlapp. Sie wirkte auf mich wie jemand, der zwar gehen möchte, aber durch zwei Gewichte an den Fußknöcheln daran gehindert wird. Sie lehnte sich beidhändig gegen das Treppengeländer und keuchte, als hätte ihr ein Marathonlauf schwer zugesetzt. Doch in ihren Augen war nicht die leiseste Spur von Anstrengung zu erkennen. Ich legte eine Hand auf die ihre und drückte sie sanft. »Schon gut, Allison. Setz dich ruhig neben mich, Liebling.« War das ein Hauch von Dankbarkeit, der ihre Mundwinkel streifte? Diesmal sprach sie auf meine liebevolle Zuwendung an und ich konnte erleichtert aufatmen. Nach einem Tag vergeblichen Kampfes um die Liebe meiner Frau, führte dieser eine geglückte Versuch dazu, dass wir Schulter an Schulter auf der letzten Stufe unserer hohen Treppe saßen und uns allmählich aneinander heranwagten.
Als sie zu sprechen begann, wurde jeder ihrer Sätze von einem leichten Zitteranfall untermalt. »Ich muss jetzt stark sein. Die nächste Zeit wird nicht leicht. Aber egal was passiert, ich werde durchhalten. Ich werde...« Allisons Worte gingen in hoffnungslosem Schluchzen unter, das jetzt unkontrolliert aus ihr herausbrach. Sie schloss die Augen. »Wie konnte das nur passieren? Und wieso ausgerechnet mir?« sagte Allison in den leeren Flur hinein.
Mitleidvoll tätschelte ich ihre Schulter. Da bemerkte ich erst wie elegant sie sich heute herausgeputzt hatte. Die tollen dunklen Stiefel harmonisierten gut mit der schwarzen Hose. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich sie zuletzt in dem schwarzen Blazer gesehen hatte. Ich glaube, es war auf der Beerdigung meiner Tante.
»So etwas passiert im Leben. Keine Ehe ist perfekt, Allison. Wenn ich nur in Worte fassen könnte, was ich in diesem Moment für dich empfinde, hätten wir vielleicht schon einen großen Teil unserer Probleme gelöst,« sagte ich.
Ich freute mich, dass sie endlich den Mut aufgebracht hatte mit mir zu sprechen, doch nun fing sie an mit genau derselben vereisten Miene ins Leere zu starren wie gestern. Sie hatte keine Ahnung wie sehr sie mich damit verletzte.
»Sieh mich bitte an, Allison.« Sie reagierte nicht.
»Allison, ich flehe dich an!« Ihre Antwort war ein Seufzen.
Zumindest schien unserer Katze Sally meine Anwesenheit noch irgendetwas zu bedeuten. Sie kam langsam aus der Finsternis des Korridors zum Fuß der Treppe geschlichen und sah mich neben meiner Frau auf der Stufe thronen. Die kleinen Tatzen machten keine Geräusche auf dem blanken Parkettboden, als sie unbekümmert an Allisons versteinerter Miene vorbeistolzierten. Sally blieb direkt vor meinen Schuhen stehen und starrte zu mir hoch. Ich beugte mich nach vorne um sie auf meinen Schoß zu heben, so wie in alten Zeiten. Bestimmt würde Allison die Geste rührend finden und mir zur Abwechslung mal ein Lächeln zuwerfen. Weit gefehlt! Bevor meine Handflächen Sallys Fell auch nur ansatzweise nahe kamen, stieß ihre Kehle ein markerschütterndes Miauen hervor, das ihre Rückenhaare in einen elektrisierten Busch verwandelte. Als hätte man sie aus einer Kanone abgefeuert, schoss sie wie ein Blitz durch den Flur und sprang mit einem lauten Knallen, das der Eigenartigkeit dieses Verhaltens besonderen Nachdruck verlieh, durch die Katzenklappe in die Freiheit.
