Warten
Sie sitzt in der Wartezone und schaut nervös auf die Uhr. 15.27Uhr. Sie ist mal wieder zu früh. 35Minuten genau. Das passiert ihr in ihrem Leben immer wieder. Mit allem ist Daniela zu voreilig. Sonst säße sie jetzt vielleicht nicht hier. Aber sie ist das Warten gewohnt.
Ihr Spiegelbild malt sich schemenhaft im Glas der Wartezone ab. Sie versucht zu erkennen, ob ihr Make-Up nicht verschmiert ist. Doch dafür ist das Glas zu trüb. Deshalb fängt sie an in ihrer Handtasche nach der Puderdose zu wühlen.
„Hier, bitte schön!“ Eine faltige kleine Hand hält ihr ein Taschentuch vor die Augen. Als Daniela aufblickt, sieht sie in die blaugrauen Augen einer alten Dame. Sie hatte bereits bei ihrer Ankunft in der Wartezone gesessen. Aber Daniela hatte sie nicht weiter beachtet. Nur das Buch in der Hand dieser Frau war ihr aufgefallen. „Hectors Reiseoder Die Suche nach dem Glück“. Ob er sein Glück gefunden hatte?
„Äh, nein, danke, ich benötige keins,“ fast ist es ihr peinlich jetzt die Puderdose aus der Tasche zu holen. Was die Dame jetzt über sie denken mochte? ‚Nichts;’ hätte er ihr jetzt lachend gesagt. Und schon waren ihre Gedanken wieder bei ihm.
„Vielleicht später!“ sagt die Dame, noch immer lächelnd und hält es ihr weiterhin hin. Daniela nimmt es schließlich an und bedankt sich.
„ Sie warten auf jemanden?“ Na prima denkt Daniela, jetzt möchte die sich auch noch unterhalten. Wahrscheinlich hatte die Dame schon länger darauf gewartet, einen Grund für ein Gespräch zu finden. „Ja, aber ich bin etwas zu früh.“
„Sehen Sie, Schätzchen, dass bin ich auch immer. Deshalb packe ich mir immer ein Buch ein.“ Sie deutet mit einem Kopfnicken auf das Buch, dass nun aufgeklappt auf ihrem ersten Sitzplatz liegt, während sie sich neben Daniela niederlässt.
„ Sie haben kein Gepäck, deshalb wusste ich gleich, dass sie selbst nicht verreisen wollen.“ Daniela lächelt nur zurück. Wenn sie schweigen würde, beendete die alte Dame das Gespräch vielleicht eher.
„Wissen Sie, ich warte auf meinen Mann. Der kommt mit dem Zug um kurz vor vier. Er arbeitet in Hamburg. Aber Freitags kommt er immer um heim. Ich hole ihn dann immer ab. Nur einmal, da hab ich ihn verpasst. Das war ärgerlich!“
Daniela hört nur halb hin. Sie will nicht unhöflich sein, aber die halbe Stunde wollte sie eigentlich für sich haben. Um ihre Gedanken zu ordnen. Erneut geht ihr Blick auf die Uhr: 17.29Uhr. Die Zeit kriecht voran. Und sie wartet.
„ Und sie? Warten sie auch auf ihren Mann?“ fragt die Dame immer noch lächelnd, als sei dies ein angeregtes Gespräch.
„ Nein, ich bin nicht verheiratet!“ Noch nicht, fügt sie in Gedanken hinzu und merkt, wie ihr Herz ein stückweit tiefer sackt.
