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Wartehalle

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24.04.2003
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Wartehalle

"Willst du immer noch?"
Sie nickte.
"Wir könnten den ganzen Scheiß auch einfach vergessen."
Sie schüttelte den Kopf.
"Also dann!"

Und als die beiden Menschen in den Abgrund stürzten, lösten sich ihre Hände voneinander, und es war ein einsamer Tod.

Genugtuung ist das einzige Gefühl, das mir Befriedigung verschaffen kann.
Meine Musik ist bloß noch schmückendes Beiwerk, an dem ich keine Freude mehr habe; das einfach zum Inventar gehört.
Denn ohne die Instrumente gibt es keinen Geist, ohne Stimmen nichts Gesagtes, ohne Dramatik keine Emotion, und ohne den Chor versinkt die Welt in tiefes Schweigen.
Letztlich genieße ich es, das Schweigen. Denn eine Welt die nichts sagt, redet nur.

Sie wollen mir die Wohnung kündigen. Ich habe seit einem Jahr keine Miete mehr gezahlt.
Ich pflege mich auch nicht mehr. Seltsamerweise wird man vom eigenen Geruch nicht abgestoßen, lernt ihn gar zu mögen.
Der Kühlschrank ist leer, das Bett seit Monaten ungemacht. Es sieht schlimm aus hier drin.
Fast schäme ich mich. Die Kakerlaken haben Einzug gehalten. Verschimmelte Lebensmittel in der Küche, Exkremente in der Toilettenschüssel.
Als der Spülkasten kaputt gegangen ist, habe ich mich nicht getraut, jemanden zu rufen.
Peter ist letzten Monat noch hier gewesen und gleich wieder abgehauen.
Wie ich es hier nur aushalten könnte, und widerlich sei ich geworden.


Er begreift nicht, dass ich mich in der Phase des Endes befinde.
Ohne Motivation verkommt der Mensch zu dem, was er auch aus seiner Umgebung macht.
Nein, kein Dreck.
Der Mensch wird lustlos. Dann erst kommt der Dreck.

Ich lasse die Tür offen stehen. Jetzt können die Nachbarn sich endlich ein Bild von meiner Behausung machen, das nicht nur ihrer Phantasie entspringt. Obwohl ich denke, dass ihre kühnsten Vorstellungen übertroffen werden, wenn sie erst das Wohnzimmer sehen.

Ich bin nicht immer so gewesen
Der Wagen gleitet über die Autobahn.
Die Bilder kehren zurück.
Dein Lächeln und das Kopfschütteln, als ich nochmal nachgefragt habe.
Dann trennten sich unsere Hände voneinander, und auch wenn alle sagen, ich hätte es nicht wissen können: Ich wusste es!

Als das Seil mich zurück nach oben katapultierte, da jubelte ich nicht, und als ich die leere Öse oben am Turm sah, gleich neben meiner, da war mir klar, dass es gut war nicht gejubelt zu haben.

Ich brachte es damals nicht fertig, nach unten in den Fluss zu schauen. Ich wollte dich so in Erinnerung behalten, wie ich dich kennen gelernt habe. Dummerweise ist da bloß noch diese eine Szene übrig geblieben.

Dein Nicken. Dein Kopfschütteln.
Dann der Sprung. Die schwitzigen Finger werde ich nie vergessen. Plötzlich waren sie weg.

Ich halte den Wagen an. Auf den Turm werde ich nicht gelangen können. Er wurde nach dem Vorfall erst stillgelegt, später abgerissen.
Mit einer Autobahnbrücke kann ich dienen.

Und während der Verkehr hinter mir vorbeirauscht, beginne ich zu sprechen:

"Meine süße Maus, wo immer du auch bist."
Die Stimme versagt, erstickt in Tränen.
"Ich denke an dich."
Die Skyline Düsseldorfs ist im Augenwinkel gefangen, das nächtliche Schwarz des Rheins fokussiert. So mag der Fluss mich doch berühren, und kurz dringt die gedankliche Musik zu mir durch und entzündet ein Gewitterfeuerwerk.
"Ich komme jetzt zu dir!"
Der Fall wird keine drei Sekunden dauern.
Ich rufe alles ab: Dein Lächeln, das Kopfschütteln, deine warme Hand.
Diesesmal werde ich dich nicht loslassen, versprochen.

Ich klettere auf die Brüstung, und ... sollte ich wirklich?

Genugtuung ist keine Sache von drei Sekunden.

Ich schüttele den Kopf und gehe zurück zum Wagen.

Es wird endlich Zeit, aufzuräumen.