»Nein!« schrie Allison plötzlich, und es hörte sich in meinen Ohren genau so laut und quälend an wie Sallys Abwehrreaktion. Allison sprang von der Stufe auf. Die Panikattacke unserer Katze ließ ihre Lethargie dahinschmelzen wie einen Eispalast im Hochsommer und verwandelte sie prompt in ein zittriges Nervenbündel, das sich unsere Küche als Ziel augesucht hat. Na wenigstens sieht sie den gedeckten Tisch und hat einen Grund zur Freude. Ich hatte mir noch keine Gedanken darüber gemacht, was ich als nächstes in Angriff nehmen würde, sollte dieser Liebesbeweis auch fehlschlagen.
Ihre halb erstickte Stimme zerstörte all meine Hoffnungen. »Nein, das darf nicht war sein! Das darf nicht wahr sein! Ich kann nicht mehr!« schrie sie. »Ich möchte von hier weg. Ich hasse dieses Haus.«
»Das ist es ja worüber wir reden müssen. Ich habe vor das Haus zu verkaufen, damit wir ein neues Leben beginnen können, Allison. Noch mal von vorne beginnen, als glückliches Paar. So wie früher,« rief ich ihr hinterher. Allison kam aus der Küche angerannt, ignorierte, dass ich mich ihr bewusst in den Weg gestellt hatte um sie für ihr Verhalten zur Rede zu stellen, und griff zum Telefonhörer. Weiß lackierte Fingernägel schnellten über das Tastenfeld.
Tag 3:
Von meinem Aussichtspunkt am großen Fenster in der oberen Etage beobachtete ich misstrauisch die schwarze Silhouette eines Autos, das sich schwerfällig unsere asphaltierte Einfahrt hinaufquälte. An der Frontscheibe ermöglichte das hektische Zucken zweier dunkler Striche dem Fahrer eine passable Sicht in der Gischt des Sommerregens. Der Wagen platzierte sich neben Allisons Ford und spuckte einen Mann mit Kapuze über dem Kopf aus. Er rannte schnell zum Hauseingang. Synchron zu seinen Schritten trappelten auch Allisons Füße über den knarzenden Holzboden. Anscheinend hatte sie die Szene vom Wohnzimmerfenster aus verfolgt. Mein müder Blick wandte sich von der regennassen Einfahrt ab und fokussierte eine reichverzierte Vase, prall gefüllt mit roten Rosen, deren scheinbar frischen Duft ich komischerweise nicht riechen konnte, egal wie sehr ich einatmete.
Ich blieb oben beim Treppengeländer stehen. Allison, die mit einem Auge durch die Gardine des Seitenfensters lugte, wartete, gut sichtbar für mich, am Eingang unseres Hauses, den Türgriff mit einer Hand umschlossen. »Wer kommt da, Liebling?« fragte ich. »Ein Freund von uns? Ich dachte wir empfangen samstags keine Besucher.«
Allison atmete mit einem Mal erleichtert auf. Als sie energisch herumfuhr, dachte ich das strahlende Lächeln hätte sie für mich herbeigezaubert. Bevor ich ihr sagen konnte wie sehr ich mich darüber freute, riss sie die Tür auf und ließ sich von einem hochgewachsenen Mann in die klatschnassen Jackenarme schließen. »Du weißt gar nicht wie froh ich bin, dich zu sehen, Edward,« sagte Allison zu der schwarzgekleideten Gestalt, die jetzt ihre Jacke abstreifte und lässig an den Kleiderhaken hängte. Hatte sie Edward gesagt? Ich beugte mich etwas nach vorne um genauer in den fahl ausgeleuchteten Korridor spähen zu können. Der große Mann nahm die Hand meiner Frau und musterte ihren ganzen Körper von oben nach unten mit ernster Miene. Die angespannte Stimmung wurde von einem zuversichtlichen Lächeln seinerseits durchbrochen und von einer festen Umarmung Allisons ersetzt. Ich umklammerte mit der rechten Hand das Geländer und ging zitternd in die Knie. Aus dieser Position hatte ich eine gute Perpektive auf Allisons Finger, die mit aller Kraft am Rücken des Mannes klebten, als würde ihnen das die Erlösung bringen. In diesem Moment sah ich zum allersten Mal in den vergangenen drei Tagen, dass sie ihren Ehering abgelegt hatte.