„ Ach schade, die jungen Leute von heute lassen sich damit so viel Zeit. Wissen Sie, mein Emil und ich sind jetzt 49Jahre verheiratet. Nächstes Jahr feiern wir Goldene Hochzeit. Und dann holen wir unsere Flitterwochen nach. Wissen Sie, damals ging das ja nicht, aber jetzt wollen wir uns die Reise nach Paris gönnen. Unser Traum!“
Danielas Blick schweift erneut zur Uhr. Die Stimme der Dame plätschert im Hintergrund, eine freundliche Frauenstimme sagt die Ankunft von einem ICE auf Gleis 12 und dem Interregio auf Gleis 8 durch. Eine Gruppe von jungen Leuten läuft laut lachend durch den Bahnhof. Ein weiterer Herr betritt die Wartezone, blickt auf die Uhr und setzt sich, um seine Zeitung zu lesen. Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht hier zu warten! Sie hätte noch eine Runde durch die Stadt gehen können. Dann wäre die Zeit schneller vorbeigegangen.
„Meine Tochter war ja schon dreimal da! Aber jetzt hat sie sich von ihrem Mann getrennt. Wirklich schade. Sie waren so ein schönes Paar!“ Daniela zuckt bei diese Worten zusammen. Ein schönes Paar!
„Warten Sie auf ihren Freund?“
„ Ja…nein, also auf einen guten Freund. Wir haben uns länger nicht gesehen!“
„ Ach das freut mich. Gute Freunde kann man nie genug haben. Wie lange haben sie sich nicht gesehen, wenn ich fragen darf!“ Der Blick der alten Dame ist so wach und aufmerksam. Erst jetzt fällt er ihr auf. Lange hat Daniela nicht mehr in so aufmerksame Augen gesehen.
„ 10 Monate!“ und 4 Tage, fügt sie in Gedanken hinzu.
„Ja, das ist lang. Er arbeitet wohl auch woanders?“
„ Nein, nicht direkt. Er hat 10Monate im Ausland studiert. Wir sind Studienkollegen!“
„ Wie schön! In Frankreich?“
„Nein,“ die alte Dame schien wirklich einen Faible für Frankreich zu haben. „In Amerika!“
Tausend Kilometer weit weg! Wieder spürt sie dieses Ziehen im Magen. 15.35Uhr! Noch ewig. Und doch so nah!
„ Oh, das ist weit weg! Da freuen sie sich bestimmt, dass sie ihn so bald wiedersehen!“ Die alte Dame steht auf und nimmt ihre Handtasche vom ersten Sitzplatz. Das Gespräch scheint beendet. Daniela legt den Kopf in den Nacken und schließt einen kleinen Moment die Augen. Seit 10 Tagen hatte sie keine Nacht mehr durchgeschlafen. Wegen ihm!
„ Möchten sie ein Pfefferminzbonbon?“ Wieder die alte Frau. Erneut sitzt sie neben ihr. Als ob sie nicht zulassen wolle, dass Daniela zu viele Gedanken an ihn verschwendet. So jemanden hätte es die letzten Monate geben müssen, denkt sie und nimmt das Pfefferminzbonbon an. Die scharfe Süße macht sich im Mund breit und erwacht ihre Lebensgeister.
„Warten ist etwas Schönes, oder?“ stellt die Dame plötzlich fest. „Ich glaub, es macht das Wiedersehen erst so schön. Wenn ich in meiner Ehe nicht so oft auf Emil hätte warten müssen, wer weiß, ob wir dann noch so glücklich wären. Meine Tochter musste nie auf ihren Gatten warten! Kindchen, ich sage ihnen, wenn sie mal heiraten, seien sie bereit zum Warten!“
„10 Monate lang!“ rutsch es Daniela raus. Sie hatte es nur denken wollen, aber die Worte hatten sich von selbst ergeben. Warten war alles gewesen, was sie in den letzten Monaten getan hatte. Gewartet! Und jetzt wartete sie wieder. Noch 17 Minuten lang. Weil sie es ihm schuldig war. Wegen ihres Versprechens! Unmerklich steigen ihre Tränen in die Augen! Sie will nicht länger warten, sie will es jetzt klar stellen. Die Zeit, sie war lang genug.
