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Warten auf das Gestern
Eigentlich bin ich nicht sehr geheimnisvoll, doch wenn man etwas erlebt hat, dass so unvorstellbar ist, dass es niemanden gibt, der einem glaubt, kann es einem die Sprache verschlagen.
Mein Blick fällt in den altmodisch gerahmten Spiegel, der in meinem Wohnzimmer gegenüber von meinem moosgrünen Sessel hängt und ich muss lächeln wie jedes Mal, wenn ich mein graues Haar sehe. Ich denke, dass es wieder ein klein wenig grauer geworden ist. Und noch einmal muss ich lächeln, diesesmal darüber, dass ich mir dies jeden Tag auf's Neue glaube.
Andere Menschen denken, ich hätte nichts zu tun. Das liegt daran, dass die Aktivität, mit der ich mich am häufigsten beschäftige, wohl die passivste Aktivität ist, die es so gibt: Das Warten. Warten ist sehr anstrengend, weil man sich ständig damit außeinander setzten muss, dass man die Gegenwart, mit der man unzufrieden ist, nicht verändern kann. Deswegen habe ich mir feste Regeln gesetzt, so dass ich mir gar nicht erst die Freiheit nehme darüber nachzudenken, ob man nicht doch etwas ändern könnte. Die Regeln sind einfach: Ich habe in meinem Wohnzimmer zu warten, in dem grünen Sessel mit der hohen Lehne. Ich habe eine graue Bluse zu tragen und die langen, grauen Haare hinten hoch zustecken -sonst macht es keinen Sinn. Ich darf nur von diesem Platz aufstehen um die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen. Die Wohnung verlasse ich nie. So sitze ich seit vielen Jahren. Immer wieder fallen mir die Augen zu und vor mir sehe ich, wie sich die Tür zum Badezimmer öffnet. Mein Herz glaubt diesen Träumereien, denn ich spüre, wie es stockt und dann ganz schnell schlägt.
Ich bin mir bewusst, dass ich eine wunderliche alte Dame bin und ich weiß auch, dass ich eine wunderliche junge war, seit meinem sechzehnten Lebensjahr. Ich lehnte mich damals auf gegen alles, was meine Welt mir bot und gegen die Tatsache, dass sie so viel nicht bot -wahrscheinlich weil man das auch damals schon in diesem Alter zu tun pflegte. Im Großen und Ganzen war ich wohl sehr durchschnittlich -bis zum 24. April 1964. Meine Mutter dachte damals ich sei krank, denn ich aß wenig, sprach wenig und schlief wenig. Obwohl das Geld an allen Ecken und Enden fehlte schleppte mich meine Mutter von einem Facharzt zum nächsten und nur der Rat, es mit einem Psychologen zu versuchen, wurde konsequent ignoriert. Doch mein Zustand veränderte sich nicht zur Zufriedenheit meiner Mutter. Wenige Monate später sprach ich mein letztes Wort. Seitdem bin ich stumm.
Meine Mutter wurde depressiv, weinte viel und machte sich Vorwürfe. Mein Vater war zu dieser Zeit selten zu Hause, denn er hatte Arbeit und Ehrgeiz. Bald war mehr Geld da und meine Mutter eröffnete mir mit einer für sie ungewöhnlichen Freude, wir würden umziehen. Sie dachte, ein eigenes Zimmer würde mir gut tun und wenn schon nicht mir, dann doch wenigstens ihr selber. Von diesem Tag an verließ ich die Wohnung nicht mehr. Wollte mich jemand dazu bringen, hielt ich die Luft an, wurde erst rot, dann blau im Gesicht und meine Halsschlagader trat hervor. Die Ärzte kamen nun zu mir.
Ich war einundzwanzig, als ich Vollwaise wurde. Mein Vater starb an seinem zweiten Herzinfakt, meine Mutter lag drei Tage tot im Ehebett, bevor man sie und eine leere Tablettenschachtel entdeckte. Wieder wurden Versuche unternommen, mich weg zu bringen, doch ich blieb meiner Technik treu. Man dachte, dass ich es wohl alleine nicht schaffen würde und ich habe bis heute nicht verstanden, wo dabei das Problem sein sollte. Den Tod meiner Eltern empfand ich als Befreiung. Nun war niemand mehr da, dem ich etwas verbarg, der mich bedrängte, den ich bekümmerte. Mit Briefen, die ich in den Hausflur legte, bestellte ich alles lebensnotwendige. Die Zeit verging und langsam begann ich zu warten.
Ich bekam sehr früh schon meine ersten grauen Haare und noch an dem Tag an dem ich es bemerkte, wälzte ich die Sammlungen verschiedener Kataloge, die sich mit der Zeit angesammelt hatten. Ich bestellte einen Stapel grauer Blusen und einen moosgrünen Sessel mit hoher Lehne. In diesem Sessel sitze ich nun und blicke geradewegs zur Badezimmertür. Zu der Tür, durch die ich am 24. April 1946 gegangen bin.
Ich hatte gebadet und über etwas nachgedacht, das mir damals wichtig erschien und was mir heute nicht mehr einfallen will. Ich hatte mich abgetrocknet, mich frisiert und mir auf die Wangen geschlagen, damit sie rosig wurden. Dann hatte ich ins Wohnzimmer gehen wollen, doch meine Hand blieb kurz vor dem Türgriff stehen und ohne mein Zutun, ja vielleicht sogar gegen meinen Willen schob sie sich nach rechts, berührte die Tür neben den Angeln und schob. Die Tür schwang auf. Ich begreife das Wunder nicht, verstehe nicht, wie sie an der Seite aufgehen konnte, an der sie fest im Rahmen verankert war und ich weiß nicht, warum sie es gerade in diesem Augenblick tat und später nie wieder. Ich sah eine alte Frau, in unserem Wohnzimmer, das merkwürdig gealtert zu sein schien. Sie saß in einem moosgrünen Sessel mit hoher Lehne, den ich nie zuvor gesehen hatte, trug eine graue Bluse und hatte ihr langes graues Haar am Hinterkopf hochgesteckt.
Und ich sah, dass ich schon auf mich gewartet hatte.