Es bestand kein Zweifel mehr, dass der dunkelhaarige Mann mein Cousin Edward war. Er und Allison standen eng umschlungen in der Mitte des Eingangs. Ihre Blicke gingen aneinander vorbei, doch beide schienen die Gegenwart des jeweils anderen zu genießen. »Ist es wirklich so schlimm?« fragte Edward sanft. Sie nickte heftig. Ihre linke Hand umfasste seinen Hals. »Hast du Angst vor ihm?« sagte er.
»Nicht so sehr wie ich eigentlich haben sollte,« sagte sie. Edwards Lächeln veranlasste Allison ihn näher an sich heranzuziehen und mit geschlossenen Augen zu küssen. Als beide ihre Griffe wieder lösten, lachte Allison. »Komm, wir gehen rauf.«
»Ist es auch sicher?« fragte Edward mit einem skeptischen Blick nach oben.
»Ja, ich denke schon. Wir gehen ins Gästezimmer. Dort habe ich in der letzten Zeit immer die Nächte verbracht, weil Henry nicht aus unserem Schlafzimmer gehen möchte. Ich weiß, dass er dort ist und ich meide den Raum deshalb, weil ich fürchte, dass er immer noch Sex mit mir haben möchte, wenn ich mich neben ihn ins Bett lege. Ehrlich gesagt, ist mir nicht wohl bei dem Gedanken.« Allison nahm Edward an der Hand und zog ihn die Treppen hinauf hinter sich her. »Aber heute ist er nicht da.«
Oh nein, ich bin anwesend, Allison, und das weißt du ganz genau. Du hast mich heute einmal im Wohnzimmer gesehen. Ich wollte mit dir reden, aber deine Sturheit hat wieder all meine Bemühungen zu dir durchzudringen blockiert. Wie kannst du mir das antun, Allison? Ich zermartere mir den Schädel wie ich die Frau meines Lebens dazu bewegen kann, mich wieder in das unsichtbare Band der Liebe einzuspannen, das unsere Beziehung über so viele Jahre beherrscht hatte, und du flüchtest dich stattdessen in etwas völlig Neues mit einem Menschen, der mir seit meiner Jugend freundschaftlich zur Seite stand.
Auf der mittleren Stufe verwandelte sich Edward in eine Statue. Sein Gesicht wurde bleich. Allisons Augen folgten der Richtung seines ausgestreckten Zeigefingers zum Ansatz des Treppengeländers. »Da ist er! Ich habe ihn gesehen!« Er löste sich von ihrem festen Händedruck und ging die Stufen runter. Ja, genau, verschwinde, Edward, so lange du noch kannst. Ich liebe meine Frau über alles und da ich der einzige Mensch der Welt bin, der ihre unbezahlbare Kostbarkeit zu schätzen weiß, würde ich mich eher umbringen, als sie an jemand anderen zu verlieren.