„Aber Kindchen, das ist doch kein Grund zum Weinen!“ Das Taschentuch erfüllt seinen Zweck. Wie ein schweres Band liegt ihr die Last der letzen Monate auf dem Herzen. Wenn sie sich nun nicht anvertraut, wird es sie zerreißen.
„ Wir haben versprochen aufeinander zu warten! 10 Monate lang. Wenn unsere Liebe das übersteht, dann wollten wir heiraten. Wie waren so verliebt!“ Daniela schnäuzt sich.
„ Aber das ist doch sehr schön! Und jetzt ist die Zeit doch vorbei!“
„Das ist es ja!“ Wie soll sie der fremden Dame sagen, was wirklich hinter all dem Warten steckt. Das bei ihrer Mutter, die ihr immer nur Vorwürfe gemacht hatte, ein Kind auf sie wartete. Ein kleiner Junge von drei Monaten. Sein Sohn!
„ Wir wollten dann in die Schweiz gehen. Um zu studieren. Uns eine gemeinsame Zukunft aufzubauen! Ich wollte mich nicht mit ihm treffen. Ich habe ihm gesagt, es sei vorbei. Er hat darauf bestanden.“
„ Sie lieben einen anderen?“ Mitleidig blickt die Dame sie an.
„Nein,“ seufzt Daniela,“ wenn es nur so wäre! Er hat so viele Pläne. So tolle Chancen. Das Stipendium damals. Er ist so ehrgeizig. Jonas und ich…“
„Ihr Freund?“ hakt sie nach.
„Mein Kind…sein Kind. Ich konnte es ihm nicht sagen. Er wäre nie nach Amerika gegangen, wenn er es gewusst hätte. Ich hatte es selbst gerade erst erfahren. Wir wussten nicht mal, ob unsere Liebe die lange Trennung übersteht.“
Jetzt ist es raus. Sie wünschte sich, es wäre so leicht ihm zu sagen. Die ganze Schwangerschaft hatte sie allein überstanden. Sie hatte ihr Studium erst mal beiseite geschoben. Für das Leben, dass in ihr gewachsen war. Das ihrer beider Leben durcheinander werfen würde.
„Und jetzt haben sie Angst, es ihm zu sagen?“
„Ja,“ Danielas Stimme zittert, „und dabei hab ich so lange darauf gewartet.“
Die Dame nimmt Danielas Hände in ihre. Zärtlich streicht sie darüber: „Kindchen, ich geb ihnen einen Rat: Die Zeit, die sie aufeinander gewartet haben, sie war doch nur ein Anfang. Wollen sie ein Leben lang aufeinander warten, weil sie vor ihm weglaufen?“
Die Stimme der freundlichen Stimme kündigt das Kommen des Zuges an. Erschrocken springt sie auf. Sie wird ihm alles sagen. Wenn er bisher auf sie gewartet hat, so wird ihre Liebe stark genug sein. Sie muss darauf vertrauen. Auch die Dame erhebt sich und nimmt ihre Sachen. Im nächsten Moment ist sie verschwunden. Erst jetzt fällt Danielas Blick auf das Buch, welches noch immer verwaist auf dem Platz liegt. Doch die Dame ist schon fort. Also bringt sie es schnell zur Information.
„Entschuldigen Sie, eine alte Dame hat dies liegen gelassen..“ Der Herr wirft nur einen kurzen Blick auf das Buch. „Frau Meiser, ja, die kommt nächsten Freitag wieder- Dann geb ich es ihr.“
„Da kommt ihr Mann, ich weiß,“ Daniela fallen die Worte vom Anfang ein. Der Schaffner blickt sie seltsam an: „ Ihr Mann? Hat sie das gesagt? Wissen Sie, sie wartet jeden Freitag. Seit 6 Jahren. Da hast sie ihn verpasst. Er ist mit dem Taxi nach Hause und dabei tödlich verunglückt. Seitdem wartet sie. Nette alte Dame, aber ein wenig verrückt.“
Und Daniela versteht, was Warten wirklich bedeuten kann.