Dies ist eine unspektakuläre Geschichte, und sie verliert sich in den Gedanken eines kranken Mannes.
Wenn er sich selbst zu verstehen lernt, dann ist es gleich, was andere von ihm denken, denn das eigene Leben zu retten, bedeutet, ein Menschenleben zu retten, was bei großem Verlust einen Applaus wert sein sollte, auch dann, wenn dieser Mensch niemals mehr Musik hören wird.

Ich lasse mich von der Zukunft ohne dich überraschen.

 

Hi cerberus,

irgendwie geht es ums Loslassen. Erst um das nicht halten können der Freundin beim Tandemsprung (Bungee oder Fallschirm)
Dann um das Loslassen des Lebens im symbolischen Sinne. Dein Prot lässt sich gehen, der Schmerz presst alles aus ihm heraus und er findet keinen Anschluss mehr. Erst als er es endgültig beenden will, kann er die empfundene Schuld loslassen, kann das Überleben als Geschenk begreifen, das er nicht wegschmeißen darf und findet wieder Halt, den Halt, der er mit dem Karabinerhaken seiner Freundin verloren hat. So schließt sich irgendwie in deiner Geschichte auch der Kreis aus Leben und Sterben wieder.

Soweit meine Gedanken zu deinem Text. ;)

Lieben Gruß, sim

 

Hi Cerberus!

Mhm.

Jedenfalls: beeindruckend ist das Bild des Sprungs, beeindruckend, wie du mit wenigen Worten diese Szene beschreibst, die nassen Finger, das Lächeln, diese Details machen diesen Augenblick authentisch. Klasse.
Aber ich finde, du verschenkst die Geschichte, indem du dich eben nur auf dieses eine Bild verlässt und den Rest dann eher sehr unbeeindruckend, sehr "unspektakulär" (so das Wort in der Geschichte selbst) gestaltest.

Den kursiven Absatz gegen Ende habe ich nicht voll verstanden.

und sie verliert sich in den Gedanken eines kranken Mannes
Warum krank?

was bei großem Verlust einen Applaus wert sein sollte, auch dann, wenn dieser Mensch niemals mehr Musik hören wird.
??

In diesem Sinne
c

 

Hi Cerb,

Ich kann die Genugtuung nicht einordnen.
Das in Verbindung mit der Musik, die vielleicht nicht mehr gespielt/gehört wird...das ist mir zu kryptisch.

Und den kranken Mann, mit dem habe ich, wie chazar, auch meine Probleme.

Ich stelle auch mal zur Diskussion, ob Gesellschaft der richtige Ort für die Geschichte ist. Der Prot hat ein Problem mit dem Tod eines Menschen, verwahrlost...findet sich wieder. Gesellschaft, weil die Umwelt nicht reagiert?
Erklärs mir jemand, bitte.
Ich sehe die Geschichte eher in Alltag, wenn sie auch nicht alltäglich ist.

Nun genug Gemosere. Cerb, die Geschichte hat was. Ich musste sie zwar dreimal lesen, aber sie spricht mich an. Wenn du noch die Ungereimtheiten rausbekommst oder sie erklärst, wäre ich geneigt zu sagen, dass sie mir gefällt :).

Lieber Gruß
bernadette

 

Hallo zusammen.

Mit dem kranken Mann ist die seelische Störung des Prots gemeint, unter der er seit seinem Verlust leidet.
Die Genugtuung schließlich ist der Drang nach Selbstzerstörung, der seitdem Besitz von ihm ergriffen hat (vergammelte Wohnung, etc.). Nur, wenn er sich selbst bestraft für etwas, an dem er eigentlich keine Schuld trägt, empfindet er gewissermaßen Befriedigung.

Was die Rubrik angeht: So richtig sicher bin ich mir da auch nicht gewesen. Alltag fände ich aber eher weniger passend.

Viele Grüße

Cerberus

 

Hallo Cerberus,

hm. Hat mir eigentlich gut gefallen. Du hast es geschafft, in wenigen Sätzen mit schönen Formulierungen Atmosphäre zu erzeugen und die Situation zu beschreiben.

Zwei Gedanken:
Zum einen ist mir der Prot zu sehr bewusst darüber, was mit ihm passiert, warum er seine Wohnung verwahrlosen lässt etc. Er bezeichnet sich selbst als krank.
Zweitens kommt mir der Wechsel zwischen "Ich will sterben" und "Ich will leben" zu plötzlich, ich konnte seine Haltungsänderung nicht nachvollziehen. Hier hätte ich mir ein bißchen mehr Erklärung gewünscht.
Der Begriff "Genugtuung" hat mich ich in diesem Zusammenhang übrigens auch irritiert.

Liebe Grüße
Juschi

 

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