Als Edward sich rasch umdrehte und Allison allein auf der Treppe zurückließ, machte ich einen Rückzieher hinter die Kommode, um ihrem suchenden Blick zu entgehen. Sie nahm die verbleibenden Stufen zum obersten Stockwerk mit wenigen Sätzen. Sie sah in allen Ecken der Diele nach, öffnete eine Tür nach der anderen und rief in jedem Zimmer aufs Neue meinen Namen. Was hinderte sie daran meine kauernde Gestalt hinter dem kleinen Schrank nicht zu entdecken? Sie sah zweimal kurz in meine Richtung, aber bis auf ein paar Blinzler zeigte sie keine Reaktion. Ich kniete natürlich in einem recht dunklen Schatten, der von der Finsternis der hereinbrechenden Dämmerung zusätzlich genährt wurde. Das machte es ihr entweder nicht leicht etwas zu sehen oder sie tat absichtlich so, als sei ich nicht da, um Edward keinen Schrecken einzujagen. »Du hast dich getäuscht,« rief sie die Treppen hinunter. »Henry ist wirklich nicht da.«
Zu meiner bitteren Enttäuschung freute sich Edward so sehr über diese Botschaft, dass er mit eiligen Laufschritten antwortete. Oben angekommen fiel er ihr sofort in die Arme und beharkte ihr weiches Gesicht mit düsteren Blicken der Besorgnis. »Er schlägt dich doch nicht etwa, oder?« sagte Edward. Allison hatte mit dieser Frage wohl nicht gerechnet. Ihre Miene wurde steif. »Nein, wie kommst du darauf?« Edward gab sich mit dieser Antwort zufrieden. »Ich weiß nicht. An deiner Stelle hätte ich sicher viel mehr Angst vor ihm,« sagte er.
Wie kam er nur auf die wahnsinnige Idee, ich könnte der einzigen Frau auf der Welt, die mir mehr bedeutet als mein eigenes Leben, auch nur ein Haar krümmen. Verdammt noch mal, Edward! Du warst mein Trauzeuge, als Allison und ich den Bund der Ehe eingingen. Du warst der erste, der die unsterbliche Macht unserer Verbindung leibhaftig miterlebt hat, und jetzt bist du derjenige, der es wagt, sie zu zerstören. Als ich Allison damals an den See unserer ersten Begegnung führte, leistete ich ihr einen einmaligen Schwur der Treue, dessen Worte mich für den Rest meines Lebens begleiten sollten. Ich versprach ihr, dass ich sie trotz aller Widrigkeiten, die unserer Liebe Schaden zufügen könnten, bis zu unserem letzten gemeinsamen Tag begleiten würde, und sogar noch darüber hinaus. Solange ich in diesem Haus lebe, werde ich alles daran setzen, dass dieses heilige Versprechen bestehen bleibt. Jemand wie du müsste sich darüber im Klaren sein, dass er mich in dieser Beziehung unmöglich ersetzen kann. Allison hat lange Zeit gelitten, weil mein Egoismus dazu führte, sie ganze Tage und Nächte allein zu lassen. Ihren einzigen Trost auf der Suche nach einem letzten Maß an Kontrolle in ihrem Leben, fand sie in Form von Tabletten. Selbstverständlich reichte ihr das irgendwann nicht mehr um sie vor dem Wahnsinn zu bewahren, also sehnte sie sich nach allem, was ihr an zwischenmenschlichen Bedürfnissen fehlte. Liebe, körperliche Nähe und das Gefühl begehrt zu werden. Sie hat dich angefleht, hab ich recht? Du Narr, wusstest genau, dass nur ich sie so lieben kann, wie sie es verdient. Wieso hast du mir das angetan? Du hättest nicht auf ihre Bitte eingehen dürfen, du elender Bastard.
»Merkst du nicht, dass du hier überflüssig bist?!« schrie ich ihn an. Ich war aus meinem Versteck hinter der Kommode hervorgesprungen und stieß bei meiner ruckartigen Drehung nach links die Blumenvase um, deren tiefer Fall in einer klirrenden Explosion und der Zerstreuung von tausenden blauen Scherben auf dem matten Trockenholz endete. Allison stieß einen Schrei der Verzweiflung aus, als bittete sie darum, er würde die Vase wieder zusammensetzen und diese alptraumhafte Szene ungeschehen machen. Mit meiner Frau im Schlepptau türmte Edward zur Treppe, doch ich stellte ihm den Fuß in den Weg. »Hier geblieben, du Mistkerl!«
Edward stolperte. Mit einem dumpfen Knall traf sein Hinterkopf die dunklen Laminatstäbe des Treppengeländers. Ich achtete sorgfältig darauf, dass Allison nicht ins Wanken geriet. Sie erlangte relativ schnell ihre Fassung wieder und wollte Edward zu Hilfe eilen, als ich sie so sanft wie möglich an den Schultern packte und mit etwas Druck auf das Holz beförderte. »Lass ihn in Ruhe, Henry! Es geht dir doch nur um mich,« schrie Allison.
»Ich weiß genau, was ich tun muss, Liebling. Mach dir nur keine Sorgen. Ich gebe dir keine Schuld. Wie könnte ich auch,« sagte ich. Leider galt ihre gesamte Aufmerksamkeit Edward und sie dachte gar nicht daran, einen Blick auf mich zu verschwenden.
»Tu es nicht, Henry,« sagte Edward benommen. Er hatte im Liegen mitansehen müssen wie ich mir den schwarzen Regenschirm aus einer Ecke der Diele holte und ihn wie einen Speer auf seinen Oberkörper richtete. »Das hättest du dir früher überlegen sollen, mein Freund.« Ich betonte das letzte Wort übermäßig stark. Allisons Verzweiflungschrei ging mir in Mark und Bein, doch es gab nichts, was mich jetzt noch aufhalten könnte. Der abgrundtiefe Hass, den ich auf Edward hegte, war bis in jede Faser meines Körpers vorgedrungen. Ich erhob meine Waffe gegen den Mann, der einst mein Freund war, und ließ sie wie einen Blitz nach unten schnellen. Ein gellender Schrei kündigte die Ankunft des harten Schirms an seinem Schienbein an. »Das ist dafür, dass du mich verraten hast!« Er wandte sich auf dem Holz wie ein hilfloser Wurm im Angesicht des Todes. Diesmal schlug ich seitlich zu. Allisons Aufschrei des Entsetzens übertönte Edwards Qualen um mehrere Dezibel. »Henry, lass ihn in Ruhe! Lass ihn endlich los, du verdammter Schweinehund!« brüllte sie in heller Panik.
Wenn Allison nur wüsste, welch unerträgliche Schmerzen sie mir mit dieser Beleidigung zufgefügt hatte, wäre sie wahrscheinlich sofort in Tränen ausgebrochen. In all den Jahren unserer Liebe war es noch nie vorgekommen, dass sie ein Schimpfwort gegen mich gebrauchte. Edward nutzte die Gunst der Sekunde und sorgte mit einem kräftigen Fußtritt in Richtung meines Unterleibs dafür, dass sich meine eigene Unaufmerksamkeit an mir rächte.
»Das bringt doch nichts, Edward,« rief Allison von hinten. Und sie sollte Recht behalten. Nicht ein einziger Nerv in meinem Körper registrierte den Kontakt seiner Schuhsohle mit meiner Haut. War es möglich, dass mich meine Liebe zu Allison jeden Schmerz vergessen ließ? Abgesehen davon, dass ich mich jetzt genau so unversehrt fühlte wie zuvor, stieg meine Wut auf Edward ins Unermessliche. Das Adrenalin pumpte neue Energie in meine Muskeln. Es verlieh mir übermenschliche Kräfte. Ich riss Edward an beiden Schultern in die Höhe, beobachtete eine Weile sein verängstigtes Gezappel in der Luft und ließ meinen ehemaligen Freund und Cousin mit einem donnerhaften Poltern, begleitet von Allisons schrillem Aufschrei, die Stufen unserer Treppe hinunterstürzen.
»Jetzt steht unserer Versöhnung nichts mehr im Weg, mein Schatz,« sagte ich an meine Frau gewandt. Sie stürmte aufgeregt an mir vorbei, ignorierte mich genauso wie in den Tagen zuvor. Ich musste schwer schlucken um meine Frustration über all die aussichtslosen Versuche ihre Liebe und Freundschaft zurückzugewinnen, in den Griff zu kriegen. Mehr konnte ich nicht mehr tun, doch meine grenzenlose Zuneigung zu Allison vernebelte meinen Verstand restlos. Ich würde niemals akzeptieren, dass es vorbei ist, Liebling. Hörst du mich? Selbst wenn alle Möglichkeiten, dich von meiner Liebe zu überzeugen, ausgeschöpft sind, werde ich niemals von deiner Seite weichen. Wir sind füreinander bestimmt.
»Oh, Edward. Was hat er dir nur angetan?« Allison schluchzte leise neben dem stöhnenden Körper meines Cousins. Er war am Fuß der Treppe hart mit der Stirn auf das Parkett gefallen und tat sich jetzt besonders schwer, die Orientierung wiederzufinden. Sein Torso zuckte, aus dem Mund quälten sich undeutliche Laute an die Oberfläche um von Allisons sorgevollen Augen entziffert zu werden. »Ja, er hat aufgehört. Alles ist nun ruhig und friedlich,« antwortete sie lächelnd.
Als ich zu einem Sprint nach unten ansetzte um meiner Frau beizustehen, entstand in mir der seltsame Eindruck über das Holz der Treppenstufen zu schweben. Aus nächster Nähe fiel mir erst die klaffende Wunde an Edwards Hinterkopf auf, die von Allisons zitternder Hand zur Hälfte verdeckt wurde. Oh Gott, was habe ich nur getan? »Es war ein Unfall, Allison. Ich habe die Kontrolle verloren.« Sie hob den Kopf in meine Richtung. Ihre aufgerissenen Augen suchten die Umgebung ab, als hätten ihre Ohren leise Hilfeschreie, kaum lauter als ein Flüstern, aus der Tiefe des Hauses wahrgenommen.
Sie lenkte ihren Blick wieder auf Edward, seufzte einmal tief und streifte ihm die verschwitzten Locken aus der Stirn. Ein ruckartiger Sprung brachte sie aus der Hocke in die Gerade. »Ich rufe einen Krankenwagen,« sagte ich schnell um sie zu beruhigen. Allison nickte leicht, aber es wirkte auf mich nicht so wie eine Reaktion auf mein Vorhaben. Sie schien in eigenen Gedanken versunken zu sein und über irgendetwas nachzudenken.
»Zerbrich dir nicht den Kopf, Liebling. Mich trifft die alleinige Schuld für das, was passiert ist. Du hast damit nichts zu tun. Sobald sich die Sache geklärt hat, können wir uns endlich miteinander unterhalten. Willst du das?« Allisons Antwort auf meine Frage rief mir wieder ins Gedächtnis wie schlecht es um ihren emotionalen Gesundheitszustand bestellt war. Sie ballte beide Hände zu Fäusten, drehte sich zur Wand um und stützte sich daran ab wie jemand, der unter größter Erschöpfung litt. Sie schlug zweimal kräftig gegen die Tapete.
»Das muss jetzt aufhören. Kein Mensch kann so etwas auf Dauer ertragen,« rief sie verzweifelt. Sie war wirklich mit den Nerven am Ende. Wenn sie sich nur dazu durchringen könnte mit mir über alles zu reden, würden wir schneller zu einer Lösung kommen, aber da dieser Traum wohl noch in weiter Ferne lag, hielt ich es für besser erstmal den Notarzt zu rufen, damit er sich um Edward kümmert, und falls nötig auch um Allison.
Ohne es zu wollen, löste der Griff meiner Hand zum Telefonhörer die nächste Katastrophe des Abends aus, die Allison aus der Haut fahren ließ. Die Telefonanlage landete mit einem unangehnemen Knallen auf dem Fußboden des Korridors, als hätte jemand eine unsichtbare Schnur daran festgemacht und heftig gezogen bevor ich sie berühren konnte. Edward stöhnte zweimal laut auf. Er scheiterte kläglich bei dem Versuch sich aufzurichten. Allison biss die Zähne zusammen. »Verschwinde endlich aus diesem Haus, Henry! Was willst du überhaupt noch von mir? Du hast mich so lange im Stich gelassen. Nicht einmal damals wollte ich wieder zu dir zurückkommen. Wieso glaubst du ich möchte es jetzt?« Sie brach in hysterisches Gekicher aus. »Wenn du unter den Fehlern, die du begangen hast, leidest, dann sage ich dir als gute Freundin, dass es mir sehr Leid für dich tut. Aber als Frau empfinde ich nichts mehr für dich. Ich liebe dich einfach nicht mehr, Henry. Bitte akzeptiere das und hör auf mir Angst zu machen. Wenn ich dir so viel bedeute, wieso lässt du mich dann nicht in Ruhe weiterleben? Geh endlich woanders hin, Henry. Verlasse mein Haus!«
Ich konnte nicht fassen, dass sie mich wirklich rauswerfen wollte, nach allem was wir hier in den letzten Jahren durchgemacht hatten. Es waren Momente des Glücks und der Trauer und in der goldenen Mitte befand sich das Gefühl, das uns in guten wie in schlechten Zeiten vereinte, unsere Liebe.
»Du willst doch gar nicht, dass ich dich verlasse, Allison. Ich möchte meine Frau in dieser schweren Krise auf keinen Fall alleine lassen. Du brauchst mich mehr denn je, Liebling. Wir beide wissen das.« Ich ging mit offenen Armen auf sie zu und umschloss ihren Körper so leidenschaftlich wie ich konnte. »Komm schon, Allison, erwidere die Geste. Umarme mich auch. Du hast mich doch mal geliebt, verdammt!« Sie stand nur steif da. Ihr ausdrucksloser Blick durchbohrte mein Gesicht als wäre es Luft. »Es ist plötzlich so kalt,« sagte Allison mit klappernden Zähnen. Ein Meer aus Gänsehaut breitete sich von ihren Oberarmen bis tief unter ihre Kleidung aus. Ihre Nackenhaare zwischen meinen Fingern stellten sich auf wie Sallys Fell, als ich sie erschreckt hatte. »Das ist zu viel für mich! Ich muss von hier weg!« sagte Allison.
Im Laufen wäre sie beinahe über die Stufe unserer Eingangstür gestolpert. Sie hatte mit dem Wunsch mich loszuwerden meine Gefühle verletzt und nun war sie es, die ging. Ich konnte nur beten, dass sie bald wieder zu mir zurückkommt. Solange würde ich in diesem Haus auf sie warten. Wo sollte ich auch ohne meine große Liebe hingehen? Die Vorstellung ohne sie ein neues Leben anfangen zu müssen, war schlimmer als mir eigenhändig das Herz rauszureißen.
Allisons Flucht über den regengepeitschten Asphalt wurde zu allem Überfluss von einem unerklärlichen Effekt begleitet. Alle Lichter der unteren und oberen Etage flackerten in regelmäßigen Abständen. Ein, aus, ein, aus, ein, aus, ein, aus. Sollten die Nachbarn in diesem Moment unser Haus sehen, mussten sie uns zwangsläufig für verrückt halten. Schrilles Reifenquietschen in unserer Einfahrt untermalte das penetrante Geblinke.
Keine Sorge, mein Schatz, ich werde ohne dich nirgendwo hingehen. Was du brauchst, sind ein paar erholsame Tage bei deiner Familie, um deine Gedanken neu zu ordnen. Ich werde in der Zwischenzeit alles für deine Rückkehr bereitmachen, damit wir unsere Streitigkeiten in romantischer Atmosphäre bereden können. Ich warf dem bewusstlosen Edward einen verächtlichen Blick zu und drehte mich dann wieder zum Fenster um. Durch einen Spalt in der Gardine sah ich zwei helle Rückleuchten auf der einsamen Straße in der Gischt des Regens aufblitzen. Sie entfernten sich mit zunehmender Geschwindigkeit aus meinem Blickfeld.
-ENDE-